Die Forderung nach Meinungsfreiheit bzw. ein Recht darauf, setzt voraus, dass man überhaupt eine eigene Meinung hat – so in etwa formulierte es schon Heinrich Heine. Das aber wiederum erfordert die Möglichkeit, sich eine solche Meinung bilden zu können. Zu diesem Zweck kämpfte einst das sich emanzipierende Bürgertum für eine spezifische Presse-Freiheit, d. h. für von staatlicher Zensur befreite Presseorgane, in der unterschiedliche Meinungen Ausdruck finden konnten. Aber man weiß gut 200 Jahre später auch, dass es eine wirkliche Pressefreiheit in der Praxis nie gab, denn seitdem und solange die Presse und alle Medien überhaupt, wirtschaftlichen oder politischen Interessen unterstehen, gibt es keine freie oder unabhängige Presse, kann es sie nicht geben. Kurt Tucholsky, der für viele unterschiedliche Organe schrieb, kannte den unterschwelligen »Einfluss ungezählter Interessengruppen« nur zu gut: »Die Reihe der Rücksichten reißt nicht ab, die auf die Inserenten (…), die auf die Empfindlichkeit der Bürger« (1930). Tucholsky beschrieb die Funktion der Information in der sich im 20. Jahrhundert auch in Deutschland verbreitenden Massenpresse so:
»Es ist die Verbreitung der Ignoranz durch die Technik. Diese aufgeregte Situation ist ein getreues Abbild der Wirtschaftsordnung, die sie hervorbringt. Eine lärmende Langeweile und ein tiefes Unrecht dazu: eine Verschleierung der Wahrheit und die Ablenkung vom Wesentlichen« (Ignaz Wrobel, Der neue Zeitungsstil, Die Weltbühne, 16.12.1924).
Treffender und kürzer kann man auch die Wirkung heutiger Medien kaum auf den Punkt bringen.
In Zeiten überwiegenden Friedens dient mediale Information nach wie vor – als tragende Säule der Kulturindustrie – dem Erhalt der ökonomischen und der staatlichen Ordnung und ihrer Machteliten; im Kriege wird sie als Propaganda zu einer Waffe, die ebenso wichtig ist, wie die im Felde. Die offizielle Berichterstattung in Kriegen unterliegt ausschließlich den Erfordernissen des Militärs. Das ist heute nicht anders als in allen vorhergegangenen Kriegen.
Wenn es, in sehr seltenen Fällen, gelingt, diese Mechanismen aufzudecken – wie seinerzeit durch die Pentagon Papers über den Vietnam-Krieg (1971) und später durch sogenannte Whistleblower, unter denen Julian Assange derzeit der berühmteste und der am meisten gefährdete ist –, dann zeigt sich besonders deutlich, wie es um freie Meinungsbildung, Pressefreiheit und Demokratie in unseren westlichen Gesellschaften tatsächlich steht.
Wofür die USA Julian Assange verurteilen bzw. mit abschreckender Wirkung vernichten wollen, sein »Verbrechen« also, ist nichts anderes, als der Öffentlichkeit Informationen vermittelt zu haben, die geheim bleiben sollten, weil sie die wahren brutalen Machtstrukturen in westlichen Demokratien offenlegen. Die gegen Assange erhobene Anklage wegen Spionage erinnert auch an den Weltbühnen-Prozess 1931, in dem Carl von Ossietzky wegen Hochverrats verurteilt wurde, nach Berichten über die geheime Aufrüstung der Reichswehr.
Der prekäre Status der Meinungsfreiheit wird heute auch wieder in Italien deutlich, wo es in den ersten fünfzig Nachkriegsjahren noch ein relativ breites Spektrum an veröffentlichten Meinungen gab, nicht zuletzt dank einer vielfältigen Parteien-Presse. Letztere schwand mit den Parteien und der zunehmenden Verengung aller demokratischen Spielräume seit der Berlusconi-Ära, deren Epilog man in der aktuellen Regierungskrise sieht.
Teresa Sciacca berichtete in Ossietzky 13/22 bereits über die am 6. Juni im renommierten Corriere della Sera aus Mailand veröffentlichte und um Fotos ergänzte Namensliste von angeblichen italienischen »Putin-Freunden«, sogenannten putiniani, die auf diese Weise öffentlich an den Pranger gestellt wurden. Eine bedrohliche Ächtung Andersdenkender.
Ausgerechnet Vertreter der Demokratischen Partei Italiens (Partito Democratico, kurz PD) sowie der politischen Gruppierung »+ Europa« haben inzwischen weitere Intellektuelle, Historiker, Künstler und namhafte Presse- und Fernseh-Journalisten benannt, die in einer »Studie« der beiden Nichtregierungsorganisationen Federazione Italiana Diritti Umani und Open Dialogue ebenfalls als »Putin-Freunde« verteufelt wurden; als Personen, die »für das Eindringen russischer Desinformation in Italien« verantwortlich seien. Zu den Genannten gehören so renommierte Vertreter der Öffentlichkeit wie der Historiker Alessandro Barbero, die Journalistin und Politikerin Barbara Spinelli, der RAI-Korrespondent Marc Innaro oder der Journalist, Schriftsteller und TV-Moderator Corrado Augias. Auch Oliver Stone gehört zu den Angeprangerten und – last but not least – sogar Papst Franziskus! Trotz diverser Proteste verbreiten führende Zeitungen wie La Repubblica und La Stampa einige Namen weiter. Corrado Augias zum Beispiel geriet auf die Liste, weil er in einer Fernsehsendung gesagt hatte, dass man sich auch die historischen Gründe vor Augen halten müsse, die den russischen Diktator zu seiner Aggression gegen die Ukraine motiviert haben könnten.
Die Frage ist, welches Ziel diese undemokratischen Angriffe haben. Angesichts wachsenden Unmuts in der Bevölkerung über den autoritären Stil einer Regierung, die dem Parlament kaum reale Mitsprache einräumt, nicht einmal bei Entscheidungen über Krieg und Frieden, sollen offensichtlich Grenzen gegen unerwünschte Meinungen gezogen und die noch selbstständig Denkenden bestraft werden, mit abschreckender Wirkung für alle. Die Denk-Grenzen sind definiert durch die Vorgaben der Nato bzw. die US-Interessen im Ukraine-Krieg, denen der im Juli zurückgetretene Regierungschef Draghi bisher ohne Wenn und Aber folgte. Und an diesen Vorgaben und Interessen sollen öffentlich weder Zweifel noch gar Kritik geäußert werden – denn auch Italien befindet sich ja de facto im Krieg. Siehe oben. Ebenfalls verbreitet wurde und wird die Gleichsetzung des Widerstandes der Ukrainer gegen die russische Invasion mit dem der antifaschistischen Resistenza gegen Nazideutschland – selbst Staatspräsident Mattarella zitierte angesichts des Einmarsches der Russen in die Ukraine am 24. Februar 2022 die Zeile aus Bella Ciao, der Hymne der italienischen Resistenza: »… eines Morgens erwachte ich und fand den Invasor, den Eindringling vor«. Dagegen verwahrte sich mit der großen Mehrheit ihrer politisch durchaus unterschiedlichen Mitglieder die landesweit präsente und hoch geachtete Nationale Vereinigung der Partisanen Italiens, die ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d’Italia) mit fundierten Argumenten gegen die völlig unvergleichbare historische Konstellation. Die rechte Presse, seit Jahren bemüht, den antifaschistischen Grundkonsens der italienischen Verfassung zu diskreditieren, schlug prompt vor, das »P« in ANPI mit putiniani, mit Putinfreunde, zu besetzen. Ein weiterer Anschlag auf den Antifaschismus, ein weiterer Versuch, ihn als überflüssig erscheinen zu lassen. Zumal die Ex-Faschisten immer dreister ihren Anspruch auf die Regierungsmacht im Staat anmelden.
Inzwischen rechnen viele damit, dass dieser Krieg noch lange, sehr lange dauern wird. Das Volk wird auf Kriegswirtschaft und aufs Durchhalten eingeschworen. Aber längst steht eine Mehrheit der Italiener dagegen – bei weitem nicht alles dezidierte Pazifisten, sondern eher skeptische Realisten, die nicht bereit sind, Unsummen Steuergelder in Aufrüstung und Zerstörung zu stecken, Gelder, die dem Land für das Nötigste fehlen.
Schon seit dem Ende des letzten Jahrhunderts befinden wir uns im Krieg. Seit der Nato-Doktrin von 1999 – zur Bekämpfung diffuser globaler Bedrohungen mit einer »hybriden Kriegsführung«, also einer Mischform von offenen und verdeckten Einmischungen, militärischen Überfällen oder Attentaten, mit der Anwendung von regulären und irregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nicht-militärischen Konfliktmitteln – leben wir in einem globalen Kriegszustand mit ungezählten Militäreinsätzen und Geheimoperationen weltweit. Papst Franziskus prangert das seit langem an. Neoliberal-militärischer Neusprech wie »humanitärer Einsatz« oder »responsability to protect« und Euphemismen wie »Friedenssicherung«, »Kollateralschaden«, »Grenzschutzagentur« oder auch Putins »Sondermilitäroperation« sollen den Dauerkriegszustand erträglich machen, dominieren die medialen Diskurse und zunehmend die Gehirne. Wir, hier in Westeuropa, haben diesen globalen Krieg bisher nicht wirklich bemerken wollen.
Erst die endlosen TV-Bilder aus dem Ukraine-Krieg scheinen uns die Grauen eines Krieges wieder nahezubringen – und reaktivieren bei den Älteren kollektive Erinnerung. Aber der Krieg als offenbar unveränderbarer Grundzustand wird im öffentlichen Diskurs kaum in Frage gestellt, sondern im Gegenteil: Mit den Ruf nach immer mehr Waffen wird der »totale Krieg« in den Raum gestellt – sogar einschließlich extremer Eskalationsgefahren. Eine der ersten Mahnungen, die Ursula von der Leyen, die gepanzerte Präsidentin der EU-Kommission, angesichts der jüngsten römischen Regierungsturbulenzen aussprach, war denn auch die, an der bisherigen Ukraine-Politik Italiens und ihren Waffenlieferungen dürfe sich auch mit einer neuen Regierung nichts ändern.