Es ist gerade ein halbes Jahr her, dass ich in Ossietzky den Noir-Roman »Am roten Fluss« vorstellte, den Erstling von Marcie Rendon, Angehörige der Anishinabe White Earth Nation, mit über 125 Stämmen eins der größten Indianervölker Nordamerikas aus der Region um die Großen Seen (»Union der harten Hand«, Heft 18/2020). Im Herbst erschien in der Ariadne-Reihe des Argument Verlags, Hamburg, die Fortsetzung »Stadt, Land, Raub«, wieder mit der 19-jährigen Cash in der Hauptrolle. Beschützt vom örtlichen Sheriff, hat sie inzwischen ein Collegestudium begonnen. Als eine weiße Kommilitonin verschwindet, bittet der Sheriff sie um Hilfe. Doch es bleibt nicht bei diesem einen verschwundenen Mädchen, und Renée »Cash« Blackbear gerät in einen Strudel aus Prostitution und Mädchenhandel, aus dem sie sich nicht allein befreien kann.
Marcie Rendon hatte in ihrem ersten, in den 1970er Jahren spielenden Roman nicht nur ihre Hauptprotagonistin vorgestellt, die trinkfeste amerikanische Landarbeiterin mit religiösen »außerkörperlichen Erfahrungen«, sondern facettenreich das zum Teil bis heute andauernde Unrecht beschrieben, welches den indianischen Völkern in den USA widerfährt. Dieses Verbrechen ist das eigentliche Thema der Bücher Rendons, denn: Raub begleitet die Geschichte der Indian Nations. Raub des Landes, der Stammesidentität, der Bürgerrechte, der Kinder, der Kultur und Lebensweise. Raub steht auch im Mittelpunkt des zweiten Romans, dessen Opfer diesmal aber Töchter aus wohlsituierten weißen Familien werden. Wieder ermittelt Cash auf ungewöhnliche Weise. – Auf Platz 8 der von Journalisten erstellten Krimibestenliste im Oktober 2020.
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Der zweite Krimi, den ich vorstelle, kommt ebenfalls aus dem Ariadne Verlag, und auch hier begegnet uns eine alte Bekannte: die französische Schriftstellerin Dominique Manotti, Historikerin mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, viele Jahre als Gewerkschafterin in der Confédération française démocratique du travail (CFDT) aktiv, dem mit 800.000 Mitgliedern größten Gewerkschaftsbund Frankreichs. In Ossietzky, Heft 18/2018, hatte ich unter der Überschrift »Raubtierkapitalismus« ihren Roman »Kesseltreiben« vorgestellt.
Ihr gerade auf Deutsch erschienenes elftes Buch »Marseille.73« führt zurück in die für Frankreich aufwühlende Zeit der Beendigung des Algerien-Krieges. Damals siedelten nach der Unabhängigkeitserklärung der bisherigen Kolonie die meisten der etwa 1,4 Millionen Pieds-Noirs, wie die Algerien-Franzosen genannt wurden, ins französische Mutterland um: vielfach die Herzen voller Hass, der sich in Gewalttaten und Morden gegenüber den algerischen Arbeitsemigranten in Frankreich entlud. Viele von ihnen waren und blieben Mitglied der französisch-nationalistischen Terrorgruppe OAS oder anderer Terrorgruppen. Gedeckt, unterstützt, geduldet wurden die Verbrechen von Sympathisanten in Politik – Präsident de Gaulle erließ 1968 eine Amnestie für alle Strafgefangenen der OAS –, Geheimdiensten, Polizei und Verwaltung. Marseille war ein Brennpunkt. Allein hier soll es mindestens 15 rassistische Hassmorde gegeben haben.
Wie schon bei Rendon, so sind auch bei Manotti die verschleiernden Machenschaften und die offensichtliche Kumpanei von Behörden und staatlichen Institutionen das eigentliche Verbrechen. Manottis Bücher sind hochpolitisch, egal, ob es um Wirtschaftsverbrechen, Waffenhandel, die Brigade Rosse oder das Treiben der SS im Paris von 1944 geht. Ich machte beim Lesen automatisch einen Zeitsprung, hatte die Bilder von den Massenprotesten Hunderttausender Ende November in Frankreich gegen das geplante Sicherheitsgesetz vor Augen, den Bericht der Tagesschau ungefähr zu gleicher Zeit mit den Videoaufnahmen von Polizeigewalt. Originalton ARD-Studio Paris: »Es sind Bilder, die schockieren. Ein schwarzer Musikproduzent wird im Eingangsbereich seines Pariser Studios von Polizisten angegriffen. Die Beamten schlagen und treten brutal auf den Mann ein. Auch Teleskopschlagstöcke kommen zum Einsatz.« Die Aufnahmen könnten auch aus dem Marseille des Jahres 1973 stammen. – Verdienterweise auf Platz 2 der von Journalisten erstellten Krimibestenliste im Dezember 2020.
Marcie Rendon: Stadt, Land, Raub, Deutsch von Jonas Jacob, 237 Seiten,13 € – Dominique Manotti: Marseille.73, aus dem Französischen von Iris Konopik, 397 Seiten, 23 €. Beide Bücher bei Ariadne im Argument Verlag.