Als ich am 24. Dezember 1947 in Düsseldorf zur Welt kam, war Günter Rexilius (»Meine achtzig Kriegsjahre«, Ossietzky 7/2023) bereits kurz vor seinem fünften Geburtstag. Damals gab es die DDR noch nicht, die er als »sozialistische Aufbruchstimmung, glückliche Kindheitsjahre, ein friedliches, für Kinder in jeder Hinsicht bereicherndes Leben« beschreibt, bis dann 1958, mit der Flucht nach Westdeutschland, »der Krieg ganz praktisch in mein Leben (trat)«.
Der 15jährige Günter spürt eine ihm »bis dahin unbekannte Empfindung«, die er »soziale Kälte« nennt. Ich dagegen, als damals 10jähriger Eingeborener des »Westens«, spürte, dass es für Nachkommen des Proletariats Erschwernisse gab bei der Erlangung höherer Bildung und dass diese Erschwernisse in den folgenden Jahren abgebaut wurden. In NRW kostete das Gymnasium 1958 noch Schulgeld. Also ging ich auf eine Realschule, für die die Schulgeldpflicht entfallen war, und nach deren Abschluss auf ein damals neu gegründetes Gymnasium in Aufbauform für Realschulabsolventen. Was ich für diesen Weg nicht brauchte, war eine spezielle Gesinnung.
Freilich kann man nicht behaupten, dass so ein Kinderleben im Westen frei von Erlebnissen des Krieges gewesen wäre. Wir spielten in Ruinen und Bombentrichtern. Wir lebten in Behelfswohnungen, zu denen man einen Stall umgebaut hatte, und beherbergten von Zeit zu Zeit darin auch noch die nach und nach der DDR entfliehenden Teile der Herkunftsfamilie meiner Mutter. Und wir hielten Verbindung »nach drüben«. Bis 1961 fanden regelmäßig Besuche unserer Verwandten aus der DDR und Gegenbesuche von uns in Magdeburg statt. Bei diesen Besuchen kam der Krieg uns näher: bei den Kontrollen im Interzonenzug. Bei den Gesprächen der Erwachsenen lernten wir Kinder, dass politische Witze oder Anzüglichkeiten gefährlich werden könnten. Und natürlich wussten wir um die Niederschlagung eines Streiks mit militärischer Gewalt am 17. Juni 1953 in Ostberlin, um die Blockkonfrontation und die Aufrüstung beiderseits der Elbe und das blutige Ende des Aufstandes in Ungarn 1956. Alle diese Ereignisse, später auch der Bau der Berliner Mauer 1961, die Invasion der Tschechoslowakei zur Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 wie der Vietnamkrieg und die ewigen Berichte über Atomwaffenversuche, ergaben für Kinder und Jugendliche im Westen das Gefühl einer latenten Bedrohung eines real existierenden Friedens.
Als Kind des Westens spürte ich eine Zunahme dieses Bedrohungsgefühls bei Kontakten in den Osten. In meiner Heimat fühlte ich »das in jeder Hinsicht bereichernde Leben«, das Kinder führen können, die nicht direkt Gewalt, Hunger und drohenden Tod erfahren müssen.
1966, als der 23jährige Psychologiestudent Günter Rexilius »zum akademischen Mitglied der gesellschaftlichen Klasse (wurde), deren Aufgabe darin besteht, dieses kriegerische Versteckspiel (der Verschleierung des Krieges der da oben gegen die da unten) zu organisieren«, machte ich mein Abitur. Zwar durfte ich als damals »Minderjähriger« noch nicht wählen, aber die BRD holte mich als Wehrpflichtigen in ihre Armee. Mein Vater (Jg. 1923, Kriegsteilnehmer, Metallarbeiter, SPD- und IG-Metall-Mitglied) verbot mir die Kriegsdienstverweigerung. Meine begründeten Auffassungen, dass ein Krieg in Mitteleuropa auf deutschem Boden für alle Parteien absolut aussichtslos wäre und dass die Bundeswehr als Teil der Nato Instrument einer aggressiven Rollback-Strategie sei, wurden in der Grundausbildung so gründlich bestätigt, dass ich mich über das väterliche Verbot hinwegsetzte und aus der Bundeswehr heraus verweigerte. Das war zwar nicht ganz einfach, aber anders als in der DDR immerhin möglich. Es folgte der zivile Ersatzdienst und später das Medizinstudium, trotz der Verweigerung ohne Einschränkungen, Gesinnungsprüfung oder Parteimitgliedschaft.
In die Zeit des Studiums fallen auch meine Versuche, Gefallen am real existierenden Sozialismus zu finden. Wo schon aus pazifistischer Sichtweise die hochgerüsteten Warschauer Pakt Staaten, einschließlich der DDR, als Sympathieträger ausfielen, war die preußisch gefärbte NVA so unsympathisch wie die Wehrmachtstradition der Bundeswehr. Im gesellschaftlichen Leben war mir die braun-rote Bonzokratie nicht lieber als das braun-schwarze Spießertum der BRD.
Aber der Vietnamkrieg, die Gewalt in Mittel- und Südamerika, die Befreiungsbewegungen im kolonisierten Afrika und die zunehmende Erkenntnis, dass unser Wohlstand nicht nur ungerecht verteilt ist, sondern auch dem kolonial unterdrückten Süden abgepresst wird, verlangten nach Änderungen. So mündeten die antiimperialistisch-internationalistischen Demonstrationen in marxistische Schulungszirkel, in die Versuche, sich gegen das bestehende Parteienspektrum für soziale Umbrüche zu organisieren. Mit dem Beispiel der chinesischen Kulturrevolution sollte ein Neubeginn einer kommunistischen Bewegung zur Umgestaltung der Gesellschaft versucht werden. Dabei kam der Pazifismus schnell unter die Räder. Der Versuch, die Geschichte der Komintern ein zweites Mal zum Leben zu erwecken, endete als Farce von rivalisierenden, dogmatischen K-Gruppen in der Konkurrenz mit der DDR-treuen DKP und der blutigen Variante der Desperados von der RAF. Die Staatsgewalt ließ sich nicht lumpen und langte voll zu. Schon die Wiederbewaffnung war (im Westen!) nur gegen erheblichen Widerstand der Bevölkerung und mit Taschenspielertricks der Adenauer-Regierung möglich gewesen. Jetzt wurde die Protestbewegung der Jugend, besonders der akademischen, abgestraft. Die Anti-Atomkraft-Bewegung wurde mit der gleichen Polizeigewalt und juristischer Verfolgung bekämpft wie die Friedensbewegung.
Die Berufsverbote, die »wie eine explodierende Granate in meine (Rexilius›) Lebensplanung eindrang«(en), trafen die Akademiker. Auch ich landete nach meinem Examen auf einer schwarzen Liste für angestellte Ärzte in der näheren Umgebung. Aber die Verbote waren weder unerwartbar noch wirklich lebensbedrohlich, und sie hatten keine allzu lange Halbwertszeit. Vor allem aber wirkten sie nicht letal auf die sich neu organisierende soziale und ökologische Bewegung. Die neue Opposition erlaubte mir eine rasche Rückbesinnung auf pazifistische Grundüberzeugungen und eine Mitgliedschaft bei Grünen (bis zum Kosovo-Krieg) und der IPPNW.
So wahr es ist, dass diese Gesellschaft nach innen und außen auf Ausbeutung aufgebaut ist, so aberwitzig ist es doch auch, als Schlussfolgerung den Unterschied von Krieg und Frieden verbal einzuebnen. Die Unfriedlichkeit der Gesellschaft kann nicht gleichgesetzt werden mit Bombenangriffen, auch wenn sie solche zum Ergebnis haben kann. Ich bin sehr froh darüber, dass ich seit 1947 von Kriegshandlungen verschont geblieben bin, und will alle friedlichen Mittel nutzen, damit das so bleibt. Dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, war der zutreffend im Kommunistischen Manifest formulierte Befund. Um diese Klassenkämpfe zu beenden, müssen die Klassen abgeschafft werden. Die Wege der Sowjetunion, der DDR, aber auch Chinas haben sich als Irrwege erwiesen. Die Wege des »gerechten Krieges« und der »gewaltsamen Revolution« führen immer nur zu neuen Kriegen und zur veränderten Gewaltherrschaft.
Der Krieg in der Ukraine ist, unabhängig von seiner Vorgeschichte, ein russisches Verbrechen. Die Vorgeschichte, die den Aufbau von Spannungen und Konflikten im Wechselspiel zwischen Russland und der Nato erhellt, zeigt, dass dieser Krieg keinesfalls unvermeidlich war. Kriege brechen nicht aus, sondern sie werden begonnen und müssen auch beendet werden. Wirtschaftliche Interessen, neokoloniale Ausbeutung, ethnische Konflikte – alles geschenkt. Nichts davon ist ewig, aber nichts davon wird auch durch Krieg beseitigt. Die Unterscheidung von einem »permanenten Beutezug«, der sich »kolonialistisch nach Osten auszubreiten« versucht, gegen den »Schutz eines eigenen oligarchengestützten Systems der gesellschaftlichen Ungleichheit«, das Putin gegen »die Hoffnungen der ökonomischen und politischen Freibeuter auf eine schnelle und profitable Eroberung« »verriegelt« hat, verwischt die Gleichartigkeit der Systeme, die sich in Ost und West etabliert haben, und trägt so weder zur Erhellung der Kriegsgründe noch der Wege zum Frieden bei.
Der Krieg ist ein Verbrechen und im Krieg geschehen immer Verbrechen. Der Konjunktiv »sollte es Kriegsverbrechen gegeben haben« führt in die Irre einer Relativierung von Verbrechen, weil sie nicht international gleichbehandelt werden. Um das zu erreichen, müssen die Zivilgesellschaften aller Länder noch viele dicke Bretter bohren. Von der Stärkung der UN über den Atomwaffenverbotsvertrag und die Anerkennung der internationalen Gerichtsbarkeit bis hin zu Waffenstillstand und Friedensverhandlungen für die und mit der Ukraine ist das ein langer Weg.
In dem Glashaus sitzen nicht nur Nordamerikaner und Europäer, sondern auch Russen. Die Trümmer dieses Glashauses würden die ganze Welt unter sich begraben. Deshalb werde ich mich auch mit 75 Jahren weiter für Frieden einsetzen und eine Wirklichkeit wertschätzen, in der keine Raketen einschlagen.