Zeig dich wieder einmal! Du warst die saubere, frische Luft, die Gerüche der Straßen und engen Gassen, der feine Duft der Rosen, der verwilderten Wiesen, die Freiheit und Leidenschaft, die sorglosen Zeiten und all die zartesten Gefühle meiner ersten Kindheitsjahre auch. Der Gedanke an dich wirkte schon lange himmlisch auf mich. Die Zuversicht, die du vermittelt hast, erfüllte mich seelisch mit Glück. Mein Herz gehörte allein dir. Deines spürte ich nie. Ich dichtete trotzdem zwischen Krieg und Flucht, ganz verlassen, doch nur für dich.
Was bist du aber, Heimat? Bist du noch wichtig oder nur ein Wort? Oder doch mehr als ein Wort? Bist du wie ein Gott, der auch nicht zum Greifen nah ist, aber geistig immer wahrzunehmen sein muss? Auf meine Fragen gabst du mir nie eine Antwort. Deine Schweigsamkeit brachte mich schließlich dazu, dich aufzugeben. In der Not suchte ich dich vergeblich, wollte mich einmal wieder an dich klammern, fand dich aber nirgends.
Pass nun auf! Ich bin gerade in einem fremden Land angekommen, plötzlich, wie man hier so schön und kritisch sagt, heimatlos geworden, bemerke jedoch nach geraumer Zeit ohne dich keinen großen Unterschied und weiß wirklich nicht, wozu es dich gibt. Deine ethischen Werte in meinem Kopf stören, beengen mich nur, lassen mich hier wie überall auf der Welt nicht frei. Nach deinem Verlust war ich traurig, bald ohne dich erleichtert, aber nach vielen Jahren eben noch nicht vollständig von dir befreit. Ich wollte keine neue Heimat, ohne eine Heimat wollte mich allerdings fast niemand. Ich werde trotzdem niemals die Erinnerung an dich als meine erste Heimat vergessen, mehr kann ich jetzt nicht für dich tun.
Respekt hast du genug, von Osten nach Westen, auch ohne mich. Die Menschen kommen nicht ohne dich aus. Politiker, vor allem Diktatoren, brauchen dich, missbrauchen dich, am leichtesten als moralische Macht. Am eigenen Leib erfuhr ich vor langer Zeit deine Autorität und manche deiner Grausamkeiten an den Grenzen meines Heimatslands. Es gibt leider auf der ganzen Welt zu viele Menschen, die blind und stolz für dich kämpfen, ihr Leben opfern, Blut für dich vergießen. Die Macht der Heimat ist einfach viel zu groß, zügellos, menschenfeindlich, zerstört vieles, sensible Menschenseelen als erstes. Es ist eben viel deinetwegen passiert, nicht ohne Grund kritisiere ich dich und schreibe jetzt so schlecht über dich. Mit dir sind außerdem diese unbrauchbaren Werte verbunden, durch die man sehr leicht rassistisch, zerstörerisch, gewalttätig und kriegerisch gestimmt werden kann.
Die heldenhaftesten Geschichten wurden oft in deinem Namen mit Blut geschrieben. Deine triste Bildung ist für mich nutzlos, wirkt gar nicht natur-, kinder- und familienfreundlich auf mich, erfüllt praktisch nur diese (eine) kleine Aufgabe, nämlich eine blühende Wirtschaft zu erzielen. Ich mag deine Selbstsucht nicht, die mir besonders kaltherzig erscheint. Und vor allem, weil du ausschließlich dich, deine Männlichkeit, Individualität, deine konservative Kultur, Kunst und männliche Geschichte und Politik und all das, was nur von dir kommt, liebst und sonst gar nichts.
Durch deinen Eigennutz sind viele Kriege entstanden. Für den Schutz deiner Grenzen baut man Waffen, trotzdem liebt jeder dich als seine Heimat, wo auch immer du auf dieser Welt bist. Und egal, was geschieht, du bist stets stolz auf dich, deinen feinen Stoff, deine Flagge und die Farben, die Hymne und dein kompromissloses Verhalten. So wie du dich benimmst, denkst du nur an dich und deine Ewigkeit, die mich nicht interessiert.
Was nutzt mir eine Heimat, die nicht menschlich ist, die mich nicht wahrhaftig versorgt, wenn ich hungrig bin, mir kein Wasser reichen kann, wenn ich durstig bin, mir nirgends beisteht, wenngleich ich starke Gefühle für sie habe? Mein Körper wird in der Kälte nicht durch dich gewärmt, sondern durch den Fleiß kleiner Kinder von irgendwoher. Du nennst dich aber selbstbewusst »Heimat«.
Da du nie sprichst, erzähle ich dir eine Geschichte, die einmal trostlos in meinem Traum erschien: Es gab eine kleine Gemeinschaft, in einem kleinen Vorort, in dem die Menschen genau das Leben liebten, das sie schon ewig lange zusammenfügte. Der Glaube war ihnen wichtig, solange er nicht extrem war, den Geist der Gemeinschaft belastete und die Menschen in ihrer kleinen Heimat auseinanderbrachte. Sie glaubten fest an die geistige Macht der Natur. Respekt bekamen ohnehin alle Religionen. Sie lebten eigenständig, nur von den Ressourcen, die ihnen in ihrer Umgebung zur Verfügung standen. Ihre Häuser hatten alle denselben Standard, waren klein, primitiv, minimalistisch eingerichtet, aber bunt und kunstvoll bemalt, überaus gemütlich zum Wohnen gebaut, kein Gebäude war auch nur ein bisschen höher als das andere. Niemand wollte bewusst den Neid in der Gemeinschaft erwecken, es gab keinerlei Unterschied zwischen den Geschlechtern, im Geist dieser Menschen herrschten möglichst Gleichheit und Gerechtigkeit. Sie hatten keine großen Sorgen. Die Älteren dienten als Fundament für den Nachwuchs, man durfte bewusst nicht lügen, andere Seelen in Gefahr bringen, Leben mit Absicht zerstören. Teilen war das höchste Gebot unter allen. Sie gaben alles, um dieses Paradies auf der Erde zu bewahren. Sie arbeiteten sehr hart, um zu überleben, das hielt sie lange gesund und munter, sodass sie selten schwer krank wurden; falls doch, setzten sie auf ihre traditionellen Heilmittel. Das moderne Wissen, alle Informationen, die sie von außen erreichten, galten einfach nur als Informationen, solange sie keinen Nutzen für die Gemeinschaft mit sich brachten. Sie aßen wenig Fleisch, nur zu bestimmten Anlässen rauchten sie und tranken mäßig Alkohol. Diese Süchte bezeichneten sie als Luxus, sie waren nicht zum Missbrauch gedacht. Sie blieben bis zum Ende ihres Lebens gesund. Gemeinsam versuchten sie, möglichst die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle gleich glücklich leben konnten. Neid, Hass, Habgier, Unterdrückung, Gewalt existierten daher nicht. Eine wunderschöne Landschaft umgab sie, hier waren – auch dank ihnen – Natur und Leidenschaft in einer Einheit verschmolzen. Alle diese Merkmale des Zusammenseins gaben den Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit. Heimat war hier kein Wort auf der Zunge, sondern tief in den Herzen der Gemeinschaft integriert. Lange Zeit funktionierte dies auch.
Viele Jahre vergingen; die Gemeinschaft wuchs weiter, mit ihr die Wünsche und Träume ihrer Kinder. Sie sprachen plötzlich von moderner Bildung, modernem Wissen, Technologien, anderen Kulturen, Mentalitäten, Ländern, Menschen und wollten unter allen Umständen Komfort und eine moderne Politik, um all ihre Bedürfnisse gleich und rasch zu erfüllen. Die Menschen wurden politischer, mächtiger, also krimineller, zum Teil überaus reich. Die Kluft zwischen Reich und Arm tat sich immer stärker auf. Worte wie Menschlichkeit, Gleichstellung, Aufrichtigkeit, Umwelt veränderten ständig ihr Gesicht, bedeuteten angesichts dieser Habgier nichts. Man verzichtete dennoch nicht auf diese bereits benannten Werte und die moralische Zweckmäßigkeit einer Heimat, um Macht auf Menschen auszuüben und sich immer – vor allem in kritischen Situationen – auf diesen Schutz des Vaterlands zu berufen. Heimat war nun die Waffe der Mächtigen, die Gesellschaft ihr Spielball.
Aus dem Vorort wurde eine unübersichtliche Stadt mit vielen Gemeinden. Die Häuser wurden immer höher und höher, die Straßen breiter und breiter, die Wälder kleiner und kleiner, die Technologie moderner und moderner, die Menschen immer gieriger und gieriger, eigentlich war jetzt das Ganze im Vergleich zu früher in ein Chaos geraten. Dennoch wollte jeder schneller vorankommen als alle anderen. Mit der zunehmenden Bildung verschwanden die Gefühle für das Miteinander. Rastlos bereiste man die ganze Welt, wanderte ohne innere Ruhe aus. Irgendwann kam man nach Jahren mit Geschenken, fremden Sprachen, Kulturen und exotischen Menschen zurück und verewigte dies alles in der eigenen Heimat. Die erste Gemeinschaft war längst in ihren Geschichten verschwunden. Die modernen Menschen waren ohne ihre Vorfahren, ihren Geist zwar schnell mit allem überfordert, oft unentschlossen, passten sich aber irgendwie rasch und brav an und machten trotz psychischer und körperlicher Belastung pausenlos viele große Schritte vorwärts. Dafür lebten sie in Luxus, besaßen alles im Überfluss, spürten aber das Paradies gar nicht mehr und vergaßen, was sie einmal seelisch miteinander verbunden hatte. Sie blieben unglücklich zwischen alten und neuen Werten zerrissen, suchend ohne Ende nach ihrer eigenen Realität und Identität.
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Heimat – die Menschheit braucht etwas Neues, gewiss keine gesellschaftliche Spaltung mehr.
Sei doch nützlich, zeig unseren Kindern nicht nur, wie sie in deiner festen Ordnung, deinem System funktionieren, sondern wie sie sich gegen manipulative Politik und radikale Lenkung wehren, wie sie Menschen nicht auf Geschlechtszugehörigkeit oder Hautfarbe reduzieren, wie sie den Tag leben und wie sie einander, der gesamten Menschheit und Umwelt mit Liebe und Achtung entgegenkommen. Mit einer humanen Erziehung wird zumindest eine menschenfreundliche Geschichte ohne Gewalt und Unterschiede als Leitbild für die nächste Generation entstehen, denn ansonsten hätten wir als erwachsene Menschen unseren Kindern außer Logik nichts zu geben.
Heimat, du bleibst für mich als moralisches Wort überflüssig. Ich will eigentlich keine Grenzen.