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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Merkt das denn keiner?

Das mensch­li­che Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen ist kei­nes­wegs unend­lich. Ja, mit­un­ter hat man den Ein­druck, es ist von Fall zu Fall recht ein­ge­schränkt. Das ist in Punk­ten ganz beson­ders deut­lich, auf die wir im All­ge­mei­nen den aller­größ­ten Wert legen. Bequem­lich­keit ist dann nur der Aus­druck dafür, dass wir der leib­li­chen Güter­ver­sor­gung den höch­sten Rang ein­räu­men. Stich­wort Pan­de­mie-Kri­se: Da legen wir Wert dar­auf, alles zur Ver­fü­gung zu haben, was wir für unent­behr­lich hal­ten. Was lebens­not­wen­dig scheint – da drif­ten die Vor­stel­lun­gen bereits weit aus­ein­an­der. Visio­nen von Not­la­gen sind ein wei­tes Feld.

Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Alle Lebens­mit­tel die­ser Welt allein machen ihn nicht glück­lich. Der Witz ist – er merkt in der Regel nicht, was ihm fehlt. Kaum zu glau­ben: Wenn erst hin­ter­her die Erkennt­nis däm­mert, wie wich­tig etwa ein lie­ben­der Lebens­part­ner oder wie gedeih­lich eine befrie­di­gen­de Berufs­tä­tig­keit sein kann. So ist es oft genug mit den soge­nann­ten kul­tu­rel­len Bedürf­nis­sen. Umfra­gen dazu brin­gen so gut wie gar nichts. Selt­sam bedürf­nis­los kommt eine pas­si­ve Lebens­hal­tung zum Aus­druck, die erst mobi­li­siert wer­den muss.

Der Mensch der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on soll zwar stets das Beste schaf­fen. Aber sei­ne effek­ti­ven Chan­cen dafür, schöp­fe­risch zu wer­den, sind arg ein­ge­schränkt. Auf Schritt und Tritt trifft er auf die Hemm­nis­se der Wirt­schaft­lich­keit. Glo­bal ist er zum pas­si­ven Kon­su­men­ten­da­sein ver­dammt. Sein per­ma­nent gestress­ter Geist wird stän­dig mit Unter­hal­tungs­kost gefüt­tert. Bit­te kei­ne fal­sche Beschei­den­heit, möch­te man dazwi­schen­ru­fen, nimmt man tag­täg­lich die tele­vi­sio­nä­re Grund­ver­sor­gung zur Kennt­nis. Seid ihr ernst­lich zufrie­den mit dem Durch­schnitts­ni­veau der Fern­seh­bei­trä­ge? Das Ver­wirr­spiel der soge­nann­ten sozia­len Medi­en tut ein Übri­ges. Die vor­ge­gau­kel­te Frei­heit von Face­book führt ins Nie­mands­land der Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, wo nur noch bru­ta­le Gewalt­ex­zes­se Mar­kie­rung geben.

Gera­de das frei­wil­lig ver­ord­ne­te Ein­ge­sperrt­sein gan­zer Bevöl­ke­run­gen in ihre vier Wän­de muss den Fern­seh­sen­dern doch sen­sa­tio­nel­le Ein­schalt­quo­ten besche­ren. Wie­so funk­tio­niert die media­le Befrei­ung von Äng­sten und Besorg­nis­sen dabei nicht so recht? Unun­ter­bro­chen reizt nur das Stich­wort Coro­na die Gemü­ter wei­ter auf. Statt qua­li­tät­voll kul­tur­voll zu bil­den, wird amü­siert. Das aktu­ell Pro­du­zier­te beschränkt und blöd. Als Aus­gleich wirft man die Kon­ser­ve bewähr­ter Dau­er­bren­ner rela­tiv plan­los ins Gefecht. Jede Musik­sen­dung im Radio wird umständ­li­cher erklärt als die vie­len Tele­for­ma­te. Gleich­för­mig­keit ist die Regel, Inno­va­ti­on die Aus­nah­me. Casting und Redi­gie­ren gehor­chen dem markt­gän­gi­gen Zeit­geist. Das för­dert kaum künst­le­risch Über­zeu­gen­des. Die Flut auf­re­gen­der Kri­mis bringt das nicht.

Ver­blüf­fend ist das Über­schwap­pen sen­ti­men­tal-lehr­haf­ter Wer­be­äs­the­tik auf alle Lebens­be­rei­che. Wo die visu­el­le Kul­tur auf schön­fär­be­ri­schen Foto­gra­fis­mus genormt ist, fin­den pene­tran­te Wer­be­sprü­che nur noch ihre typo­gra­fisch-bild­li­che Ergän­zung im gestal­te­ri­schen Cha­os. Was ich jeden Mor­gen an bedruck­tem Rekla­me­pa­pier im Brief­ka­sten vor­fin­de, mar­kiert das unter­ste Niveau gestal­te­ri­scher Hilf­lo­sig­keit. Alles, was jemals nur annä­hernd an künst­le­ri­scher Gestal­tung dafür erfun­den wur­de, ist über Bord gewor­fen. Brief­mar­ken auf den Post­sa­chen waren ein­mal kost­bar köst­li­che gra­fi­sche Erleb­nis­se. Im Wesent­li­chen ist das vor­bei. Kein Reim und kein Bild­witz erfreut mein Ver­brau­cher-Gemüt mehr. Die in ihren besten Zei­ten als Rekla­me bezeich­ne­te Wer­bung, zur humor­frei­en Zone gewor­den, über­wu­chert nun mas­siv alles ande­re. In Not­zei­ten wie denen der Pan­de­mie muss sie womög­lich sogar noch mit För­der­gel­dern durch­ge­füt­tert wer­den. Wäh­rend­des­sen geht etwas so Alt­mo­di­sches wie Kunst am Bau, wie es scheint, end­gül­tig baden.

Wo sind die klin­gen­den Namen von Künst­le­rin­nen und Künst­lern, die unse­rer von der Natur so reich beschenk­ten All­tags­welt ein ästhe­tisch annehm­ba­res Gesicht zu geben imstan­de sind? Namen­los gewor­de­nes Team­work ver­ne­belt die Urhe­ber­schaft von Per­sön­lich­kei­ten. Jen­seits künst­le­ri­scher Men­schen­dar­stel­lung gab es schließ­lich immer sach­be­zo­ge­ne Form- und Farb­ge­stal­tung. Wir haben so viel auf ganz selbst­ver­ständ­lich kunst­vol­le Wei­se bestimm­te Lebens­qua­li­tät bereits geop­fert. Die all­täg­li­che Beklei­dung betref­fen­den Mode­fra­gen – nun gut, die wer­den in einer über­bor­den­den Quan­ti­tät abge­han­delt. Die Waren im Super­markt jedoch ver­la­chen zu einem hohen Pro­zent­satz einen Stan­dard von Qua­li­tät, der Hand­hab­bar­keit und Les­bar­keit vereint.

All die­se Fra­gen haben etwas mit Kul­tur zu tun. Da ist zu viel zurück­ge­fah­ren wor­den. Die Pan­de­mie beleuch­tet in erster Linie die Defi­zi­te in der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung. Wer Kran­ken­häu­ser aus Kosten­grün­den schließt, tut das erst recht mit Thea­tern, Ate­liers und Musik­schu­len. Bil­dungs­ein­rich­tun­gen auf den Prüf­stand der Pro­fi­ta­bi­li­tät zu stel­len ist und bleibt ein kata­stro­pha­ler Fehl­griff. Bil­dung wie Kul­tur sind eben Lebens­mit­tel – und nie nur Luxus. Die dürf­ti­ge Bil­dung der gegen­wär­tig ton­an­ge­ben­den Neu­reichs kennt nur Stars und Events. Der Natur des Men­schen die­nen­de kul­tu­rel­le Lebens­qua­li­tät sieht anders aus. Da sind gei­sti­ge Aus­strah­lung und Cha­rak­ter gefragt. Die Vor­aus­set­zung für eine Ände­rung ist eine Fra­ge des Bewusst­seins. Wir müs­sen Kul­tur ein­for­dern. Oder merkt kei­ner, dass sie uns abhandenkommt?