Es ist ein wichtiger Tag. Nicht für die Welt – für die ist er nichts Besonderes. Aber für mich! Vor siebzig Jahren habe ich in Panik meine US Army-Jacke und -Schuhe ins Wasser geworfen und bin dann selber in Linz, im noch besetzten Österreich, in die Donau gesprungen, die die USA-Zone von der UdSSR-Zone teilte. Und ich schwamm durch den Strom – allerdings in die für fast alle Amerikaner falsche Richtung!
Es war für mich keine ganz freie Entscheidung. 1950 legte das McCarran-Gesetz fest, dass sich alle Mitglieder einer langen Liste von Vereinigungen der »Kommunistischen Front« sofort als »ausländische Agenten« polizeilich registrieren mussten. Ich war in einem Dutzend dieser Gruppen gewesen: American Youth for Democracy, Anti-Fascist Spanish Refugee Committee, Southern Negro Youth Congress (ich hatte ihnen einen Dollar gespendet), die American Labor Party, Young Progressives und – schlimmer als alles andere – die Communist Party. Wer sich nicht meldete, musste mit einer empfindlichen Strafe rechnen – bis zu fünf Jahren Gefängnis für jeden Tag des nicht Registrierens! Weder ich noch andere sind dieser Pflicht zur Selbstanzeige nachgekommen.
Als ich dann im Januar 1951, während des Koreakriegs, zur Armee eingezogen wurde, verlangte man von jedem neuen Rekruten, eine Erklärung zu unterschreiben, keiner der inkriminierten Gruppen jemals angehört zu haben. Sollte ich durch mein Geständnis riskieren, Jahre lang im Gefängnis zu landen? Oder unterschreiben und hoffen, die zwei Jahre Armee ohne Überprüfung durchzukommen? Ich habe unterschrieben.
Zum Glück schickte man mich nicht nach Korea, sondern nach Bayern. Aber gecheckt haben sie doch! Jahrzehnte später belegten 1100 Seiten Akten vom FBI, dass die Jungs von J. Edgar Hoover mich ganz genau beobachtet hatten, sowohl als linken Harvard-Studenten (die Namen von sieben Informanten wurden geschwärzt) als auch als Arbeiter in Buffalo, wo ich helfen wollte, die wenigen noch kämpferischen linken Gewerkschaftsverbände doch zu retten.
Im August 1952 bekam ich Post vom Pentagon; sieben meiner Mitgliedschaften wurden aufgelistet, und mir wurde befohlen, »am Montag beim Militärrichter zu erscheinen«. Damals kamen viele Kommunisten ins Zuchthaus. Ich hatte niemanden, der mich beraten konnte – und fuhr dann mit falschem Pass an die Donau.
Auf der anderen Flussseite, in einer überraschend ruhigen, in keiner Weise an einen »Eisernen Vorhang« gemahnenden Sonntagslandschaft traf ich auf keine sowjetischen Wachposten. Österreichische Polizisten lieferten mich dann bei der Roten Armee ab. Man hielt mich für zwei unsichere Wochen lang in einer kleinen Zelle fest, dann brachte man mich Richtung Norden, in die Deutsche Demokratische Republik. Dort ließ man mich frei. Ich hatte Glück. Die DDR war der erfolgreichste und unbeschwerteste von den »Ostblock«-Staaten. Mit meinen amerikanischen Augen beobachtete ich in den folgenden achtunddreißig Jahren –aus einer linken, aber undogmatischen Perspektive – die Entstehung, später den Niedergang dieses westlichen Vorpostens des Sozialismus. Ich fand weder Utopia noch, damals oder je, den Hunger, die Armut und das allgemeine Elend, wie es von den amerikanischen Medien geschildert wurde. Selbst im kritischen Jahr 1952/53, weniger als acht Jahre nach dem Krieg, war das Warenangebot in den Läden zwar begrenzt, oft fehlte ausgerechnet das, wonach man suchte, manche Gruppen wie Rentner hatten es nicht leicht, doch gab es für alle eine warme Mahlzeit und ein Dach über den Kopf. Ostdeutschland war viel kleiner und an Ressourcen ärmer als Westdeutschland, das Land trug über 90 Prozent der Kriegsentschädigungen, und es fehlten die Investitionsmöglichkeiten der Kriegsverbrecherkonzerne wie Krupp, Siemens, Bayer oder BASF, deren Fabriken im Osten nationalisiert wurden. Es gab auch nicht die politisch geprägte Förderung des Marshall-Plans. Viele der mehrheitlich nazifreundlichen Wissenschaftler, Führungskräfte und Akademiker waren in den Westen geflohen und machten an Rhein und Ruhr bald wieder Karriere. Das schwächte die Wirtschaftskraft der jungen DDR enorm, aber als glühender (und jüdischer) Antifaschist war ich froh, dass die Kriegsverbrecher weg waren.
Im Gegensatz zur BRD waren Schulen, Universitäten, Gerichtshöfe, Polizeibehörden vom Hakenkreuzmob befreit worden. Das bedeutete natürlich, dass die Stellen mit kaum geschultem Personal besetzt wurden, wie im Fall meines Schwiegervaters, ein Zimmermann, der zum ersten Bürgermeister ernannt wurde, oder meiner zwei Schwager, die plötzlich Lehrer waren. Natürlich gab es unzählige Probleme in einem Land, das zwölf Jahre lang von Hitler & Co. regiert worden war. Aber von Anfang an wurden antifaschistische Linke und nach Stalins Tod auch linke jüdische Emigranten zu wichtigen Persönlichkeiten in der gesamten Politik- und Kulturszene. Abgesehen von drei oder vier gehörten Wortüberbleibseln bin ich in allen Jahren in der DDR nicht auf Antisemitismus gestoßen.
Was mich als Amerikaner am meisten beeindruckte: keine Entlassungen, keine Arbeitslosigkeit; es gab Arbeit für alle. Mieten betrugen meist weniger als 10 Prozent der Gehälter; Räumungen waren gesetzlich verboten; keiner schlief auf der Straße oder bettelte; »Tafeln« für Bedürftige gab es nicht, nicht mal das Wort kannte ich damals; auch den Begriff Studentenschulden kannte niemand. Bildung auf allen Stufen war völlig umsonst, und monatliche Stipendien deckten Grundlagenkosten und machten das Jobben unnötig. So viele Ängste waren völlig unbekannt! Das meiste davon ist heute in den USA noch immer nur ein Traum.
Ich erlebte viele Milieus: kurz als Industriearbeiter im Waggonbau, Dreherlehrling, dann Journalistikstudent, Verlagslektor, Rundfunkredakteur, Leiter eines neuen Paul/Eslanda Robeson-Archivs und zuletzt als selbständiger Journalist, Autor und Vortragsredner. Ich und meine wunderbare oberlausitzer Frau Renate waren niemals reich; es blieb bei Trabanten – und ohne Datscha. Doch ging es uns allmählich immer besser. Und anderen, die ich beim Herumtingeln traf, meist auch. Warum also riskierten denn einige das Leben, um weg zu gehen? Warum wurde eine Mauer gebaut? Warum wollten sich so viele mit Westdeutschland vereinigen und die DDR begraben?
Es gab verschiedene Gründe. Besonders in den achtziger Jahren wurde es schwieriger, von Wachstum war kaum etwas zu spüren. Die Sowjetunion hatte eigene Probleme und half uns nicht. Wirtschaftsprobleme kommen bei vielen Ländern der Welt vor und werden irgendwie überstanden. Hier aber wurde jeden Abend im West-Fernsehen eines der reichsten Länder der Welt präsentiert – und alle hiesigen Mängel oder Fehler geschickt aufgebauscht. Es ging ganz offen darum, das Land – samt der verlorenen Fabriken und Ländereien – »zurückzuholen«, um von da aus weiter nach Osten zu ziehen: Mali, Hindukusch, vielleicht Donbass. Die Staatssicherheit oder »Stasi«, die geschaffen worden war, um solche Versuche zu bekämpfen, hat allzu sehr das Gegenteil gefördert – wie auch die plumpen Medien.
Und trotzdem kam die DDR näher als jedes andere Land an das legendäre Ziel der Armutsabschaffung. Nur gegen die immensen Verlockungen des Westens – Obst, Mode, Elektronik, Fahrzeuge und Reisen – konnte das Ländle nicht konkurrieren. Die DDR-Bürger nahmen all ihre soziale Vorteile für selbstverständlich und träumten von Bananen und Opels, ohne die Nachteile für die »Unteren« mitzubegreifen – und erst recht nicht, dass höhere Lebensstandards nur auf Kosten der Kinderarmut in Westafrika oder Brasilien, der ausgebeuteten Pflücker auf den andalusischen oder kalifornischen Obstfeldern und Gärten möglich waren.
Ich schaue auf meine siebzig Jahre als Auswanderer zurück, begreife mich aber weiterhin als amerikanischen Patrioten – nie für die USA von Lockheed oder Amazon, aber für die von John Brown, Harriet Tubman, Eugene Debs und Gurley Flynn, DuBois, Robeson, Malcolm und Martin. Ich liebe auch große Deutsche: Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht, die große deutsch-polnische Rosa Luxemburg – oder großartige Schriftsteller: Lessing, Goethe, Heinrich Heine, Thomas Mann, Bertolt Brecht. Und ich respektiere und fühle mich auch solidarisch mit Menschen von überall, meinen Brüdern und Schwestern von Guam und Guatemala bis nach Gaza.
Ich kann nur hoffen, dass neue Generationen von den Irrtümern und Einschränkungen der DDR lernen, die aus ihrer Geschichte und ihrer Angst entstanden sind. Sie wird immer noch ständig geschmälert und verleumdet – vor allem aus Angst, dass sie noch nicht ausreichend ausgelöscht ist. Trotz der Verzweiflung, sogar Wut über falsche Wege und verpasste Chancen, die ich manchmal in jenen Jahren empfunden habe, schaue ich mit einer Mischung aus Sehnsucht, Bedauern und sogar Stolz auf ihre hart erkämpften Erfolge im Bereich der Kultur und des Zusammenlebens. Ich erinnere an unsere Erfolge bei der Vermeidung von Krieg und in dem Bemühen für ein Leben ohne Angst oder Hass. Im Großen und Ganzen waren es gute Jahre. Ich bin froh, ich habe sie gelebt.
Aus dem Englischen von Teresa Sciacca
Anmerkung der Redaktion: Vor einer Woche, am 11. März 2023, hat unser Autor im Kreis vieler Freunde seinen 95. Geburtstag gefeiert. Herzlichen Glückwunsch!