In der Nacht nach meiner Geburt, am 17. Januar 1943, wurde das Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf, in dem meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte, zerbombt. Es war nicht wie, sondern es war ein Wunder, dass der Trakt, in dem die Wöchnerinnen mit ihren Neugeborenen lagen, als einzige Station unversehrt blieb. Bis in mein 46. Lebensjahr hinein träumte ich immer wieder von riesigen Flugzeugen, die über mich hinwegflogen, ich sah sie und hörte ihre Motoren und die Detonationen der abgeworfenen Bomben und lernte, die Träume als Teil meines Lebens zu akzeptieren.
Ich wuchs in der DDR auf, erlebte sozialistische Aufbruchstimmung, glückliche Kindheitsjahre, ein friedliches, für Kinder in jeder Hinsicht bereicherndes Leben. Die Flucht 1958 »nach drüben«, aus privaten, für die Familie aber bedrohlichen Gründen, wurde zu einer Zäsur, die meinem inneren Frieden ein Ende setzte. Der Krieg trat ganz praktisch in mein Leben, »der Westen« erwies sich als eine Art Kampfarena. Daran gewöhnt, dass jeder für jeden da ist, dass Zusammengehörigkeit und Beistand für Mitmenschen ungefragt zur Verfügung stehen, bemächtigte sich meiner eine mir bis dahin unbekannte Empfindung, ich nenne sie »soziale Kälte«. Als ich mich diesem Gefühl des inneren Fröstelns analytisch näherte, erkannte ich, dass in der Gesellschaft, die sich selbst mit den Etiketten »sozial und demokratisch« versieht, Krieg herrscht. Die Besitzenden und die an den Schalthebeln der Macht Wirkenden halten nicht nur die armen, die prekär lebenden Menschen, sondern diejenigen, die mit ihrer Arbeit und ihrer verausgabten Lebenszeit den Reichtum erst schaffen, »in Schach«, führen auf vielfältige Weise Krieg gegen sie.
Als 23jähriger Psychologiestudent hatte ich erkannt, dass für das Konstrukt »moderne« demokratische Gesellschaft der ökonomische, soziale und kulturelle Krieg »der da oben« gegen »die da unten« ein konstitutiver Bestandteil ist, verdeckt mit wohlklingenden Worten und legitimierenden Modalitäten. Ich wurde zum akademischen Mitglied der gesellschaftlichen Klasse, deren Aufgabe darin besteht, dieses kriegerische Versteckspiel zu organisieren und »mithilfe von Domestizierungsprojekten« (Basaglia) zu perfektionieren.
Um 1968 brachte eine Art »Kriegsdienstverweigerung« derart Privilegierter die gesellschaftliche Systematik – nicht nur in Deutschland – in Bewegung, ich schloss mich an. Wir deckten die unfriedliche Substanz des sogenannten demokratischen Sozialstaates auf und stellten seine brüchigen Grundlagen infrage. Meine Rolle als Hochschullehrer nutzte ich zum aufklärerischen Ansporn für die Studierenden, gegen soziale Ausgrenzungsstrategien zu agieren und ihre Urheber zu entmachten. Die kritisierten Nutznießer des Staates machten von seinem Gewaltmonopol unbeirrt Gebrauch, indem sie die Grenzen möglichen Widerstands aufzeigten, nicht nur denen, die ihn mit der tödlichen Gewalt des selbsterklärten Guerillakampfes herausforderten, sondern in weit umfangreicherem Maße denen, die praktisch verändernde Diskurse führen wollten. Oft genug, wie in Brokdorf, Wackersdorf, Gorleben, Kalkar usw. ersetzten Polizeiknüppel und Wasserwerfer überzeugende Argumente. Viele der ernsthaft um gesellschaftliche Erneuerung bemühten jungen Menschen wurden durch einen Radikalenerlass zum Schutz der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« existenziell verwundet, mich ereilte ein Berufsverbot, das wie eine explodierende Granate in meine Lebensplanung eindrang. Der kompromisslose Widerstand gegen Armut und Leiden, versiegte allmählich: Der Klassenkrieg gegen den § 1 des Grundgesetzes, der ein Leben aller Menschen in – auch materieller und kultureller – Würde als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens verlangt, konnte munter weitergehen.
Allmählich sickerten auch die anderen Kriege, die nach außen, in mein Bewusstsein. Vietnam erschütterte alle, die verstanden, dass dort ein Menschheitsverbrechen geschah. Ich hatte noch die Parolen der Westsender im Ohr, die wir auch als Schüler in der DDR und trotz unserer jugendlichen sozialistischen Überzeugung hörten, die uns erzählten, wie friedlich, wie menschenfreundlich das Leben jenseits des »eisernen Vorhangs« sein sollte. Und nun Krieg, überall, Chile, fast ganz Mittelamerika, Kuba, Irak, Jemen, Libyen. Es war nur eine passende Fußnote, dass sie alle mit Lügen, geheimdienstlichen Verbrechen und irreführender Propaganda gerechtfertigt wurden.
Mir wurde nach und nach klar, dass all diese Kriege in einem systemischen und personellen Zusammenhang stehen: Der nach innen, wie die nach außen dienen einem einzigen Ziel, der Vermehrung von Macht und Kapital derjenigen, die schon Macht und Kapital haben. Die deutsche Beteiligung an den Jugoslawienkriegen ab 1991 und etwa zehn Jahre später die Agenda 2010 offenbarten, dass ihre Profiteure – auch hierzulande – immer offener Kriege »an allen Fronten« führen. Ihr hegemonialer Zugriff nicht nur auf Menschen und Natur, sondern auch auf Regeln, nach denen sie zu funktionieren haben, verdichtete sich in den letzten Jahrzehnten neo-liberalen Entfesselung der Märkte. Den Schock-Strategien (Naomi Klein) als perfektes Zusammenwirken von Politik, Konzernen und Militär verschafften die Chicago-Boys um Friedman und von Hayek ihre theoretische Rechtfertigung.
Erst als ich begann, mich mit Kolonialismus und Imperialismus zu beschäftigen, stieß ich auf die wahren Hintergründe für all diese Kriege. Ich begriff, dass die meisten europäischen Länder einschließlich ihrer nordamerikanischen Dependance seit Jahrhunderten an einem permanenten Beutezug weltweit beteiligt sind, und dass sie diese kolonialistische Inbesitznahme von Landschaften und ihren Reichtümern bis heute fortsetzen. Neo-kolonialistische Handelsverträge transportieren ohne Rücksicht auf Menschen, Natur und Klima auf der schiefen Ebene eines grandiosen Wohlstandsgefälles Ressourcen von Süden nach Norden, hinter dem Schleier scheinbarer Partnerschaft und Zusammenarbeit »auf Augenhöhe«.
Jetzt, 80-jährig, fühle ich mich seit dem 24. Februar 2022 vom Krieg unmittelbar bedroht. Er scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu den für Europa typischen Gemetzeln zu passen, denn Russland ist der Aggressor. Wer sich von Kriegs- und Zeitenwendenphrasen nicht verwirren lässt, stößt allerdings auf eine erhellende Tatsache. Die meisten der Staaten, die aktuell als Mitglieder der Nato oder der EU die Ukraine mit Geld, Propaganda und immer mehr und schwereren Waffen unterstützen und dort inzwischen die Kriegszügel fest in der Hand halten, gehören zu den alten und neuen Kolonialmächten, die in den globalen Weiten geplündert haben und es weiter tun – bei ihren Versuchen, sich kolonialistisch nach Osten auszubreiten, aber seit 200 Jahren gescheitert sind.
Zufall? Nein, systematisches Kalkül. Mehr denn je gilt gegenwärtig, dass die kapitalistische Produktions- und Lebensweise ohne fortdauernde kolonialistische Raubzüge – Fortschritt! – keine Überlebenschance haben wird. Seit Jahrzehnten durchziehen die Debatten um Klimaveränderungen die stille Hoffnung, die BewohnerInnen der reichen Länder könnten doch, ohne eigene Einschränkungen, die Lasten der Klimaveränderungen auf die anderen, die ohnehin schon Leidenden, abwälzen – oder es öffnet sich irgendeine Büchse der Pandora und schüttet ihren Inhalt über sie aus, auf dass alles bliebe wie gewohnt. Und siehe da, eine gut gefüllte Büchse ist Russland. Als nach 1990 Jelzin die Tore zur Schatzkammer Russland für die Raubritter aus dem Westen öffnete, schien der alte europäische – und nordamerikanische – Traum endlich wahr zu werden. Putin aber verriegelte die Tür, zum Schutz eines eigenen oligarchengestützten Systems der gesellschaftlichen Ungleichheit. Er zerschlug die Hoffnungen der ökonomischen und politischen Freibeuter auf eine schnelle und profitable Eroberung, und für diese Unbotmäßigkeit muss er bestraft werden.
Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Geschichte verstehen, diese Wahrheit gilt auch für Kriege, auch für den in der Ukraine. Verstehen heißt, nach Wurzeln zu graben, und die können erfahrungsgemäß sehr tief in die Abgründe des historischen Sumpfes reichen. Der Krieg im Osten beginnt nicht 1990 oder 2014 mit dem Maidan-Massaker, er beginnt mit Columbus, Magellan und Pizarro – er ist der furchtbare Versuch, die kolonialistische Ausplünderung der Welt fortzusetzen und Russland in die Knie zu zwingen. Was die deutsche Außenministerin zu »Russland ruinieren« verbal verdichtet hat, ist bitterer Ernst.
Im Märchen versucht der Held, wenn der Drache droht, ihn zu zermalmen, mit seinen eigenen Waffen und möglichst unerwartet anzugreifen. Es wäre so bequem, könnte das Verstehen dieser märchenhaften Logik folgen, aber dieser Krieg in der Ukraine ist kein Märchen, er ist brutale Wirklichkeit, und Russland macht in ihm beileibe keine heldenhafte Figur. Der Angriff auf die Ukraine richtet dort unvorstellbare Verwüstungen an und tötet unzählige Menschen, egal ob Soldaten oder Zivilisten, Russen oder Ukrainer. Allein dieses Ausmaß der Auslöschung von Menschenleben verbietet es, den Krieg mit irgendwelchen Argumenten rechtfertigen zu wollen: Völkerrechtler mögen legitimierende Argumente vorbringen, menschenrechtlich gesehen bricht der Krieg das naturgegebene Recht Zehntausender Menschen, ihr Leben zu leben.
Dennoch gibt es einen Kipppunkt in meinen Überlegungen. Auch wenn ich den russischen Krieg meiner pazifistischen Überzeugung gemäß als Verbrechen bezeichne, muss ich mein historisches Urteil ergänzen, wenn ich die europäische Geschichte ernst nehme: Das mehr als halbe Hundert an Kriegen, das die Nato, die USA, teilweise mit Unterstützung auch Deutschlands, seit 1945 geführt haben, sind Verbrechen, jeder einzelne ist eines. Weder die UNO, zum völker- und menschenrechtlichen Schutz der Menschen auf dem Globus eigentlich gegründet, noch irgendeine andere nennenswerte Institution hat je darauf gedrängt, die Verantwortlichen für all diese Verbrechen vor einem Menschheitsgericht anzuklagen. Nun höre ich Forderungen nach Verfolgung der russischen Verbrechen durch ein Sonder-Tribunal, und ich stimme diesem Anliegen uneingeschränkt zu: Sollte es russische Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben haben, müssen sie geahndet werden, und sollte es ukrainische geben, diese ebenfalls. Und, der Gerechtigkeitsanspruch hinter dieser Maxime kennt kein Wenn und kein Aber, konsequent und mit gleichem Nachdruck alle Verbrechen während der USA- und Nato-Kriege. Meine Überlegungen kippen, weil es keine realistische Chance geben wird, Tribunale zur Aufarbeitung all dieser Verbrechen zu schaffen, wirklich werden zu lassen.
Simpel gesagt, wer die besten Waffen hat, bestimmt, was Wahrheit ist, und er zieht die Handlungsfäden wie Puppenspieler im Marionettentheater. Das Kalkül, den Gegner in ein zynisches Auswegs-Dilemma zu zwingen, hat nicht weniger zynische Folgen, denn wie die Kolonialisten an seinen Grenzen lässt Russland die ukrainischen Menschen den Blut- und Zertrümmerungszoll für sein eigenes Überleben zahlen.
Acht Jahrzehnte lang haben Kriege mich begleitet, mal weiter weg, mal näherkommend, nun ziehe ich eine so beunruhigende Bilanz. Diese Kriege nach innen und nach außen haben unbeschreibliche Verheerungen, ungeheuerliche Genozide, Leid und Schmerzen angerichtet. Als materielle Fundamente ihres Lebens werden sie von der Mehrheit der Menschen, die auf der Nordhalbkugel leben, ausgeblendet. Diese Gleichgültigkeit ist zum typisierenden europäischen Verhaltensmuster geworden und erreicht die selbstkritischen Synapsen selten. Viele Menschen in den globalen Weiten haben am eigenen Leibe erfahren, leidend und hungernd, vertrieben und ausgebeutet, dass es eine andere Wahrheit gibt, sie geben den KriegstreiberInnen in Washington, in Brüssel, in Berlin, in Paris, in Warschau keine Satisfaktion. Ihre Botschaft lautet: Ihr Europäer und Nordamerikaner sitzt im Glashaus. Wenn ihr den russischen Krieg verurteilt, ohne all die anderen Kriege verurteilt zu haben, wenn ihr von dem oder den russischen Verbrechen sprecht, ohne die Verbrechen der Nato und der USA und der EU, zu benennen, solltet ihr euch nicht wundern, wenn das Glashaus euch unter seinen Trümmern begräbt.