Waren die Deportationszüge in Auschwitz eingetroffen, dann fiel eine erste Entscheidung über Leben und Tod. Einer der selektierenden Täter an der Rampe war Arbeitseinsatzführer Heinrich Schwarz.
Am 5. März 1943 mahnte der SS-Hauptsturmführer nach einem kurz zuvor eingetroffenen Transport beim SS-Wirtschafts- und -Verwaltungshauptamt an: »Wenn die Transporte aus Berlin weiter mit so viel Frauen u. Kindern nebst alten Juden anrollen, verspreche ich mir im Punkt Einsatz nicht viel. Buna braucht vor allen Dingen jüngere bzw. kräftige Gestalten.« (Zitiert nach Ernst Klee: »Auschwitz. Täter, Gehilfen und Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon«, Frankfurt am Main 2013, S. 371)
Wenige Tage später, am 15. März, berichtete er unter dem Betreff »Judentransporte aus Berlin« per Fernspruch: »K.L.-Auschwitz meldet Judentransport aus Berlin. Eingang am 13.3.43. Gesamtstärke 964 Juden. Zum Arbeitseinsatz kamen 218 Männer u. 147 Frauen. Die Männer wurden nach Buna überstellt. Gesondert wurden 126 Männer u. 473 Frauen u. Kinder untergebracht.«
»Gesondert untergebracht«? Das bedeutete nicht arbeitsfähig und Tod im Gas.
Nach der Evakuierung des KZ Auschwitz war Schwarz Lagerkommandant des KZ Natzweiler im okkupierten Elsass. Ein französisches Militärgericht verurteilte ihn nach damals gültigem Recht als Kriegsverbrecher zum Tode, allein wegen seiner in Natzweiler begangenen Taten. In Sandweier, heute ein Stadtteil von Baden-Baden, wurde er am 20. März 1947 hingerichtet.
Schwarz fand seine Richter und seine Strafe. Ebenso wie Rudolf Höß, von 1940 bis November 1943 KZ-Kommandant von Auschwitz. Er wurde 1947 vom Obersten Tribunal Polens als Kriegsverbrecher zum Tode durch den Strang verurteilt und im ehemaligen Stammlager gehängt.
Doch was geschah, bevor die Deportationszüge in Auschwitz eintrafen? Wer wurde und war mitschuldig?
Die ersten Täter saßen in Ämtern und Polizeibehörden. Sie taten „nur ihren Dienst«. Sie stellten die Listen mit unzähligen Namen zusammen. Sie erfassten »nur« die Vermögenswerte im Finanzamt Moabit-West. Wer, wenn nicht sie, schrieb sie dem Deutschen Reich gut?
Es waren Stenotypistinnen, die die Listen mit den verordneten zweiten Vornamen Sara und Israel tippten. Es waren Straßenbahner, die die zusammengetriebenen Menschen zu den Bahnhöfen fuhren. Die Loks der Züge in die KZ bedienten Lokführer und Heizer in großer Zahl. Wussten sie nicht, wen sie wohin brachten? Die Eisenbahner auf den Bahnhöfen und Stellwerken gaben die Fahrten frei. Sie stellten die Signale auf Grün, garantierten die schnelle Durchfahrt.
Die Aufzählung würde lang und länger. Kurz: Es waren Frau Jedermann und Herr Tausendfach. Nach 1945 wollten urplötzlich alle nie etwas gewusst haben.
Bernhard Krüger, dem das Fälscherkommando im KZ Sachsenhausen und später im KZ Ebensee bis zur Befreiung am 6. Mai 1945 unterstand, gehörte zu denen, die ungestraft davonkamen (vgl. Charlotte Krüger: »Mein Großvater, der Fälscher – Eine Spurensuche in der NS-Zeit«, Deutsche Verlagsanstalt, 2015). Im »BRAUNBUCH« der DDR, das am 2. Juli 1965 auf einer internationalen Pressekonferenz von Albert Norden, Sohn eines Rabbiners und Mitglied des Politbüros der SED, der Öffentlichkeit übergeben worden war, ist Krüger verzeichnet (Seite 95, Sonderausgabe edition Berolina, 3. Auflage). Es wird erwähnt, dass erst im März 1954 gegen ihn als Chef der Fälscherzentrale F im Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Juristisch wurde er aber nie belangt.
Simon Wiesenthal kämpfte unermüdlich gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus. Seit seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen sah er es als seine Lebensaufgabe, NS-Verbrecherinnen und -Verbrecher wie Adolf Eichmann aufzuspüren und vor Gericht zu bringen: Recht, nicht Rache war sein Credo: »Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich bei meinen Vorträgen Worte suchen sollte, die meine Zuhörer zu Tränen bewegen. […] Das, was ich hervorbringen will, ist Wissen um das Grauen und Wissen um die Gefahr. Ich möchte, dass meine Zuhörer nicht so sehr hier und heute betroffen sind als vielmehr, dass diese Betroffenheit ihr ganzes Leben hindurch in ihnen wachgerufen werden kann. So erzähle ich ihnen also nicht nur, dass viele Städte Europas bei Kriegsende dem Erdboden gleich und mit Leichen übersät waren, sondern ich erzähle ihnen auch, dass sie wieder aufgebaut wurden und dass das Leben dort weitergeht. Aber sie sollen, wenn sie Coventry und Dresden, wenn sie Nürnberg oder Frankfurt aufsuchen, wissen, dass diese neuen Häuser auf dem Schutt von gestern stehen. Sie sollen, wenn sie auf einem Bahnhof warten und sich auf eine Reise in den Osten freuen, hin und wieder daran denken, dass durch denselben Bahnhof Züge mit Hunderttausenden Todgeweihten nach Osten rollten. In Wirklichkeit wäre es angemessen, an jedem dieser Bahnhöfe ein Schild anzubringen, auf dem es heißt: ›Hier sind zwischen 1942 und 1945 Tag für Tag Züge durchgefahren, die nur die eine Aufgabe hatten, Menschen der Vernichtung zuzuführen.‹ Man kann diese Tafeln nicht überall anbringen – aber man kann sie im Kopf behalten.« (Quelle: https://www.vwi.ac.at)
Im Juli 2020 wurde von der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von Naziverbrechen bestätigt, dass Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik 14 Ermittlungsverfahren wegen Verbrechen in den deutschen Konzentrationslagern führen. Der 8. Mai 1945 ist lange her. In der alten Bundesrepublik tickten die Uhren anders. Die Ödnisse von Lidice oder Oradour mahnen wie eh und je. Die Ruine der Frauenkirche in Dresden war ein Erinnerungsort. Heute schönt scheinbar alte Pracht ein düsteres Kapitel. Steingewordenes Nicht-mehr-wissen-Wollen.