Es war weder eine freundliche Aufforderung noch ein Vorschlag zur Güte, sondern ein Befehl, was da die westdeutschen Ministerpräsidenten von dem amerikanischen, dem britischen und dem französischen Gouverneur am 1. Juli 1948 in Frankfurt a. Main entgegennahmen. Diese »Frankfurter Dokumente« enthielten nichts Geringeres als den Auftrag, »in nur zwei Monaten eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen«, deren Mitglieder »eine demokratische Verfassung ausarbeiten« sollten, »die eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft«.
Es war der Auftrag zur Erfindung der Bundesrepublik, wie Sabine Böhne-Di Leo ihr erzählendes Sachbuch zur Entstehung des Grundgesetzes betitelt hat, das Anfang März im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Schon weniger als ein Jahr nach der Frankfurter Befehlsausgabe war der Auftrag ausgeführt.
Am Montag, dem 23. Mai 1949, vor knapp 75 Jahren also, schlug die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Unter Orgelklängen traten damals die 61 Männer und vier Frauen des Parlamentarischen Rates im Sitzungssaal der Pädagogischen Akademie in Bonn in alphabetischer Reihenfolge nach vorne, »um am Tisch mit der Deutschlandfahne das Grundgesetz zu unterschreiben« und damit seine Verkündung zu besiegeln. Alle leisteten die Unterschrift, bis auf die beiden KPD-Abgeordneten Max Reimann und Heinz Renner. »Ich unterzeichne nicht die Spaltung Deutschlands«, soll Renner der Versammlung zugerufen haben.
In den zurückliegenden zehn Monaten hatte der »deutsche Schicksalsauftrag« (Böhne-Di Leo) mehrmals kurz vor dem Scheitern gestanden. Zu groß schienen die Gegensätze zwischen den Akteuren aus unterschiedlichen politischen Parteien, zu unübersichtlich die Lage in den Besatzungszonen, zu unterschiedlich die Vorstellungen der Siegermächte von einem neuen deutschen Staat, zu gegensätzlich ihre Interessen, und alles wurde überschattet und gefährdet durch den aufziehenden Kalten Krieg. Die Eintracht der Antihitlerkoalition war zerbrochen. Am 4. April 1949 gründeten die USA, Kanada und zehn westeuropäische Länder in Washington die Nato und verpflichteten sich zum gegenseitigen Beistand im Falle eines Angriffs. Das Gespenst eines Dritten Weltkriegs drohte sich zu materialisieren.
Das Churchill zugeschriebene Zitat: »Wir haben das falsche Schwein geschlachtet« ist wohl ähnlich apokryph, wie das Lenin zugeschriebene Wort von der Kontrolle, die besser als Vertrauen sein soll. Aber es traf »den Nagel auf den Kopf« in der sich nach 1945 rasch entwickelnden Gemengelage: hier die Sowjetunion, die den größten Blutzoll im Kampf gegen Nazi-Deutschland gezahlt hatte und in deren Einflussbereich jetzt weite Teile Mittel- und Osteuropas lagen, dort die drei westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich, die über eine Containment- und später über ihre Rollback-Politik Front machten gegen die territoriale und ideologische Ausbreitung der Sowjetunion und des Kommunismus. Die dabei aber gleichzeitig bestrebt waren, die eigene Einflusssphäre zu erweitern. Und mittendrin das viergeteilte Deutschland mit dem viergeteilten, für beide Lager geostrategisch wichtigen Berlin. Die ehemalige Hauptstadt, jetzt eine Insel mitten in der Sowjetischen Besatzungszone, war gerade von Stalin abgeriegelt worden, als Reaktion auf die Einführung der D-Mark im Westteil der Stadt. Die Amerikaner hatten eine spektakuläre Luftbrücke zur Versorgung der Bevölkerung gestartet, andere Staaten schlossen sich an.
Auch dem mit der Materie nicht vertrauten Laien führt Sabine Böhne-Di Leo schlüssig vor Augen, wie die Parlamentarier um die Regeln für die künftige Republik und die richtigen Lehren aus dem Nationalsozialismus gerungen haben. Wieviel Macht sollen die Länder im neuen föderalen Staat haben? Was ist mit einem Recht auf Asyl, das die Erfahrungen aus der NS-Zeit beherzigt? Wie steht es um das Recht der Meinungsfreiheit? Ist es nicht höchste Zeit, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frau grundgesetzlich zu garantieren? Wird es nicht bei der Gründung eines separaten Weststaates, wie es die Amerikaner, Briten und Franzosen verlangen, zur Teilung Deutschlands und der alten Hauptstadt kommen? Soll überhaupt etwas Endgültiges geschaffen werden, bevor Berlin mit den übrigen Zonen wieder zu einer Einheit gekommen ist? Wo soll zukünftig die deutsche Hauptstadt sein?
Bei aller Unübersichtlichkeit, schreibt die Autorin, stand eines »für die westdeutschen Politiker der ersten Stunde fest: Sie (…) wollen das Land zurückführen in die Gemeinschaft der europäischen Völker. Sie werden die Deutschen zu Demokratie und Frieden erziehen.« Zu diesen Politikerinnen und Politikern der ersten Stunde, die an der Erfindung der Bundesrepublik mitarbeiteten, gehörten: Carlo Schmid (SPD), stellvertretender Staatspräsident und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern; Max Brauer (SPD), Erster Hamburger Bürgermeister; er hatte den Begriff »Grundgesetz« – statt: Verfassung – in die Diskussion eingebracht; Konrad Adenauer (CDU), der ehemalige Kölner Oberbürgermeister und von 1920 bis 1933 Präsident des preußischen Staatsrates, »ein Altmeister parlamentarischer Taktik«, nach eigener Interpretation als gewählter Vorsitzender des Parlamentarischen Rats »bis auf weiteres alleiniger Vertreter des deutschen Volkes gegenüber den Alliierten«; Elisabeth Selbert (SPD), die schon die hessische Landesverfassung mitgeschrieben hatte; zusammen mit Friederike Nadig (SPD) aus Nordrhein-Westfalen focht sie in den nächsten Monaten für die Gleichberechtigung der Geschlechter; aus Nordrhein-Westfalen kam von der CDU Helene Weber und von der Zentrumspartei Helene Wessel, beide »kämpferische Vollblutpolitikerinnen mit langer Verbandserfahrung«; die Kommunisten Max Reimann und Hugo Paul, der nach kurzer Zeit dem ehemaligen Essener Oberbürgermeister und nordrhein-westfälischen Verkehrsminister Heinz Renner Platz machen musste; von der FDP kamen Thomas Dehler und Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident. Jedes dritte Mitglied des Rats war über 60. Die Sitzverteilung entsprach den Machtverhältnissen in den westdeutschen Landtagen: SPD und CDU/CSU hatten jeweils 27 Stimmen, die FDP fünf, die KPD, die Deutsche Partei und das katholische Zentrum jeweils zwei.
Sabine Böhne-Di Leo ist nicht nur Professorin für Politik an der Hochschule Ansbach, sondern auch für Journalismus. Dies gereicht dem Buch zum Vorteil. Ihre Darstellung kommt unprätentiös und ohne professoralen Duktus daher, was sich sehr förderlich auf die Lesbarkeit auswirkt. Das Buch orientiert sich an dem in der Bundesrepublik vorherrschenden politisch-historischen Mainstream. Aber auch wer die damaligen historischen Vorgänge und Entscheidungen anders beurteilt, kann aus der vorliegenden Darstellung der Abläufe und Diskussionen einen Gewinn ziehen.
Zurück nach Bonn, in den Mai 1949. Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates erheben sich von ihren Plätzen, während der Präsident das Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet. Und dann singen sie, nach getaner Arbeit sicherlich feierlich und aus voller Kehle, in Ermangelung einer deutschen Nationalhymne das 1820 von Hans Ferdinand Maßmann gedichtete Lied Gelübde, auf das sie sich auf Vorschlag des SPD-Abgeordneten Carlo Schmid verständigt hatten:
Ich habe mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land voll Lieb und Leben
Mein deutsches Vaterland.
Dieser Text wurde in den folgenden Jahren bei offiziellen Anlässen gesungen, bis sich Bundespräsident Theodor Heuß 1952 auf die dritte Strophe des von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 auf der Insel Helgoland verfassten Gedichtes Lied der Deutschen als Nationalhymne festlegte, in der es eingangs heißt:
Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand!
Ob dabei jemand aufgefallen ist, dass in beiden Liedern eine Zeile fast identisch ist? Jedenfalls haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rats ihren Auftrag mit »Herz und Hand« erfüllt, mit Leidenschaft und pragmatischer Vernunft. Dies haben sicherlich auch ihre Konterparts in der Sowjetischen Besatzungszone für sich in Anspruch genommen, die vor der gleichen Aufgabe standen. Die Verfassung der DDR trat viereinhalb Monate später, am 7. Oktober 1949, in Kraft. Die Teilung Deutschlands war damit verbrieft und besiegelt.
So war eingetreten, wovor Louise Schroeder (SPD) als amtierende Oberbürgermeisterin von Berlin im Juli 1948 die Ministerpräsidenten gewarnt hatte, in Dissens zu ihrem Parteikollegen Ernst Reuter, der am 7. Dezember 1948 zum Oberbürgermeister gewählt wurde und der unbedingt die Anbindung West-Berlins an die Bundesrepublik erreichen wollte. Heute wissen wir: Schroeders »Vision eines vereinten Deutschlands wird erst viel später Wirklichkeit werden«.
Sabine Böhne-Di Leo: Die Erfindung der Bundesrepublik – Wie unser Grundgesetz entstand, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 220 S., 23 €.