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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Meldungen aus den letzten Tagen des Krieges

Der 19-jäh­ri­ge Wehr­machts­ge­frei­te Wil­li Herold, mit einer Haupt­manns­uni­form beklei­det, ist in das mit etwa 3000 Straf­ge­fan­ge­nen über­be­leg­te KZ Aschen­dor­fer Moor ein­ge­drun­gen und über­nimmt das »Kom­man­do«. Er und sei­ne klei­ne, aus ver­spreng­ten Sol­da­ten gebil­de­te Ein­heit ermor­den in den näch­sten Tagen ab dem 11. April Hun­der­te Gefan­ge­ne. Ein­hei­ten wie die­se gibt es Hun­der­te, vie­le haben sich als »Stand­ge­rich­te« for­miert und brin­gen schät­zungs­wei­se 8000 »Des­ser­teu­re« um.

Am 12. April 1945 ver­sam­meln sich im frän­ki­schen Bad Winds­heim Hun­der­te Frau­en und Kin­der auf dem Markt­platz und drin­gen in die Gefechts­stel­lun­gen ein, um eine Kampf­grup­pe der Wehr­macht zur Auf­ga­be zu über­re­den und den Ort kampf­los zu über­ge­ben. Die US Army ist schon in Sicht­wei­te. Die Gesta­po hält Chri­sti­ne Schmot­zer für die Anfüh­re­rin und erschießt sie.

Aus den Neben­la­gern des KZ Buchen­wald, die im Ruhr­ge­biet exi­stie­ren, wer­den im März 1945 rund 1000 jüdi­sche Frau­en nach Ber­gen-Bel­sen abge­scho­ben. Die Stahl­in­du­strie will sich nicht mit ihnen bela­sten, wenn die Besat­zung erfolgt. Im Ber­gen-Bel­sen stirbt die Hälf­te der Skla­ven­ar­bei­ter der Krupp, Hoesch und Thys­sen, auch der Quandts. Die Täter aus der Wirt­schaft wer­den nie wirk­lich bestraft.

Über das Kriegs­en­de in Kras­no­dar berich­tet F. C. Weis­kopf in sei­ner Anek­do­ten­samm­lung: Es wur­de ein 18-jäh­ri­ges Mäd­chen ange­trof­fen, damit beschäf­tigt, Bücher zum Ver­leih an Sol­da­ten und zurück­keh­ren­de Bewoh­ner zurecht­zu­le­gen. Poli­na Udo­wen­ko von der städ­ti­schen Biblio­thek hat­te wäh­rend der deut­schen Besat­zung näch­te­lang und heim­lich 20.000 Bücher weg­ge­schafft. Ihr sei bewusst gewe­sen, dass dies gefähr­lich war; »aber Bücher sei­en schließ­lich Muni­ti­on, und Muni­ti­on dür­fe dem Feind doch nicht über­las­sen werden«.

Am 13. April 1945 beset­zen Bri­ten und US-Ame­ri­ka­ner Dort­mund. Sie kom­men zu spät; 300 Häft­lin­ge und Zwangs­ar­bei­ter sind zuvor von der Gesta­po in den Wäl­dern der Stadt ermor­det wor­den. Die damals zehn­jäh­ri­ge Mar­gret Schup­pen­hau­er berich­tet: »Die Ame­ri­ka­ner kamen auf der Her­mann­stra­ße nach Hör­de rein. Die wei­ßen Amis saßen schön in ihren Jeeps, aber die Schwar­zen, die muss­ten drau­ßen mit ihren MPs alles sichern. Da pas­sier­te eine Geschich­te, über die habe ich mich schwer auf­ge­regt: Ein Schwar­zer gibt mir eine gan­ze Rati­on. Das aber sah ein Wei­ßer. Da hat er den vor mei­nen Augen zusam­men­ge­schla­gen. Nur weil er mir so viel gege­ben hat.« Als sie älter wur­de und das Fern­se­hen kam, sah Mar­gret Schup­pen­hau­er die vie­len Bil­der von den Aus­ein­an­der­set­zun­gen der Schwar­zen und Wei­ßen in den USA. »Da wuss­te ich, war­um das damals pas­siert war.«

Vom sel­ben Tag an der Hör­der Brücke. Die 16-jäh­ri­ge Mar­gret Becker berich­tet, sie habe vier Jun­gen gese­hen, die dort an einer Pan­zer­sper­re die Brücke ver­tei­di­gen woll­ten. Sie hat­ten Stahl­hel­me auf und Geweh­re in der Hand. Dann kamen die Ame­ri­ka­ner, und die Jun­gen waren ver­schwun­den. Einen Tag spä­ter kam die Beob­ach­te­rin in das eini­ge Kilo­me­ter ent­fern­te Berg­ho­fen. Sie trifft die vier Jun­gen, nun­mehr ohne Helm und Waf­fen, dafür in kur­zen Hosen. Nach­dem sie in Gefan­gen­schaft gera­ten waren, sei­en am ande­ren Mor­gen ein Offi­zier und ein Dol­met­scher gekom­men, »die haben uns die Hosen­bei­ne abge­schnit­ten« und gesagt: »Mit Kin­dern füh­ren wir kei­nen Krieg. Hier habt ihr eine Tafel Scho­ko­la­de, und geht schnell nach Hause.«

Das Inter­na­tio­na­le Rom­berg­park­ko­mi­tee und die Dort­mun­der VVN-BdA haben über das Kriegs­en­de ihr Buch »Mör­de­ri­sches Fina­le – NS-Ver­bre­chen bei Kriegs­en­de« in einer erwei­ter­ten Aus­ga­be neu her­aus­ge­ge­ben. Aus Dort­mund berich­te­te im April 1995 die Geschichts­werk­stadt im Band »Die Zusam­men­bruchs­ge­sell­schaft – Kriegs- und Trüm­mer­zeit in Dort­mund in Berich­ten und Doku­men­ten«. Die vor­ste­hen­den Mel­dun­gen stam­men aus die­sen Büchern. Und auch diese:

Als die US-Ame­ri­ka­ner am 4. April 1945 Ohrd­ruf errei­chen, fin­den sie eine nicht bezif­fer­te unge­heu­re Zahl von ver­brann­ten Kör­pern und eini­ge Über­le­ben­de. Weni­ge Tage spä­ter besucht der dama­li­ge Ober­be­fehls­ha­ber Gene­ral Dwight D. Eisen­hower das Ohrd­ru­fer KZ. Er schrieb dar­über: »Die Din­ge, die ich sah, spot­te­ten jeder Beschrei­bung. Die sicht­ba­ren Bewei­se und Zeu­gen­aus­sa­gen über Hun­ger, Grau­sam­keit und Bestia­li­tät waren über­wäl­ti­gend. Ich habe die­sen Besuch in der Absicht gemacht, als Augen­zeu­ge berich­ten zu kön­nen, wenn es in Zukunft einen Ver­such geben soll­te, die­se Din­ge als Pro­pa­gan­da abzu­tun.« Vor den Bewoh­nern von Ohrd­ruf hielt ein Oberst der US Army eine Rede: »Hier sehen Sie, war­um wir nicht Ihre Freun­de sein können!«

Heu­te wis­sen wir: Die Erin­ne­rungs­ar­beit der Opfer­ver­bän­de, auch der VVN, setz­te früh ein, jene der Behör­den und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen sehr spät. So war es in der BRD. In bei­den deut­schen Staa­ten blieb die Mit­schuld der klei­nen Leu­te zumeist unbe­ach­tet. In der Erin­ne­rungs­ar­beit an die Todes­mär­sche lag aller­dings die DDR vorn, das geht aus den Büchern zu den letz­ten Kriegs­mo­na­ten her­vor. Betont wur­de in der DDR die Rol­le der hel­fen­den Anti­fa­schi­sten – wenn es sie gab. Freie Deut­sche Jugend und Jun­ge Pio­nie­re, gan­ze Schu­len, gin­gen den Weg der Todes­mär­sche nach, leg­ten Blu­men nie­der, wo der Staat Gedenk­stei­ne errich­tet hat­te. Sie schrie­ben Gedenk­bü­cher und spra­chen mit jenen, die nun alt waren, in ihrer Jugend aber Soli­da­ri­tät orga­ni­sier­ten. Das gehört auch zum The­ma »ver­ord­ne­ter Anti­fa­schis­mus«. Aller­dings war bis­her unbe­kannt geblie­ben, in bei­den deut­schen Staa­ten, dass es die Mit­schuld vie­ler »guter« Deut­scher an den Kriegs­ver­bre­chen gab. Es lag die Furcht vor dem vor, was ein Wil­helm Brink­mann aus Dort­mund-Apler­beck geschrie­ben hat. Er berich­te­te sei­ner Frau im April 1944 von der »Par­ti­sa­nen­jagd« und vom Ver­schlep­pen von Zivi­li­sten. »Ich habe viel Elend und man­che Trä­ne gese­hen. Wenn der Krieg ver­lo­ren gehen soll­te, dann sehe ich sehr schwarz, denn die ande­ren machen es ebenso.«

Egon Krenz, der ehe­ma­li­ge Pio­nier- und FDJ-Vor­sit­zen­de, resü­mier­te: »Die Todes­mär­sche spiel­ten in der Pfle­ge der anti­fa­schi­sti­schen Tra­di­tio­nen der DDR eine sehr gro­ße Rol­le. Die FDJ und ihre Pio­nier­or­ga­ni­sa­ti­on haben da vie­le und viel­fäl­ti­ge Ideen ver­wirk­licht.« Vie­le Gedenk­stei­ne am Weg der dama­li­gen Todes­mär­sche zeu­gen davon. Inzwi­schen gibt es sie auch in vie­len west­deut­schen Gemeinden.

Die Anzahl der auf den Todes­mär­schen und bei den zahl­rei­chen wei­te­ren Kriegs­end­ver­bre­chen zu Tode gekom­me­nen Men­schen ist nicht bekannt. Die Schät­zun­gen dazu bewe­gen sich weit auseinander.

Am 60. Jah­res­tag der Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ausch­witz, am 27. Janu­ar 2005, führ­te Arno Lusti­ger im Deut­schen Bun­des­tag aus: »Zwi­schen Novem­ber 1944 und Mai 1945 wur­den etwa 700.000 Häft­lin­ge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räu­mung und Liqui­die­rung der KZs in Polen und Deutsch­land, auf etwa hun­dert Todes­mär­sche durch ganz Deutsch­land getrie­ben. Es wird geschätzt, dass über die Hälf­te von ihnen umge­kom­men ist. Sie wur­den erschos­sen, in Scheu­nen ver­brannt, sind ver­hun­gert oder an Seu­chen ver­stor­ben. Bis heu­te gibt es kei­ne Gesamt­dar­stel­lung die­ser sich auf Deutsch­lands Stra­ßen abspie­len­den tau­send­fa­chen Tra­gö­di­en, die­ser letz­ten Kon­vul­sio­nen des unter­ge­hen­den Drit­ten Rei­ches. Ich hof­fe sehr, dass die For­schung sich die­ses The­mas jetzt anneh­men wird«. Das ist sei­tens der For­schung gesche­hen, aller­dings noch nicht im öffent­li­chen Bewusst­sein angekommen.

 

Lese­emp­feh­lung: Ulrich San­der: »Mör­de­ri­sches Fina­le. NS-Ver­bre­chen bei Kriegs­en­de 1945«, Neue Klei­ne Biblio­thek 129, Papy­Ros­sa Ver­lag, 2., erwei­ter­te Auf­la­ge, 282 Sei­ten, 16,90 €