Die italienische Corona-Erfahrung der ersten Jahreshälfte hat eine schwerwiegende Hypothek hinterlassen: über 35.000 Tote, darunter 176 Ärzte und ungezähltes Pflegepersonal, einen geschätzten Wirtschaftseinbruch für 2020 von über zehn Prozent des Bruttosozialprodukts (weit höher als in der BRD) mit schon einer halben Million verlorener Arbeitsplätze und einer viel dünneren finanziellen Unterstützung der Betroffenen – neben weiteren noch nicht absehbaren Folgen des dreimonatigen Lockdowns mit strenger Ausgangssperre im ganzen Land. Erste Untersuchungen der Universität Turin stellten bei über zwei Dritteln der Bevölkerung vermehrte Angstzustände und Depressionen fest, außerdem weit mehr Suizide.
Dramatisch war im Februar und März zutage getreten, dass ein seit Jahren unterfinanziertes und geschwächtes staatliches Gesundheitswesen, dessen Privatisierungsmaßnahmen seit langem zu Lasten der allgemeinen Breitenversorgung der Bevölkerung gingen, sich vor allem in der besonders belasteten Lombardei gegenüber dem ersten Ansturm der Covid-Kranken als völlig überfordert erwiesen hat. Mehr als 6280 Tote (davon etwa 4000 zu Hause Gestorbene), die zum Beispiel in Bergamo im März die Sterberate des gleichen Zeitraums im Vorjahr um 370 Prozent erhöhten, unter ihnen gleich 60 Ärzte und Krankenpflegekräfte, stehen für das, was die Hinterbliebenen als »disastro umanitario« (humanitäres Desaster) anprangern. Langwierige juristische Auseinandersetzungen werden die Folge sein.
Andere, besser organisierte Regionen, wie Venetien, sind anders vorgegangen. Der dort verantwortliche Mediziner Andrea Crisanti aus Padua hat beim ersten Ausbruch des Virus in dem kleinen Ort Vo’ Euganeo durch sofortige Isolierung des Krankenhauses und massive Testung der Gesamtbevölkerung in nur neun Tagen die Verbreitung des Virus von zunächst drei Prozent Positiven auf nur noch 0,25 Prozent eindämmen können. Dort war das notwendige medizinische Material vorhanden, und die Epidemie-Notfallpläne waren periodisch aktualisiert worden.
Den südlichen Regionen Italiens blieben hohe Infektionszahlen während der ersten Coronaphase erspart. Erst die verstärkte Reisetätigkeit während der Sommermonate verteilte das Virus dann gleichmäßiger, kleinere Infektionsherde werden inzwischen im ganzen Land festgestellt, die täglichen Zahlen überschreiten seit Ende August auch wieder die 1000er-Grenze – bei relativ niedriger und lokal sehr unterschiedlicher Test-Tätigkeit.
Die langsame Lockerung nach dem rigiden Lockdown wurde medial von Pessimisten wie von Optimisten begleitet. Letztere sahen das Virus schon im Juni als nicht mehr oder kaum noch infektiös an und ermöglichten damit vielen Italienern zumindest den Kurztrip an den Wochenenden ans ersehnte Meer – ohne Gewissensbisse. Die Strände waren von Einheimischen bevölkert, ausländische Touristen fehlen dort ebenso wie in den Städten.
Die Pessimisten, die seit Beginn vor Unterschätzung und Leichtsinn warnten, treten nun im Medien-Diskurs wieder in den Vordergrund – vor allem während der Endlos-Debatten um die bestmöglichen Bedingungen für die bevorstehende Öffnung der Schulen am 14. September, nach immerhin sechs Monaten Pause!
Damit tut sich ein weiteres großes Problemfeld auf, das weniger von Corona als von dem schon vorher unterfinanzierten Schulsystem bedingt ist. Seit Jahrzehnten verfällt sogar die Bausubstanz vieler Schulgebäude, und ein großer Teil des Lehrpersonals arbeitet jahrelang prekär. Neue Planstellen können nur über ein bürokratisch schwerfälliges Wettbewerbssystem vergeben werden – der Beginn eines nächsten »Concorso« für 35.000 Planstellen ist für den kommenden Oktober vorgesehen, aber zurzeit sind etwa 200.000 Stellen für Lehrkräfte und Mitarbeiter noch unbesetzt. Kinder und Jugendliche, die bisher zu den am stärksten belasteten Gruppen der letzten Monate gehören, stehen vor großen Ungewissheiten und mit ihnen ihre Familien.
All die vielen nun zu lösenden Probleme, die durch Corona zwar nicht völlig neu entstanden sind, aber massiv verstärkt werden, haben die gesellschaftlichen Widersprüche noch greller ans Licht gebracht als zuvor. Eine Erkenntnis, zu der man nicht nur in Italien kommt und mit der die Menschen unterschiedlich umgehen. Verdrängungsmechanismen setzen vor allem dort ein, wo unerfreuliche Realitäten nicht akzeptiert und also negiert werden. Dazu trägt die Tatsache bei, dass für Corona nicht einzelne Brunnenvergifter verantwortlich gemacht werden können (auch wenn das immer wieder versucht wird: zum Beispiel die Migranten, die Reisenden oder tout court China), sondern dass es sich letztlich um ein Produkt unseres Lebens- und Wirtschaftssystems handelt. Das und dessen Prämissen müsste man also radikal ändern, um solche Viren und ähnliche Phänomene in Zukunft verhindern zu können. Eine solche Veränderung steht aber nirgends auf dem Programm (nicht nur) der Rechten, deren Eliten ja gerade die bestehende internationale Ausbeutungspraxis beibehalten wollen. Da es also keinen klar erkennbaren Verursacher gibt, ist es am einfachsten, das Problem zu leugnen oder herunterzuspielen und die (durchaus oft diskutablen) Maßnahmen der vielfach ungeliebten staatlichen oder politischen Autoritäten abzulehnen. Dabei kommt der Protest von rechts gegen die vermeintliche Einschränkung unserer individuellen Freiheiten gerade von denen, die sonst immer nach Law and Order rufen beziehungsweise eine derartige Politik dort praktizieren, wo sie an der Macht sind.
Und selbst die sonst eher Unpolitischen fühlten sich doch in unseren westlichen Gesellschaften bisher vor den Katastrophen der weiten Welt noch geschützt und möchten diese vermeintliche »Sicherheit« nicht einbüßen! Auch nicht durch eine temporäre Einschränkung unserer bisher üppigen individuellen Freiräume, in denen ein solidarischer Gemeinsinn längst nicht mehr im Zentrum unserer gesellschaftlichen Praxis stand. Durch Internet verbreiten sich all diese Stimmen überall. Sie scheinen besonders viele Anhänger dort zu finden, wo die Zahl der Opfer nicht erschreckend hoch ist (wie zum Beispiel in Deutschland). In Italien ist die Zahl der sogenannten negazionisti erheblich kleiner. Am 5. September demonstrierten in Rom gerade mal 2000 Menschen, organisiert von der extrem rechten Forza Nuova, zusammen mit den Impfgegnern der No Vax und verschiedenen Regierungsgegnern. Deren Spruchbänder lobten unter anderem Trump, und ein großes Transparent trug die aus Deutschland entlehnte Aufschrift: Noi siamo il popolo / Wir sind das Volk. Ach ja.
Die italienische Realität, die überall starke soziale und lokale Differenzen aufweist, bewegte sich in all den Monaten nicht selten zwischen Drama und Farce. Denn hier steht vor all dem eine höchst fragile Regierung, die aus zwei im Wesentlichen schwer zu vereinbarenden politischen Fraktionen besteht, welche von einem nicht-gewählten Regierungschef zusammengehalten werden. Dabei hat Giuseppe Conte bisher ein von der Mehrheit anerkanntes, erstaunliches Talent bewiesen. Jedenfalls in der akuten Phase, als auch das Parlament weitgehend vom Lockdown beschränkt war und rasche Entscheidungen erforderlich waren. Dass viele der Entscheidungen und Maßnahmen im Einzelnen diskussionswürdig sind, versteht sich von selbst.
Inzwischen ist aber erneut der alte, erbitterte Kampf um die Regierungsmacht ausgebrochen, denn entscheidende Termine stehen an: Am 20. September Regional- und Kommunalwahlen in acht Regionen von Apulien bis Venetien, bei denen Salvinis Lega mit allen Mitteln versucht, letzte Bastionen der Demokratischen Partei zu schleifen. Damit will er seinen im Lockdown etwas verblassten Anspruch auf die nationale Regierung verstärken und Neuwahlen erzwingen. Aber nicht nur die Lega setzt darauf im Bund mit den übrigen Rechten, auch im Regierungslager gibt es transversale Versuche, sich neu zu formieren. Denn die Fünf-Sterne-Bewegung sieht die Zahl ihrer Sitze nach Neuwahlen halbiert, viele Vertreter suchen schon jetzt ein neues Dach. Und Matteo Renzi macht keinen Hehl daraus, die Demokratische Partei, die er nach der letzten Regierungsbildung verlassen hat, mit Hilfe seiner dort verbliebenen Mannen neu kapern zu wollen und weiter nach rechts zu schieben. Parteichef Nicola Zingaretti, der damit zur Disposition stünde, hat soeben verlangt, alle mögen ihre Karten auf den Tisch legen, damit klar würde, wer die Regierung zu Fall bringen will.
Gleichzeitig mit den Wahlen soll ein weiteres »zustimmendes« Referendum stattfinden, in dem mit einfacher Mehrheit (Ja/Nein) eine Verfassungsänderung bestätigt werden soll, die im Parlament keine notwendige Mehrheit erreicht hatte (ähnlich wie die von Renzi versuchte und verlorene Verfassungsreform 2018). Es geht hierbei um die vom M5S geforderte Begrenzung der Parlamentes: Die Zahl der Abgeordneten soll von 630 auf 400 im Parlament und im Senat von 315 auf 200 reduziert werden. Die Forderung gehörte zu den Bedingungen des M5S für die Regierungsbildung, Kabinett Conte II, vor einem Jahr. Die Demokraten mussten das schlucken, obwohl sie frühere Versuche dieser Art immer abgelehnt hatten. Sie konnten daran zwar ihre alte Forderung nach einer notwendigen Wahlrechtsreform im Sinne des Verhältniswahlrechts knüpfen, doch die steht noch aus. Wichtige Exponenten der PD distanzieren sich bereits von der Wahlempfehlung ihres Parteichefs Zingaretti, der innerparteilich sowieso in einer Klemme steckt. Alle Prognosen sehen die Ja-Stimmen überwiegen, zumal es kein Quorum gibt, denn das Ansehen der Politiker könnte tiefer kaum sinken in dem krisengebeutelten Land.
Maßgebliche Verfassungsjuristen sehen für diesen Fall eine weitere Schwächung der demokratischen Institutionen voraus, die vor gut 25 Jahren unter Berlusconi begann. Der hat sich jetzt in seinem Sardinien-Sommer mit Corona infiziert und liegt im Krankenhaus – die Fernsehnachrichten berichten täglich mehrfach über seinen Zustand. Der nun fast 85-Jährige war zuvor schon wieder so präsent im politischen Fernsehalltag, als sei er nie zu einer vieljährigen Haftstrafe wegen schwerer Verbrechen verurteilt worden.
Aber im Fernsehen beherrscht Corona noch den Diskurs, der dem Publikum klarzumachen versucht, dass es noch auf nicht absehbare Zeit mit dem Virus wird leben muss. Viel weniger hört man über die Erarbeitung der komplexen Sanierungsprojekte, die Italien bis zum 15. Oktober in Brüssel einreichen muss, um an die angesagten Milliarden zu kommen, die frühestens im Sommer 2021 fließen können. Voraussetzung dafür ist, dass das Programm von allen 27 europäischen Parlamenten bestätigt wird, eine große Unbekannte! Noch problematischer ist, dass der Regierung ein großer, alternativer Zukunftsentwurf für das ganze Land fehlt.
»Man kann der neuen Regierung nur wünschen, dass sie nicht an den vielen vor ihr liegenden Klippen zerschelle. Denn sollte sie scheitern, wird Italien für lange Zeit nach rechts abdriften.«
Mit diesen Worten endete im September 2019 mein letzter Bericht über die politische Situation in Italien vor der Corona-Epidemie. Schlimmer hätte es kaum kommen können.