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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Meine 75 Jahre Grundgesetz

Fünf­und­sieb­zig. Bin ich auch. Ein knap­pes hal­bes Jahr älter sogar als das Grund­ge­setz. Ein guter Jahr­gang, 1949, etwas Stolz sei erlaubt. Und dank­bar bin ich, dass es so gekom­men ist. Geburts­tag also, Glück­wunsch uns beiden.

Fünf­und­sieb­zig gute Jah­re. Vor allem auch Dank Grund­ge­setz. Für mich waren es fünf­und­sieb­zig fried­li­che Jah­re in dem klei­nen Haus mei­nes Opas in dem frü­he­ren Zechen­dorf. Opa war Mau­rer, zuge­wan­dert, damals vor über hun­dert Jah­ren, kurz nach dem Ersten Welt­krieg. Arbeits­im­mi­grant. Wenig spä­ter das klei­ne Häus­chen gebaut mit eige­nen Hän­den und der Hil­fe von Freun­den und Kollegen.

Fünf­und­sieb­zig Jah­re, eine kur­ze Zeit. Fried­lich, was heißt das schon? In unse­rem Gärt­chen viel­leicht, mag sein. Anders­wo, egal, wohin du schaust, sah es damals, sieht es heu­te ganz anders aus. Die Erde brennt, ver­brennt auch ohne Mili­tär und Krieg nicht erst seit gestern.

Tei­le ich die fünf­und­sieb­zig Jähr­chen grob in drei Tei­le, dann waren die ersten fünf­und­zwan­zig land­auf land­ab in der so jun­gen Repu­blik, natür­lich auch in mei­nem Dörf­chen, eher grau, trist, unspek­ta­ku­lär. Noch geprägt von dem, was vor­her war. Für unser­eins, für so klei­ne Leu­te wie Opa, mei­ne Eltern und ihre Nach­barn, waren die­se Jah­re aber auch geprägt von so etwas wie Dank­bar­keit. End­lich vor­bei, befreit, dach­ten die meisten.

Zufrie­den­heit, Beschei­den­heit, klei­nes Glück klei­ner Leu­te in mei­nem Dorf. Wenn nur die Welt­la­ge nicht wäre, wie sie ist. Etwas siche­rer, ein wenig sta­bi­ler nur, das wäre schön. Aber sieh, all die Krie­ge. In Fern­ost, Korea, Indo­chi­na. Ost gegen West, West gegen Ost, kaum dass der Welt­krieg vor­über ist. Bom­ben zün­den, Atom­ver­su­che über­all, ob Pazi­fik, Neva­da, Saha­ra. Unru­hen über­all, Indi­en, Latein­ame­ri­ka, Afri­ka. Krie­ge welt­weit seit­dem. Befrei­ungs­krie­ge, Bru­der­krie­ge, Vernichtungskriege.

Frie­den, welch schö­nes Wort. In mei­nem Dorf geht es fried­lich zu, wird Koh­le geför­dert, Korn und Getrei­de geern­tet, wird flei­ßig malocht, beschei­den gelebt. Dorf­fest und erste Schüt­zen­fe­ste wie­der, dei­ne Mut­ter schiebt dich im Kin­der­wa­gen neben dem Umzug her. Weit­aus­grei­fen­de Schrit­te, sport­lich ist die jun­ge Frau, beim BDM war sie immer eine der Besten und ist immer noch ein wenig stolz dar­auf. Ver­lo­re­ne, ver­blen­de­te Gene­ra­ti­on, die nichts ande­res gelernt, nichts ande­res erfah­ren hat. Aber tur­nen, tan­zen, mar­schie­ren kann sie, das war ihr gan­zes jun­ges Leben.

Der Dorf­po­li­zist in abge­tra­ge­ner Uni­form, den Tscha­ko aus den Drei­ßi­gern, Vier­zi­gern auf dem kurz­ge­scho­re­nen Schä­del. Stei­gen sie man hübsch ab von ihrem Rad, jun­ge Frau, und schie­ben sie den klei­nen Ben­gel mal schön auf ihrem Gepäck­trä­ger da. Jawohl, Herr Wachtmeister.

Ein erster Urlaub steht an für das jun­ge Ehe­paar. Vater hat ziem­lich zuge­nom­men in letz­ter Zeit, das gute Essen, end­lich wie­der. Wir brau­chen Erho­lung, ein­mal raus aus dem Trott. Die klei­nen Geschwi­ster blei­ben bei den Groß­el­tern. Berch­tes­ga­den, Watz­mann, Königs­see. Ein neu­es Som­mer­kleid kau­fen. Steht mir, bin doch noch jung. Wan­der­stöcke dazu, gleich klei­ne Abzei­chen drauf­na­geln las­sen. Seht mal, da sind wir über­all gewe­sen. Schö­ne Ecken da unten, Aus­flugs­zie­le, Ber­ge, kla­re Seen, Salz­berg­werk, Hit­lers Berg­hof aber auch. Opa stirbt früh, Oma bald dar­auf. Eine Gene­ra­ti­on, noch aus dem vori­gen Jahr­hun­dert, die zwei Welt­krie­ge erlebt, durch­lit­ten hat, weni­ge Frie­dens­jah­re dazwi­schen, das war ihr Leben.

Und du gehst immer noch zur Schu­le, hörst zu viel Musik, wäh­rend die mei­sten gleich­alt­ri­gen Dorf­kin­der nach der Kon­fir­ma­ti­on arbei­ten müs­sen, eine Leh­re machen. Kraft­fahr­zeug­me­cha­ni­ker, Fri­sör, Werk­zeug­ma­cher, Schlos­ser, Ver­käu­fe­rin, was es so gibt. Groß raus aus dei­nem Dorf kommst du noch immer nicht.

Vater stirbt viel zu früh, noch kei­ne Fünf­zig. Zwan­zig Jah­re hat die jun­ge Bun­des­re­pu­blik ihn noch beglei­tet, dann ist es zu Ende für ihn. Dabei hat er den Hit­ler­krieg als jun­ger Sol­dat doch halb­wegs heil über­lebt. Oder war da mehr als nur sein schwa­ches Herz?

In den Sieb­zi­gern dann irgend­wann, irgend­wie doch halb­wegs erwach­sen wer­den, wie auch immer. Das musst du rela­ti­vie­ren, etwas erwach­se­ner gewor­den bist du viel­leicht. Voll­jäh­rig mit ein­und­zwan­zig, zum Bund soll­test du schon etwas frü­her. Da im Kaser­nen­flur hän­gen über­all die Schau­ta­feln, Sta­ti­sti­ken, anschau­li­che Bil­der. Zah­len­werk auch. Grob, schlicht, dürf­tig gepin­selt. Seht her, ihr Rekru­ten, wie bedroh­lich das alles ist. Hier die Streit­kräf­te des Ost­blocks, sound­so­vie­le Sol­da­ten, Pan­zer, Hau­bit­zen, Rake­ten, Bom­ben, Minen, Kampf­flug­zeu­ge und Kreu­zer. Alles fein geord­net nach Waf­fen­gat­tun­gen. Luft­waf­fe, Heer, Mari­ne. Sound­so­viel von dem und dem drü­ben im Ost­block. Dem gegen­über das Waf­fen­ar­se­nal des Westens. Gleich­ge­wicht des Schreckens, eine Welt in Waf­fen. Und immer mehr, wenn das mal gut geht? Unse­re ame­ri­ka­ni­schen Ver­bün­de­ten, wenn wir die nicht hätten.

Auch hier im Pott, gleich hin­ter mei­nem Gärt­chen, tut sich eine Men­ge. Wach­sen­der Wohl­stand, Ent­wick­lung, pro­spe­rie­ren­de Wirt­schaft, sat­te Zufrie­den­heit, was gestern war, ver­ges­sen. Das Dorf wächst, brei­tet sich aus. Wohn­raum für Flücht­lin­ge, gan­ze Sied­lun­gen, wo es gestern noch Fel­der gab. Es geht vor­an, sei guten Mutes, mach dir kei­ne Gedan­ken, Bur­sche. Für einen jun­gen Kerl wie dich gibt es doch Zukunft nur. Alte Nazis in neu­en Posi­tio­nen in der neu­en Repu­blik. In Stadt­ver­wal­tung, Schu­le, Lan­des- und Kom­mu­nal­po­li­tik, im Amts- und Land­ge­richt. Ziem­lich trü­be Aus­sich­ten, wenn sich da nicht lang­sam was ändert. Blick über den Zaun, die ande­ren Län­der, Auf­stän­de, Bür­ger­krie­ge, inter­na­tio­na­le Söld­ner­trup­pen. Und dann liest du, wie es wirk­lich war, mit den Cow­boys und India­nern, from­men Sied­lern und First Peo­p­le, die Über­le­ben­den auf Hun­ger­mär­schen in die Reser­va­te. Die befrei­ten schwar­zen Skla­ven, Ras­sen­wahn und Lynchjustiz.

Und im Ost­block erst, Unter­drückung, Unfrei­heit, wohin du schaust, Hun­ger auch, gan­ze Län­der, gan­ze Kon­ti­nen­te. Du hast es gut hier, dafür sorgt das Grund­ge­setz. Frei­heit und Gerech­tig­keit, ein siche­res Land, wenn die Welt­la­ge nicht …

Da drau­ßen ändert sich nicht viel, vie­les wird schlim­mer, ufert aus, greift um sich. Davon kriegst auch du hin­ter der Hecke in dei­nem Gärt­chen plötz­lich mehr mit. Bist bes­ser infor­miert, weil es dich inter­es­siert, berührt, nicht los­lässt. Napalm, die Ame­ri­ka­ner in Viet­nam, der per­si­sche Schah auf Staats­be­such, Schuss aus der Poli­zei­pi­sto­le, Ben­no Ohnes­org ist tot. Stu­den­ten gehen auf die Stra­ße, errich­ten Bar­ri­ka­den, pran­gern an. Jun­ge Leu­te sind plötz­lich laut, wei­sen hin, rüt­teln auf. Eine Repu­blik im Auf­bruch, end­lich ändert sich etwas.

Aber immer noch Nazis, alte, neue. Die Repu­blik ist sta­bil, bei den Par­tei­en weiß man, was man wählt, was sich beim näch­sten Mal womög­lich ändert. Die Repu­blik ist aus den engen, längst zu klei­nen Kin­der­schu­hen end­lich raus. Da for­mie­ren sich Ter­ro­ri­sten, ver­üben Anschlä­ge, mor­den, bedro­hen die Demo­kra­tie. Unser star­kes Grund­ge­setz. Der Staat ist nicht erpress­bar, wir reagie­ren, kämp­fen, weh­ren uns. Unru­hi­ge Zei­ten, der Bild­schirm lie­fert Bil­der von Bom­ben­at­ten­ta­ten und Ent­füh­run­gen. Steck­brie­fe in jeder Post­stel­le. Miss­trau­en wächst. Radi­ka­len­er­lass. Ein fried­li­ches Land? Not­stands­ge­set­ze. Wie geht es wei­ter, wo geht es hin?

Schon spät in der Nacht kommst du von einem Kon­zert. Absper­rung, Poli­zei­kon­trol­le an der Auto­bahn­auf­fahrt, an der Abfahrt noch ein­mal. Die Beam­ten tra­gen Maschi­nen­pi­sto­len. Ob es wie­der einen Über­fall gab? Dei­ne Hän­de legst du brav aufs Auto­dach. Bei­ne brei­ter, Kopf tie­fer run­ter! Waf­fen im Kof­fer­raum, eine Pisto­le im Hand­schuh­fach womög­lich? Du hast lan­ge Haa­re, Musik­freak, bist in gefähr­li­chem Alter. Sym­pa­thi­san­ten, vor allen bei Intel­lek­tu­el­len ver­mu­tet. Man ver­un­glimpft, schert über einen Kamm. Hilf­lo­se Poli­ti­ker. Staat in Gefahr. Schrift­stel­ler, Pin­scher, Schmeiß­flie­gen, mah­nen, ergrei­fen Par­tei, füh­ren das gro­ße Wort, sol­che sind alle­mal gefähr­lich. Das zieht sich durch die Jah­re, zwei­te, drit­te Gene­ra­ti­on, Auf­klä­rungs­ra­te eher gering.

Und Rüstung, immer mehr. Aller­be­ste Waf­fen, made in ger­ma­ny. Expor­tiert in aller Her­ren Län­der. U-Boo­te, was du willst. Da geht immer noch was, geht es immer wei­ter, ist kein Ende in Sicht. Wir wer­den bedroht, füh­len uns bedroht, dage­gen muss etwas zu machen sein. Unser Anse­hen über­all in der Welt. End­lich die Ver­läss­li­chen, Guten. Ent­wick­lungs­hil­fe, Ver­söh­nung, Ver­ständ­nis. Mit­ein­an­der, neben­ein­an­der fried­lich leben und leben las­sen, wenn es immer so ein­fach wäre. Wir sind stark, aber fried­lich, wir hal­ten uns raus, unter­stüt­zen, hel­fen, wo immer es geht. Wir haben einen guten Ruf, den gilt es zu verteidigen.

Da haben wir uns die Wie­der­ver­ei­ni­gung red­lich ver­dient. End­lich kei­ne zwei Staa­ten mehr auf deut­schem Boden, das Grund­ge­setz gilt über­all, steht über allem, so soll es sein. Blü­hen­de Län­der, brau­ne Hor­den auch. Gest­ri­ge, Eng­stir­ni­ge, Ver­bohr­te, sei ehr­lich, hat es doch immer gege­ben, wird es wei­ter­hin geben, immer und über­all. Erst recht, wenn du dein gan­zes Geld in Rüstung pumpst. Tie­risch teu­re Bri­ga­den nach Lett­land, wer soll es bezahlen?

Unse­re gebeu­tel­ten Kin­der und Kin­des­kin­der, denen wir ohne­hin wer­weiß­was hin­ter­las­sen. Schul­den, Löcher, über­all Löcher, da bleibt man­ches auf der Strecke, schlech­te Schu­len kön­nen längst nicht alles lei­sten, auf­fan­gen, wie­der­gut­ma­chen, gera­de­rücken. Schon gar nicht, wenn es für vie­le kei­ne ver­nünf­ti­ge Per­spek­ti­ve gibt. Das Grund­ge­setz kannst du dafür nicht ver­ant­wort­lich machen. Das Grund­ge­setz trägt an all­dem kein Fit­zel­chen Schuld.

Gesät­tigt, ver­wöhnt, ver­schla­fen, gleich­gül­tig waren wir, wenn du mich fragst. Und blei­ben wei­ter bequem, ver­stört, ver­blen­det, fern­ge­lenkt. Du da in dei­nem klei­nen Gärt­chen, ihr da hin­ter euren Pla­stik­hecken. Augen zu und durch. Noch gibt es auf­merk­sa­me, besorg­te, wache Leu­te in dei­nem Dorf, aber lei­der auch eine Rei­he ande­rer in die­sem Jubi­lä­ums­jahr. Gut, dass wir dich haben, Grund­ge­setz. Herz­li­chen Glück­wunsch also zum fünfundsiebzigsten.

Vom Erd­kli­ma, vom Hun­ger, von den gan­zen Krank­hei­ten und ande­ren Kri­sen, den Krie­gen die­ses Jubi­lä­ums­jah­res haben wir noch nicht gespro­chen. Den­noch, lie­bes Grund­ge­setz, mögen sich die näch­sten fünf­und­sieb­zig Jah­re posi­tiv ent­wickeln. Ich wün­sche es uns so sehr. Für dei­ne und für mei­ne Enkel. Herz­li­chen Glück­wunsch Grundgesetz.