Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Mit J. Fischer in den Kalten Krieg

Irgend­wie lebe ich von der Hoff­nung, die Mensch­heit wür­de klug wer­den. Ich muss die­se Emp­fin­dung aus der 1968er-Zeit mit­ge­bracht haben. Wir waren jung und ange­tre­ten zur Umkehr. Die fürch­ter­li­chen Irr­we­ge unse­rer Eltern woll­ten wir nicht noch ein­mal gehen. Noch lagen die Innen­städ­te zum Teil in Trüm­mern. Doch da ent­stand ein neu­es, noch viel lau­te­res Säbel­ras­seln, ein ato­ma­res. Die Mäch­te ver­si­cher­ten öffent­lich, sich gegen­sei­tig ver­nich­ten zu wol­len. Mutual­ly assu­red des­truc­tion nann­te sich das, abge­kürzt und sin­nig: MAD. Wir jun­gen Leu­te wuss­ten also: Man hat­te es auch auf uns abge­se­hen. Wäh­rend vie­le unse­rer Väter »gefal­len« waren, blüh­te nun auch uns ein ähn­li­ches Schick­sal. Für mich war die­se frü­he Erfah­rung gleich­be­deu­tend mit dem Wis­sen, dass die Erwach­se­nen schlicht unzu­rech­nungs­fä­hig waren. Ich wand­te mich ab und wuss­te, wir müs­sen neu anfangen.

Ich las Bert­rand Rus­sell und Albert Ein­stein. Ein­stein: »Die erste Atom­bom­be hat nicht nur die Stadt Hiro­shi­ma zer­stört. Sie hat auch unse­re tra­di­tio­nel­len, längst über­hol­ten poli­ti­schen Ideen end­gül­tig ver­nich­tet.« Es gehe um ein ein­deu­ti­ges Ent­we­der-Oder. Ent­we­der die Äch­tung der Atom­waf­fe oder das Ende der Zivi­li­sa­ti­on. Die­ses Ent­we­der-Oder nann­te ich die Ein­stein-Alter­na­ti­ve. Ent­we­der die Waf­fe oder wir.  Ein­stein hat­te die­se Bot­schaft gegen Ende sei­nes Lebens immer wie­der vor­ge­bracht, in unzäh­li­gen Vor­trä­gen, Auf­ru­fen, Inter­views. Irgend­wann wür­de man das ver­ste­hen – so dach­te ich.

Heu­te, ich bin alt gewor­den, es ist Anfang Dezem­ber. Josch­ka Fischer gibt Zeit online ein Inter­view. Und ich traue mei­nen Augen nicht, ich lese exakt den Wahn­sinn von damals. Wie­der müs­se man sich gegen­sei­tig mit Ver­nich­tung dro­hen, nun erneut sei ato­ma­re Abschreckung unaus­weich­lich, wie­der gibt es einen schreck­li­chen Feind, und wie­der sol­len wir auf Rüstung set­zen, und natür­lich sei das »nicht mit Schul­den­brem­se und aus­ge­gli­che­nen Haus­hal­ten« zu errei­chen. Rüstung kostet rich­tig Geld. Kano­nen statt Butter.

War die­ser Mann wirk­lich ein­mal jung? Demon­strier­te er wirk­lich 1984 gegen ato­ma­re Nach­rü­stung? War er in der glei­chen Par­tei, die den Kre­fel­der Appell mit­in­iti­ier­te, einen lau­ten Auf­ruf gegen Atom­waf­fen? War nicht die Pazi­fi­stin Petra Kel­ly eine Leit­fi­gur in die­ser Par­tei, die nun wirk­lich ganz neue Wege beschrei­ten woll­te? Wie begei­stert war ich damals! Aber ich war nicht der Mei­nung, man soll­te, wie Fischer, auf Poli­zi­sten einschlagen.

Nun aber eine Stim­me wie aus tie­fer Gruft. Ich mei­ne Ronald Rea­gan zu hören oder Geor­ge W. Busch, jeden­falls einen der käl­te­sten aller kal­ten Krie­ger. Pro­ble­me löst man mit Waf­fen, Abschreckung ist das Rezept! War der grü­ne Neu­be­ginn damals eine Hal­lu­zi­na­ti­on? Ist es denn das Schick­sal aller neu­en Ideen, mit dem Alt­wer­den zu ver­kal­ken und zu ver­blö­den? Muss zwangs­läu­fig – irgend­wann jen­seits der 40 – exakt das­je­ni­ge wie­der­holt wer­den, was man in jun­gen Jah­ren bekämpf­te? Gewiss, Fischer ist kein Gan­dhi, Man­de­la oder Wil­ly Brandt. Wie mit der Lupe suchen wir ja nach Poli­ti­kern, die tat­säch­lich einen eig­nen Kurs durch­hal­ten. Die über einen inne­ren Kom­pass ver­fü­gen, »echt« sind, wie wir sagen.

»Mit Ver­laub, Herr Prä­si­dent, Sie sind ein Arsch­loch!« Bun­des­tags­vi­ze­prä­si­dent Richard Stück­len hat­te Fischer von einer Bun­des­tags­sit­zung aus­ge­schlos­sen. Fischer, der Nar­zisst, geriet in Wut. Ganz ohne Wut, aber tief ent­täuscht, fra­ge ich: Mit Ver­laub, Herr Fischer, was sind Sie denn? Ken­nen Sie Bert­rand Rus­sell? Damals auch ein alter Mann, aber von der ganz ande­ren Sor­te. Der welt­be­rühm­te Mathe­ma­ti­ker, Phi­lo­soph und Nobel­preis­trä­ger ließ sich, 88-jäh­rig, ins Gefäng­nis sper­ren, weil sich die bri­ti­sche Regie­rung Atom­waf­fen anschaff­te und Rus­sell zu Gegen­de­mon­stra­tio­nen auf­rief. Rus­sell: »Was die nuklea­re Kon­fron­ta­ti­on angeht, kann man unter Umstän­den anneh­men, dass zwei Seil­tän­zer zehn Minu­ten balan­cie­ren kön­nen, ohne abzu­stür­zen. Aber nicht zwei­hun­dert Jahre.«

Immer­hin gibt es bei Fischer heu­te eine Dif­fe­renz gegen­über sei­nen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen in der Regie­rung. Die neue nuklea­re Abschreckung soll nicht nur als ato­ma­re Teil­ha­be an der US-Stra­te­gie ver­stärkt wer­den. Fischer for­dert eine euro­päi­sche Atom­streit­macht. Die­je­ni­ge Frank­reichs und Groß­bri­tan­ni­ens rei­che nicht. Das sagt er ein­fach so. Wie oft ist eigent­lich gezeigt wor­den, dass man Euro­pa nicht mit Nukle­ar­waf­fen ver­tei­di­gen kann! Nuklea­re »Ver­tei­di­gung« ist in Euro­pa eine Selbst­mord­op­ti­on. Wo sind denn die Schlacht­fel­der, auf denen ato­ma­re Krie­ge aus­ge­foch­ten wer­den kön­nen? Im Ruhr­ge­biet? Zwi­schen Wien und Linz? In Euro­pa gibt es kein Sibi­ri­en oder eine Saha­ra, wo man mal lustig bal­lern kann. Hat Fischer alles ver­ges­sen, was wäh­rend des Kamp­fes gegen die Nach­rü­stung All­ge­mein­gut war? Fall­out, Strah­lung und schließ­lich die welt­weit desa­strö­sen Kli­ma­fol­gen auch eines »klei­nen« Krie­ges die­ser töd­li­chen Art.

Euro­pa unter Atom­waf­fen – Euro­pa, eine atom­waf­fen­freie Zone. Als Fischer sehr jung war, stand die­se Alter­na­ti­ve zur Debat­te. In der UNO wur­de der Rapacki-Plan dis­ku­tiert. Hät­te man ihn umge­setzt, wären Nukle­ar­waf­fen aus Euro­pa zurück­ge­zo­gen wor­den. Durch­ge­setzt hat sich in Deutsch­land einer, des­sen Wie­der­gän­ger Fischer ist: Kon­rad Ade­nau­er mit sei­ner »Poli­tik der Stär­ke«, einem kla­ren Feind­bild und der Mei­nung, Atom­waf­fen sei­en bloß eine Fort­ent­wick­lung der Artil­le­rie. Was bei Fischer kei­ne Rol­le spielt, damals wur­de es bekannt: Das Nato-Manö­ver Car­te Blan­che kam 1955 zu dem Ergeb­nis, dass man bei mode­ra­ter Berech­nung allein auf dem Gebiet der Bun­des­re­pu­blik mit 1,7 Mil­lio­nen Toten und 3,7 Mil­lio­nen Ver­letz­ten rech­nen müs­se. Die Ost-West-Kon­fron­ta­ti­on hät­te sich vor allem zwi­schen Kiel und Mün­chen aus­ge­tobt, kei­ne Maus hät­te auf die­sem Schlacht­feld mehr einen unver­seuch­ten Schlupf­win­kel gefun­den. Die­se Zah­len waren geschönt. Ins­be­son­de­re die Lang­zeit­ef­fek­te, etwa durch Fall­out und radio­ak­ti­ve Strah­lung, waren unter­schla­gen wor­den. Und natür­lich die welt­wei­te Kata­stro­phe, zu der heu­te eine Viel­zahl von Stu­di­en vorliegt.

Immer­hin gab es damals eine Öffent­lich­keit, die die Gefahr erkann­te. Umfra­gen erga­ben, dass sich eine gro­ße Mehr­heit nicht mehr sicher fühl­te und sich vor Atom­waf­fen fürch­te­te. 1957 ent­stand die Pro­test­be­we­gung »Kampf dem Atom­tod«, die spä­ter in die Oster­marsch-Bewe­gung über­ging. »Denn uns allen ist die Fra­ge gestellt«, so brach­te es 1958 der Erste Bür­ger­mei­ster der Stadt Ham­burg, Max Brau­er (SPD), vor 150 000 Zuhö­rern auf den Punkt »ob wir den Unter­gang aller Kul­tur und den Selbst­mord oder ob wir die Ret­tung des Frie­dens, die Ret­tung unse­rer Frau­en, die Ret­tung unse­rer Kin­der wol­len.« Ganz anders als heu­te war die SPD damals eine ech­te Oppo­si­ti­ons­par­tei, Brau­er war Schirm­herr des Ham­bur­ger Lan­des­aus­schus­ses »Kampf dem Atom­tod«, und ein­schlä­gi­ge Groß­kund­ge­bun­gen zu die­sem The­ma unter Betei­li­gung der Sozi­al­de­mo­kra­ten waren kei­ne Sel­ten­heit. Wie sich die Zei­ten ändern!

Um die glei­che Zeit ver­brach­te ich oft die Schul­fe­ri­en bei mei­nem Opa und einer Tan­te in Bad Godes­berg, das heu­te zu Bonn gehört. Spa­zier­gän­ge im Kot­ten­forst, Auf­stieg auf den Dra­chen­fels, Fahr­ten auf dem Rhein, eine glück­li­che Zeit. Was eigent­lich soll man füh­len oder den­ken, hört man das Fol­gen­de: 2022 berich­te­te der West­deut­sche Rund­funk über ein Doku­ment der dama­li­gen sowje­ti­schen ato­ma­ren Ziel­pla­nung. Für 1955 zeigt es einen klei­nen Aus­schnitt des­sen, was man für den Ernst­fall ins Auge fass­te. Es listet die Zie­le für einer Bom­ber­staf­fel auf, die in der Weiß­rus­si­schen Sozia­li­sti­schen Sowjet­re­pu­blik (einem Teil der Sowjet­uni­on) sta­tio­niert war. An der Spit­ze der dort auf­ge­führ­ten 13 Zie­le stand die dama­li­ge Haupt­stadt Bonn.

Ver­dan­ke ich, dass ich noch lebe, der Abschreckung? Oder eher einem Zufall? War­um kam es auch 1962 wäh­rend der Kuba-Kri­se zu kei­ner Aus­lö­schung Bonns? Vie­le, mit denen ich rede, mei­nen sicher zu wis­sen: wegen der Abschreckung. Ato­ma­re Abschreckung habe sieb­zig Jah­re lang ihren Test bestan­den. Sie ist ein wis­sen­schaft­lich gesi­cher­tes Kon­zept. So heißt es. Das Dra­ma des nun for­cier­ten zwei­ten Kal­ten Kriegs besteht nach mei­ner Über­zeu­gung dar­in, dass er mit einer Illu­si­on beginnt. Denn nichts ist hier wis­sen­schaft­lich bewie­sen! Die Grün­de, wes­halb es so lan­ge zu kei­nem Ver­sa­gen der Abschreckung kam, sind viel­fäl­tig. Haupt­säch­lich geht es um Zufall.

So hört es sich an, wenn sich jemand wirk­lich aus­kennt. Peter Rudolf, der Atom­waf­fen­ex­per­te der Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik in Ber­lin, sagt es so: »Bei der nuklea­ren Abschreckung han­delt es sich um ein Kon­strukt, ein System von nicht veri­fi­zier­ba­ren Annah­men, das gera­de­zu ideo­lo­gi­schen Cha­rak­ter hat. Abschreckungs­po­li­tik beruht auf Axio­men, für die es kei­ne empi­ri­sche Evi­denz im wis­sen­schaft­li­chen Sin­ne gibt, son­dern allen­falls anek­do­ti­sche Evi­denz, deren Inter­pre­ta­ti­on also glau­bens­ge­lei­tet ist. Der Glau­be an die nuklea­re Abschreckung ist eben­dies – ein Glaube.«

Fischers Rol­le also heu­te: Er bestärkt uns in einem Glau­ben, der zugleich unser Unter­gang sein könn­te. Von der Ein­stein-Alter­na­ti­ve weiß er offen­bar nichts. Eine selt­sa­me Wand­lung eines alten Revoluzzers.