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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Meine Heimat

Zeig dich wie­der ein­mal! Du warst die sau­be­re, fri­sche Luft, die Gerü­che der Stra­ßen und engen Gas­sen, der fei­ne Duft der Rosen, der ver­wil­der­ten Wie­sen, die Frei­heit und Lei­den­schaft, die sorg­lo­sen Zei­ten und all die zar­te­sten Gefüh­le mei­ner ersten Kind­heits­jah­re auch. Der Gedan­ke an dich wirk­te schon lan­ge himm­lisch auf mich. Die Zuver­sicht, die du ver­mit­telt hast, erfüll­te mich see­lisch mit Glück. Mein Herz gehör­te allein dir. Dei­nes spür­te ich nie. Ich dich­te­te trotz­dem zwi­schen Krieg und Flucht, ganz ver­las­sen, doch nur für dich.

Was bist du aber, Hei­mat? Bist du noch wich­tig oder nur ein Wort? Oder doch mehr als ein Wort? Bist du wie ein Gott, der auch nicht zum Grei­fen nah ist, aber gei­stig immer wahr­zu­neh­men sein muss? Auf mei­ne Fra­gen gabst du mir nie eine Ant­wort. Dei­ne Schweig­sam­keit brach­te mich schließ­lich dazu, dich auf­zu­ge­ben. In der Not such­te ich dich ver­geb­lich, woll­te mich ein­mal wie­der an dich klam­mern, fand dich aber nirgends.

Pass nun auf! Ich bin gera­de in einem frem­den Land ange­kom­men, plötz­lich, wie man hier so schön und kri­tisch sagt, hei­mat­los gewor­den, bemer­ke jedoch nach gerau­mer Zeit ohne dich kei­nen gro­ßen Unter­schied und weiß wirk­lich nicht, wozu es dich gibt. Dei­ne ethi­schen Wer­te in mei­nem Kopf stö­ren, been­gen mich nur, las­sen mich hier wie über­all auf der Welt nicht frei. Nach dei­nem Ver­lust war ich trau­rig, bald ohne dich erleich­tert, aber nach vie­len Jah­ren eben noch nicht voll­stän­dig von dir befreit. Ich woll­te kei­ne neue Hei­mat, ohne eine Hei­mat woll­te mich aller­dings fast nie­mand. Ich wer­de trotz­dem nie­mals die Erin­ne­rung an dich als mei­ne erste Hei­mat ver­ges­sen, mehr kann ich jetzt nicht für dich tun.

Respekt hast du genug, von Osten nach Westen, auch ohne mich. Die Men­schen kom­men nicht ohne dich aus. Poli­ti­ker, vor allem Dik­ta­to­ren, brau­chen dich, miss­brau­chen dich, am leich­te­sten als mora­li­sche Macht. Am eige­nen Leib erfuhr ich vor lan­ger Zeit dei­ne Auto­ri­tät und man­che dei­ner Grau­sam­kei­ten an den Gren­zen mei­nes Hei­mats­lands. Es gibt lei­der auf der gan­zen Welt zu vie­le Men­schen, die blind und stolz für dich kämp­fen, ihr Leben opfern, Blut für dich ver­gie­ßen. Die Macht der Hei­mat ist ein­fach viel zu groß, zügel­los, men­schen­feind­lich, zer­stört vie­les, sen­si­ble Men­schen­see­len als erstes. Es ist eben viel dei­net­we­gen pas­siert, nicht ohne Grund kri­ti­sie­re ich dich und schrei­be jetzt so schlecht über dich. Mit dir sind außer­dem die­se unbrauch­ba­ren Wer­te ver­bun­den, durch die man sehr leicht ras­si­stisch, zer­stö­re­risch, gewalt­tä­tig und krie­ge­risch gestimmt wer­den kann.

Die hel­den­haf­te­sten Geschich­ten wur­den oft in dei­nem Namen mit Blut geschrie­ben. Dei­ne tri­ste Bil­dung ist für mich nutz­los, wirkt gar nicht natur-, kin­der- und fami­li­en­freund­lich auf mich, erfüllt prak­tisch nur die­se (eine) klei­ne Auf­ga­be, näm­lich eine blü­hen­de Wirt­schaft zu erzie­len. Ich mag dei­ne Selbst­sucht nicht, die mir beson­ders kalt­her­zig erscheint. Und vor allem, weil du aus­schließ­lich dich, dei­ne Männ­lich­keit, Indi­vi­dua­li­tät, dei­ne kon­ser­va­ti­ve Kul­tur, Kunst und männ­li­che Geschich­te und Poli­tik und all das, was nur von dir kommt, liebst und sonst gar nichts.

Durch dei­nen Eigen­nutz sind vie­le Krie­ge ent­stan­den. Für den Schutz dei­ner Gren­zen baut man Waf­fen, trotz­dem liebt jeder dich als sei­ne Hei­mat, wo auch immer du auf die­ser Welt bist. Und egal, was geschieht, du bist stets stolz auf dich, dei­nen fei­nen Stoff, dei­ne Flag­ge und die Far­ben, die Hym­ne und dein kom­pro­miss­lo­ses Ver­hal­ten. So wie du dich benimmst, denkst du nur an dich und dei­ne Ewig­keit, die mich nicht interessiert.

Was nutzt mir eine Hei­mat, die nicht mensch­lich ist, die mich nicht wahr­haf­tig ver­sorgt, wenn ich hung­rig bin, mir kein Was­ser rei­chen kann, wenn ich dur­stig bin, mir nir­gends bei­steht, wenn­gleich ich star­ke Gefüh­le für sie habe? Mein Kör­per wird in der Käl­te nicht durch dich gewärmt, son­dern durch den Fleiß klei­ner Kin­der von irgend­wo­her. Du nennst dich aber selbst­be­wusst »Hei­mat«.

Da du nie sprichst, erzäh­le ich dir eine Geschich­te, die ein­mal trost­los in mei­nem Traum erschien: Es gab eine klei­ne Gemein­schaft, in einem klei­nen Vor­ort, in dem die Men­schen genau das Leben lieb­ten, das sie schon ewig lan­ge zusam­men­füg­te. Der Glau­be war ihnen wich­tig, solan­ge er nicht extrem war, den Geist der Gemein­schaft bela­ste­te und die Men­schen in ihrer klei­nen Hei­mat aus­ein­an­der­brach­te. Sie glaub­ten fest an die gei­sti­ge Macht der Natur. Respekt beka­men ohne­hin alle Reli­gio­nen. Sie leb­ten eigen­stän­dig, nur von den Res­sour­cen, die ihnen in ihrer Umge­bung zur Ver­fü­gung stan­den. Ihre Häu­ser hat­ten alle den­sel­ben Stan­dard, waren klein, pri­mi­tiv, mini­ma­li­stisch ein­ge­rich­tet, aber bunt und kunst­voll bemalt, über­aus gemüt­lich zum Woh­nen gebaut, kein Gebäu­de war auch nur ein biss­chen höher als das ande­re. Nie­mand woll­te bewusst den Neid in der Gemein­schaft erwecken, es gab kei­ner­lei Unter­schied zwi­schen den Geschlech­tern, im Geist die­ser Men­schen herrsch­ten mög­lichst Gleich­heit und Gerech­tig­keit. Sie hat­ten kei­ne gro­ßen Sor­gen. Die Älte­ren dien­ten als Fun­da­ment für den Nach­wuchs, man durf­te bewusst nicht lügen, ande­re See­len in Gefahr brin­gen, Leben mit Absicht zer­stö­ren. Tei­len war das höch­ste Gebot unter allen. Sie gaben alles, um die­ses Para­dies auf der Erde zu bewah­ren. Sie arbei­te­ten sehr hart, um zu über­le­ben, das hielt sie lan­ge gesund und mun­ter, sodass sie sel­ten schwer krank wur­den; falls doch, setz­ten sie auf ihre tra­di­tio­nel­len Heil­mit­tel. Das moder­ne Wis­sen, alle Infor­ma­tio­nen, die sie von außen erreich­ten, gal­ten ein­fach nur als Infor­ma­tio­nen, solan­ge sie kei­nen Nut­zen für die Gemein­schaft mit sich brach­ten. Sie aßen wenig Fleisch, nur zu bestimm­ten Anläs­sen rauch­ten sie und tran­ken mäßig Alko­hol. Die­se Süch­te bezeich­ne­ten sie als Luxus, sie waren nicht zum Miss­brauch gedacht. Sie blie­ben bis zum Ende ihres Lebens gesund. Gemein­sam ver­such­ten sie, mög­lichst die Vor­aus­set­zun­gen dafür zu schaf­fen, dass alle gleich glück­lich leben konn­ten. Neid, Hass, Hab­gier, Unter­drückung, Gewalt exi­stier­ten daher nicht. Eine wun­der­schö­ne Land­schaft umgab sie, hier waren – auch dank ihnen – Natur und Lei­den­schaft in einer Ein­heit ver­schmol­zen. Alle die­se Merk­ma­le des Zusam­men­seins gaben den Men­schen das Gefühl der Zuge­hö­rig­keit. Hei­mat war hier kein Wort auf der Zun­ge, son­dern tief in den Her­zen der Gemein­schaft inte­griert. Lan­ge Zeit funk­tio­nier­te dies auch.

Vie­le Jah­re ver­gin­gen; die Gemein­schaft wuchs wei­ter, mit ihr die Wün­sche und Träu­me ihrer Kin­der. Sie spra­chen plötz­lich von moder­ner Bil­dung, moder­nem Wis­sen, Tech­no­lo­gien, ande­ren Kul­tu­ren, Men­ta­li­tä­ten, Län­dern, Men­schen und woll­ten unter allen Umstän­den Kom­fort und eine moder­ne Poli­tik, um all ihre Bedürf­nis­se gleich und rasch zu erfül­len. Die Men­schen wur­den poli­ti­scher, mäch­ti­ger, also kri­mi­nel­ler, zum Teil über­aus reich. Die Kluft zwi­schen Reich und Arm tat sich immer stär­ker auf. Wor­te wie Mensch­lich­keit, Gleich­stel­lung, Auf­rich­tig­keit, Umwelt ver­än­der­ten stän­dig ihr Gesicht, bedeu­te­ten ange­sichts die­ser Hab­gier nichts. Man ver­zich­te­te den­noch nicht auf die­se bereits benann­ten Wer­te und die mora­li­sche Zweck­mä­ßig­keit einer Hei­mat, um Macht auf Men­schen aus­zu­üben und sich immer – vor allem in kri­ti­schen Situa­tio­nen – auf die­sen Schutz des Vater­lands zu beru­fen. Hei­mat war nun die Waf­fe der Mäch­ti­gen, die Gesell­schaft ihr Spielball.

Aus dem Vor­ort wur­de eine unüber­sicht­li­che Stadt mit vie­len Gemein­den. Die Häu­ser wur­den immer höher und höher, die Stra­ßen brei­ter und brei­ter, die Wäl­der klei­ner und klei­ner, die Tech­no­lo­gie moder­ner und moder­ner, die Men­schen immer gie­ri­ger und gie­ri­ger, eigent­lich war jetzt das Gan­ze im Ver­gleich zu frü­her in ein Cha­os gera­ten. Den­noch woll­te jeder schnel­ler vor­an­kom­men als alle ande­ren. Mit der zuneh­men­den Bil­dung ver­schwan­den die Gefüh­le für das Mit­ein­an­der. Rast­los berei­ste man die gan­ze Welt, wan­der­te ohne inne­re Ruhe aus. Irgend­wann kam man nach Jah­ren mit Geschen­ken, frem­den Spra­chen, Kul­tu­ren und exo­ti­schen Men­schen zurück und ver­ewig­te dies alles in der eige­nen Hei­mat. Die erste Gemein­schaft war längst in ihren Geschich­ten ver­schwun­den. Die moder­nen Men­schen waren ohne ihre Vor­fah­ren, ihren Geist zwar schnell mit allem über­for­dert, oft unent­schlos­sen, pass­ten sich aber irgend­wie rasch und brav an und mach­ten trotz psy­chi­scher und kör­per­li­cher Bela­stung pau­sen­los vie­le gro­ße Schrit­te vor­wärts. Dafür leb­ten sie in Luxus, besa­ßen alles im Über­fluss, spür­ten aber das Para­dies gar nicht mehr und ver­ga­ßen, was sie ein­mal see­lisch mit­ein­an­der ver­bun­den hat­te. Sie blie­ben unglück­lich zwi­schen alten und neu­en Wer­ten zer­ris­sen, suchend ohne Ende nach ihrer eige­nen Rea­li­tät und Identität.

*

Hei­mat – die Mensch­heit braucht etwas Neu­es, gewiss kei­ne gesell­schaft­li­che Spal­tung mehr.

Sei doch nütz­lich, zeig unse­ren Kin­dern nicht nur, wie sie in dei­ner festen Ord­nung, dei­nem System funk­tio­nie­ren, son­dern wie sie sich gegen mani­pu­la­ti­ve Poli­tik und radi­ka­le Len­kung weh­ren, wie sie Men­schen nicht auf Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keit oder Haut­far­be redu­zie­ren, wie sie den Tag leben und wie sie ein­an­der, der gesam­ten Mensch­heit und Umwelt mit Lie­be und Ach­tung ent­ge­gen­kom­men. Mit einer huma­nen Erzie­hung wird zumin­dest eine men­schen­freund­li­che Geschich­te ohne Gewalt und Unter­schie­de als Leit­bild für die näch­ste Gene­ra­ti­on ent­ste­hen, denn anson­sten hät­ten wir als erwach­se­ne Men­schen unse­ren Kin­dern außer Logik nichts zu geben.

Hei­mat, du bleibst für mich als mora­li­sches Wort über­flüs­sig. Ich will eigent­lich kei­ne Grenzen.