Vom 30. Juli bis zum 6. August 2022 fand in Berlin eine »Woche der Demokratie« statt. Künstler, Journalisten, Ärzte und Anwälte engagierten sich für Freiheit, Selbstbestimmung und Grundrechte. Hier folgt ein überarbeiteter Auszug aus einer Rede der Schriftstellerin Kathrin Schmidt:
Es ist ein Tag wie viele in diesem Sommer, die Sonne lacht, und vor drei Jahren noch hätten wir uns in dieser Wärme womöglich nicht mitten im staubigen Berlin zu einer Kundgebung getroffen, statt an einem der Seen der brandenburgischen Umgebung zu liegen oder ins Wasser eines Berliner Freibads zu springen. Was treibt und zieht uns also zusammen? Der Wunsch, zu sprechen? Aber worüber denn, höre ich Euch fragen. Es ist doch alles längst gesagt. Es hat religiös-kultische Züge angenommen, auf welcher Seite des Gesellschaftsgrabens Du Dich befindest. Ihr seht hier meine rechte Hand: Ich strecke sie jedem entgegen. Es ist mir selbstverständlich, ich wurde irgendwie so erzogen. Und mentale Gräben zählen im Moment des Kennenlernens eines Menschen für mich nicht. Dennoch habe ich das Gefühl, dass diese meine rechte Hand geflissentlich übersehen wird. Erst mal will das Gegenüber schon wissen, ob es ungefährlich ist, meine Hand zu ergreifen. Oder ob ich ein Gefährder bin. Für die einen ist schon ein Gefährder, wer ungeimpft daherkommt. Für die anderen ist es womöglich eine ideologische Frage: Glaubt sie, wovon ich überzeugt bin? Ansonsten wird es schwer, ihr ungefährdet die Hand zu reichen. Es könnte ja jemand zuschauen, und überhaupt: Erst mal Distanz, Distanz …
Neulich war ich mit meinem Mann in einem Geschäft, um eine Hose für ihn zu kaufen. Die Verkäuferin, sehr freundlich, stellte den Staubsauger beiseite, den sie gerade benutzt hatte, um den bis zu unserem Eintreten leeren Laden zu reinigen. Sie entschuldigte sich, sagte, sie sei gestern Abend nach Ladenschluss nicht mehr dazu gekommen, das zu tun. Auf unsere Ansage, sie könne ruhig weitermachen, wir würden uns ein bisschen umsehen, meinte sie: »Oh nein, ich kriege es mit dem Chef zu tun, ich darf das nicht, wenn jemand im Laden ist.« Abgesehen davon, dass wir uns auf einmal wie Störer vorkamen, die die Verkäuferin von einer wichtigen Tätigkeit abhielten, entgegnete mein Mann, dass dies sein erster Besuch in einem Geschäft seit über zwei Jahren sei, er brauche einfach eine Hose und Zeit dafür. Die Verkäuferin sah aus, als wolle sie ihm gerne die Hand auf die Schulter legen, und sagte mit besorgtem Gesichtsausdruck: »Oh ja, das verstehe ich gut. In dieser Bedrohungslage geht man ja nicht gerne einkaufen. Ich wünsche Ihnen, dass sie gesund bleiben!« Mein verdutzter Mann erwiderte: »Das ist aber jetzt ein Missverständnis, denn ich bin in keinen Laden gegangen, weil ich keine irgendwie geartete G-Regel oder das Masketragen akzeptieren kann!« Dann verzog er sich mit zwei Hosen in eine Kabine. Und ehe ich mich’s versah, holte die Verkäuferin zu einem Monolog aus, den ich nicht zu stoppen imstande war, so oft ich es wenigstens versuchte. Sie erzählte, sie sei vierfach geimpft und dennoch fast an ihrer Corona-Erkrankung gestorben; sie sei so froh, dass es die Impfung gibt, sonst hätte sie den Löffel abgeben müssen. Sie diskutiere das nicht mit Kunden, ihr stehe das Thema bis Oberkante Halskrause, man müsse das Thema außen vor lassen – mit dem ich nun keineswegs angefangen hatte, aber es volle Breitseite abkriegte. Nichts ließ die Dame aus. Auch nicht, dass ihr Laden, ein Herrenausstatter im mittleren Preissegment, durch die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns stark gebeutelt worden sei. Sie könne nur hoffen, dass das Geschäft irgendwie überlebe. Viele Kunden seien in den Internethandel abgewandert. Deshalb habe sie sich ja so gefreut, als wir das Geschäft betraten. Sie redete und redete, bis mein Mann aus der Kabine trat: Die Hosen waren nicht die richtigen. Ich war froh, als wir den Laden verließen.
Was mir deutlich in Erinnerung blieb: Der Glaube dieser Frau an die eigene Rädchenhaftigkeit. Nicht nur, dass sie an ihren Chef zu glauben hatte, der ihr das Staubsaugen in Anwesenheit von Kunden untersagte. Das Abweichen vom Kultglauben an Pandemie und Impfung schien ihr so unvorstellbar, so undenkbar, dass sie einen Einwand nicht einmal in ihre Nähe geraten lassen konnte und mit einem geradezu irren Redefluss irgendeine Äußerung von mir zu verhindern suchte. Aber ich hatte nicht vorgehabt, mich zu äußern, und habe es auch nicht getan. Ich habe die Angst dieser Frau verstanden. Ich sah ihr an, dass das Abrücken vom Narrativ, jeder Zweifel, ihre Welt in einer Weise ins Wanken bringen würde, die sie bedrohen musste. Zwischen ihren Worten meinte ich immer wieder zu hören: »Wir sind doch unten. Wir sind doch die Kleinen, die nicht überblicken können, was die Großen entscheiden.« Diesem Ohnmachtsgefühl ausgeliefert braucht sie den Glauben, dass die Großen es hoffentlich, hoffentlich gut mit uns meinen. Und wenn wir uns schön an die Regeln halten, machen wir wenigstens keine Fehler. Am Ende ihres Monologs stand es deutlich im Raum: Ich habe wenigstens nichts falsch gemacht. Wenn meine Existenz trotzdem flöten geht, dann bin ich nicht schuld, sondern ein Opfer. Ein Opfer der Pandemie.
Dass wir dann in einem Tchibo-Ramschladen die nächstbeste Hose ohne Beratung kauften, gehört nur scheinbar nicht zu dieser Geschichte. Eigentlich hatten wir nach diesem Erlebnis schnellstmöglich nach Hause gewollt, aber eines hatte die Verkäuferin geschafft: Es sollte keine Internet-Hose werden. Im Nachhinein danke ich ihr, dass sie mich daran erinnert hat.
Es gab in der Geschichte Europas und Nordamerikas ein Zeitalter, das das der Aufklärung genannt wird. Im gesellschaftspolitischen Gefolge dieser Aufklärung kam es zu größerer persönlicher Handlungsfreiheit, zu einer größeren Anerkennung der Bildungsnotwendigkeit für die Völker, und es formierten sich die Rufer nach einem allgemeinen Menschenrecht und einem Gemeinwohl als Staatspflicht. Wir wähnten uns in unseren sogenannten westlichen Demokratien wohl am Ziel dieser Entwicklung. Aber wir verdanken der Aufklärung eben auch den Rationalisierungsgedanken, der heute in der neoliberalen und globalistischen Aneignung der Welt durch die Reichsten der Reichen, die Staatsgrenzen nur stören können, einen unheilvollen Höhepunkt findet. Auf der anderen Seite sehen sich viele Geisteswissenschaftler auch heute noch den Idealen dieser Aufklärung verpflichtet, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, beschlossen von den Vereinten Nationen, sei ein Beispiel.
Im Alltagsbewusstsein ist die Aufklärung wohl etwas, was wir weit hinter uns wähnen. Was wir längst geschafft haben. Dabei denke ich, die Aufklärung liegt wieder einmal vor uns, denn das Rationale, das Argument, ist käuflich geworden. Mit genügend Geld kann es aufgepumpt oder weggedrückt werden in der Öffentlichkeit, wir erleben es alle Tage. Doch seine Käuflichkeit verschwindet in der Unsichtbarkeit: Die Regierungen haben die Zensur outgesourct an privatwirtschaftliche Konzerne und können sich wegducken, sind aber auf sehr intransparente Weise natürlich mitverantwortlich für die Zensur. Die vermeintliche Wissenschaft wiederum wird zum Kult, um den wir uns, Regierungsverlautbarungen nachbetend, zu bewegen haben. Dabei sind unter den Menschen, die das Kulthafte deutlich in Frage stellen, auch viele Wissenschaftler! Sie finden kein Gehör zwischen den moraltriefenden Monologen derer, die sich jenseits des Großen Grabens befinden. Hinzu kommt, dass diese sich deutlich als Mehrheit der Bevölkerung verstehen und es mit Minderheitenrechten nicht mehr sehr ernst nehmen. Erinnern wir uns: Das Vertrauen in eine kritische Öffentlichkeit war eine Grundvoraussetzung für die Vordenker der Aufklärung! Die Vormachtstellung des Finanzkapitalismus will im Verbund mit Digitalkonzernen, die die Datengrundlage dafür liefern, eine kritische Öffentlichkeit nahezu unmöglich machen. Hier können wir ansetzen, die kritische Öffentlichkeit ist unser Raum, den wir nicht verlassen dürfen! Auch deshalb stehen wir heute hier, in der Woche der Demokratie in Berlin.
Zum Schluss möchte ich eine kleine Geschichte erzählen, die mich ebenso gefreut wie erstaunt hat. Ich lebte in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 in Dresden. Im Oktober saß ich, zunächst allein am Tisch, auf dem Dresdner Altmarkt bei einem Federweißen. Eine Omi trat heran, auch mit Federweißem in der Hand, und fragte, ob sie Platz nehmen dürfe. Aber klar. Bald darauf kam eine zweite Omi hinzu und setzte sich ebenso. Die beiden waren deutlich anders gekleidet als ich, mit altrosafarbenen Jacken über dezent gemusterten Blusen, die weißen Haare sehr ordentlich frisiert. Es entspann sich ein Gespräch, das vom Dresdner Altmarkt über den Neumarkt zum Zwinger wanderte und dann bei Canaletto haltmachte, dem Maler, der nicht nur Dresden mit seinen großformatigen Gemälden wenigstens fürs Gedächtnis vor der Zerstörung bewahrt hat. Oh, da war ich dabei. Ich hatte es immer geliebt, durch die Räume und Flure des Zwingers zu pilgern und mich bei Canaletto aufzuhalten! Und die Omis waren beide im Besitz einer Dauerkarte für den Zwinger. »Wollen wir nicht nächsten Sonntag gemeinsam hingehen?«, fragte die zuletzt Hinzugekommene. Nun war gerade erneut die 2G-Regel in Kraft getreten, so dass ich noch überlegte, wie ich meine Verhinderung am besten preisgeben könne, als schon die andere sehr ruhig sagte: »Nein, geht nicht. Ich bin nicht geimpft.« Erleichtert schob ich ein »Ich auch nicht!« nach. Verwundert schaute die Dritte im Bunde auf uns zwei Verrückte. »Aber warum denn nicht? Ich bin so glücklich mit meiner Impfung, weil ich jetzt überall wieder rein kann!« Wieder meinte die als Erste in völliger Ruhe, ohne jede Spur von Aufregung: »Das Impfen ist für mich die knallharte Durchsetzung einer ausschließlich politischen Agenda, das hat mit meiner Gesundheit absolut nichts zu tun.«, und nahm noch einen Schluck. Ich stimmte zu. Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte wiederum die Andere: »Das habe ich ja noch nie von zwei so vernünftig wirkenden Frauen gehört. Ich glaube es auch nicht. Trotzdem fand ich unser Gespräch sehr schön und freue mich, dass wir uns kennengelernt haben. Ich spendiere noch eine Runde.« Wir kehrten zu Canaletto zurück.
Da zwei Federweiße für mich mehr als ausreichend sind, stolperte ich später fast, als ich aufstand. Wir verabschiedeten uns. Ich gab jeder der beiden Damen die Hand. Die rechte. Es fühlte sich gut an.
Literaturhinweise:
Koenigs Kinder. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002
Du stirbst nicht. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
Kapoks Schwestern. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016