Diese Schilderung basiert auf persönlichen Erinnerungen; Übereinstimmungen mit realen Personen und Vorgängen sind rein zufällig, aber keineswegs abwegig.
2023 trug ein unbescholtener Berliner Bürger ein Poster, das ihm teuer werden sollte. Auf einer Seite war zu lesen: »Lasst uns Nakba gedenken. Ladet eure Holocaustschuld nicht an Palästinensern ab!« Das war drapiert mit dem Peace-Zeichen und Blutstropfen. Auf der anderen Seite des Posters stand »Netanjahu: Occupation is Terror«. Zumindest einem anwesenden, gut gerüsteten Polizeimann fiel das Wort »is« ins scharfe Auge, es wurde gefilmt: Es war in Form eines »Blitzes« gezeichnet, was die Argusaugen der Ordnungshüter sofort als Nazi-Rune zu erkennen glaubten. Auf einer Demonstration gegen Gewalt und Unterdrückung, gegen heutigen Genozid an einem unschuldigen Volk war das eine tolle Fantasieleistung.
Der Friedensaktivist wurde umgehend von mehreren Beamten des Landeskriminalamtes aus der Kundgebung herausgezerrt, und das wurde ohne Gegenwehr und Protest toleriert. Frieden war das Thema und friedlich die Atmosphäre. Ohne jegliche Erklärung wurde der Demonstrant an die Wand eines grünen Kleinbusses gestellt, abgetastet.
Auf einen Fingerzeit eines der Beamten wurde ihm klar, dass es um das »s« ging. Dem »Täter« war selbstverständlich das Doppel-SS der Nazis bekannt, wie auch das Verbot, es öffentlich zu zeigen. Dass dies auch auf ein Einzel-S (bzw. ein Blitzsymbol) zuträfe, war ihm unbekannt. Da er als Antifaschist keinesfalls ein von der Polizei als Nazi-Symbol definiertes Zeichen zur Schau stellen wollte und mitnichten beabsichtigte, das menschenverachtende Symbol zu propagieren, erklärte er sich umgehend bereit, das inkriminierte »S« zu übermalen. Doch das war – selbstverständlich – nicht erlaubt, denn Verbrechen ist Verbrechen. So wurde er wie ein gefährlicher Krimineller festgehalten und bewacht, durfte fast eine Stunde in der prallen Mai-Sonne stehen, beide Arme fest am Körper haltend, jede andere Bewegung (z. B. Griff zur Wasserflasche) musste erlaubt werden. Sein Poster wurde eingezogen. Schließlich wurde er des Platzes verwiesen, also seines Demonstrationsrechtes beraubt.
Bereits während des Wartens bekam er mit, dass die Polizei einen Teil der meist jugendlichen, friedlich und entspannt Demonstrierenden ultimativ (und ohne erkennbaren Grund) aufforderte, sich vom Demonstrationsort zu entfernen. Sie wurden von den Beamten umzingelt. Offenbar klappte das nicht in preußischer Ordnung und Schnelligkeit, so dass die Stimmung kippte und die Polizei – meist schwere und mit voller Montur bewehrte Jungs – die jungen Leute wegzudrängen versuchte. Einzelne Jugendliche wurden dabei recht hart abgeführt und deutlich unsanfter »behandelt« als der alte weiße Mann mit seinem Plakat. Und dann wurden die jungen Menschen von Polizisten vom Kundgebungsplatz weggezerrt. Wie in einer Woge wurden sie auf dem Grasboden geschleift und unsanft ihres Demonstrations- und Meinungsfreiheitsrechts beraubt. Sie demonstrierten gegen die Gewalt, die gegen ihre Familien und Freunde in den besetzten palästinensischen Gebieten seit Dekaden exekutiert wird, und wollten für ein Ende dessen ein Zeichen setzen. Nun erfuhren sie ihrerseits Gewalt! Mit unverhältnismäßiger Härte gingen einige Beamte vor – also Männer mit stattlicher Körpergröße, in voller Polizeimontur, gegen kleinere Jugendliche und junge Frauen. Ein beschämender Anblick. Damit der Festgenommene das nicht mitansehen konnte, wurde er nachdrücklich ermahnt, den Platz zu verlassen. Für ihn und alle anderen war diese Kundgebung damit beendet.
In den Abendnachrichten der rbb24 Abendschau gab es einen kurzen Bericht über die Kundgebung, der seine Schilderung weitgehend bestätigt: Das ungerechtfertigte, unverhältnismäßige, martialische Auftreten und Treten der Polizeikräfte wird in den Filmausschnitten deutlich.
Zum Hintergrund: Vor dieser Demonstration waren bereits vier beantragte Kundgebungen von der Polizei verboten worden. Sie waren von palästinensischen Gruppen bzw. Vereinen angemeldet worden. Die in Israel geschaffene Ohnmacht wiederholte sich in der deutschen Hauptstadt. Die erwähnte (fünfte) Kundgebung war nun allerdings von der Organisation »Jüdische Stimme e. V.« angemeldet und offenbar widerstrebend genehmigt worden – wenngleich unter unzähligen Auflagen, die mehrere Minuten lang in Deutsch und Arabisch zu Beginn der Kundgebung verlesen wurden.
Die politische, vorgeblich »christliche« Führung des Landes Berlin möchte offenbar mehr Ruhe und Ordnung in der Stadt – statt zivile, demokratische Verhältnisse. Und man möchte wohl auch der propagierten »Staatsräson« gegenüber dem Apartheidstaat Israel Genüge tun. Dass in Israel seit etlichen Jahren eine extrem rechtskonservative Regierung und ein unter Anklage stehender Staatspräsident herrschen, ist da selbstverständlich kein Problem. Zudem konnten so die »Sicherheitskräfte« selbstkonstruiert beweisen, dass die vorhergehenden 4 Kundgebungsverbote gewissermaßen gerechtfertigt waren, weil ja nun diese fünfte, gnädigerweise erlaubte, abgebrochen werden musste.
Der wegen der »Rune« angeklagte Kundgebungsteilnehmer hatte von seiner Mitwirkung bei der Solidaritätskundgebung und dem von ihm gemalten Demoschild eine völlig andere Auffassung und Intention und legte Einspruch gegen das Strafverfahren ein. Als Strafe winkten ihm 30 Tage Haft oder eine entsprechende Anzahl von Tagessätzen. Hier ist also die Kanone, und da ist auch der Spatz bzw. die Friedenstaube!
Das Delikt: »Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen«. Im Vorfeld der Hauptverhandlung in Berlin Moabit, zu der der Staatsgefährder sechs Stunden anzureisen hatte, wurde deutlich, dass eine Verurteilung bereits abgemachte Sache sei. So wurde ihm zweimal angeboten, seinen Einspruch gegen die Anklage fallen zu lassen. Und während der Verhandlung ließ der Richter durchblicken, dass die Strafe durchaus noch erhöht werden könne. Der Richter trat in der Rolle eines Anklägers auf. Seine Deutung, das eckige »S« sei eine Sigrune und auch als solche gedacht gewesen, war selbstverständlich nicht nachzuweisen, doch die vom Schildmaler (ehemaliger Werkzeugmacher und mit Warnung vor Elektrizität vertraut) selbst vorgebrachte Auffassung, es sei als Blitz ein Warnzeichen für Gefahr und würde zur Vorsicht (im Sinne von »Achtung!«) gemahnen, blitzte bei ihm ab. Auch das Argument des Angeklagten, er habe nichts von dem Verbot einer einzelnen Sigrune gewusst, und er sei außerdem Antifaschist und führe keinesfalls im Sinne, Nazipropaganda zu verbreiten, stieß auf kein Gehör, passte nicht ins vorfantasierte Narrativ.
Aufgrund der nur kurzen, aber eindrucksvollen Erfahrungen mit den Mühlen der heutigen Justiz verlor der Angeklagte die Lust auf eine Fortsetzung und verzichtete auf den weiteren Klageweg. Er möchte seine wertvolle Zeit seinen politischen Aktivitäten widmen, statt mit allwissenden Juristen (Schein)Verhandlungen durchzuspielen. Zudem wurde seine Frage, ob es ein Handbuch oder eine Datenbank gebe, in der fein säuberlich nachzuschauen wäre, welche Zeichen denn aktuell verboten seien, nett beantwortet. Sein Abschiedssatz, er sei entsetzt über den Verlauf dieses Gerichtstermins und das völlig unverhältnismäßige Urteil, führte erfreulicherweise nicht zu einer Ermahnung – der Sieg war ja eingefahren. Die Anklage wurde fallengelassen, und eine gemeinnützige Organisation wird eine ganze Monatsrente erhalten.
Dieser banale Fall ist ein weiteres kleines Indiz für die Rechtsentwicklung in Teilen der Politik, Polizei und Justiz. Hier wird schwarz-weiß »gedacht«, werden Andersdenkende als Gefahr gebrandmarkt, offene faire Diskurse und Diskussionen finden nicht statt bzw. sind unerwünscht. Der »zeitengewendete« Staat muss Stärke und Härte zeigen, nicht nur in der Außenpolitik wird aufgerüstet und gekämpft, sondern auch in der Innenpolitik, Kriegstauglichkeit ist das Ziel. Die Schönwetter-Demokratie zeigt Risse, viele davon führen von oben nach unten.
Übrigens fand die unterdrückte Kundgebung am 20. Mai (2023) statt, drei Tage vor dem »Tag des Grundgesetzes«. Naja, und gegen Ende der Verhandlung gab der Richter eine alte, und auf den hier geschilderten Fall recht zutreffende Weisheit von sich: »Recht haben ist nicht gleich recht bekommen!« Das stimmt wohl.