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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mein Malle: Reiseimpressionen

Tag 1: Ich bin auf Mal­lor­ca. Habe ich geahnt, dass die­ser Satz ein­mal klin­gen wür­de wie die Selbst­be­zich­ti­gung des Ange­klag­ten in einem sta­li­ni­sti­schen Schau­pro­zess? Ich bin abtrünnig.

Neben­bei, zur Beru­hi­gung: Ich schrei­be kei­nen Rei­se­blog wie so vie­le ande­re. Ich reflek­tie­re. Auf dem Fahr­rad beim (in Spa­ni­en der­zeit ver­bo­te­nen) Nachtra­deln. Und am mit­ge­führ­ten Lap­top in mei­nem Zim­mer­chen mit Blick auf den Hafen von Pal­ma. Denn da bin ich: in Pal­ma. In einer Stadt. »Mal­lor­ca« mit sei­nen Asso­zia­tio­nen von Bier­ei­mer über Renn­rad-Stram­pel­an­zug bis zu Fin­ca-fin­gier­tem Dau­er­son­nen­brand ist von mir noch genau­so weit ent­fernt wie in Frankfurt.

Ich schrei­be auch nicht viel, ver­spro­chen. Dazu bin ich nicht hier, dass ich mache, was ich immer mache, schrei­ben. Ich woll­te, muss­te weg aus dem Leben, das ich füh­re, und wenn nur für eine Woche. Her­ge­flo­gen mit lau­ter frisch Gete­ste­ten. In eine Stadt mit Sie­ben-Tage-Inzi­denz (letz­te Zahl vor dem Abflug) sieb­zehn! Sie­ben- bis zehn­mal weni­ger als da, wo ich lebe. Was sich lei­der ändern dürf­te, und zwar nicht durch die Tou­ri­sten. Alle Drau­ßen­lo­ka­le (heißt auf Mal­lor­ca: alle Loka­le) haben geöff­net. Weil sie um 17 Uhr wie­der schlie­ßen müs­sen und die mei­sten Mal­lor­ci­ner da noch arbei­ten, drän­gelt sich alles in den kur­zen Pau­sen­zei­ten und am noch kür­ze­ren Fei­er­abend in die­sel­ben Fress­lä­den. Kei­ne Mas­ken beim Essen führt mitt­ler­wei­le zu wenig Mas­ken in jeder Art von Gedrän­ge: Schlech­te Ange­wohn­hei­ten wer­den einem ange­wöhnt.

Car­men, eine Ecua­do­ria­ne­rin, die in Pal­ma lebt, erzählt, wie sie seit ihrer Ein­wan­de­rung jede Woche von irgend­wem kon­trol­liert wur­de, weil sie Aus­län­de­rin ist und so aus­sieht. Heu­te kon­trol­liert sie jede Woche irgend­wer wegen Coro­na. Es ist das­sel­be für sie. Ich fra­ge mich: Wel­ches Ver­trau­en haben Regie­run­gen vor Coro­na bei den Bürger*innen auf­ge­baut? Es wäre das Kapi­tal, mit dem sie heu­te arbei­ten könnten.

Der Flug war übri­gens über­wäl­ti­gend. Ich flie­ge nicht oft; hät­te ein Zug mich irgend­wo­hin gebracht, von wo ich als Rück­keh­rer nicht in Qua­ran­tä­ne gemusst hät­te, wäre Mal­lor­ca in mei­nem Kopf aus­ge­schie­den. Aber nun, ich bin geflo­gen. Die Son­nen­sei­te der Wol­ken sehen heißt lachen über den dunk­len Ernst, mit dem sie auf uns Mil­li­ar­den­füß­ler her­ab­blicken. Und Pal­men sehen. Und Pini­en. Die Natur hat wie­der eine Kon­zen­tra­ti­on ober­halb von gefällig.

Tag 2: Das Meer war­tet zehn Minu­ten auf mich, wenn ich das Haus ver­las­se. Dann liegt es zu mei­nen Füßen, begrenzt von der Steil­kü­ste hin­ter Are­nal auf der einen, von den Aus­läu­fern des Tra­m­un­ta­na-Gebir­ges hin­ter Cala Major auf der ande­ren Sei­te. Dazwi­schen ist sei­ne Offen­heit ent­waff­nend. Einen Tag hat es gebraucht, um mei­nen Atem­weg (es gibt nur einen, der Plu­ral ist irre­füh­rend) voll­stän­dig frei­zu­ma­chen. Auch des­we­gen bin ich hier. Gesün­der nach Hau­se zu kom­men, ist ein Teil der Rech­nung, deren Gegen­sei­te, das Rei­se­ri­si­ko, mir in Deutsch­land als die Gesamt­rech­nung ver­kauft wird.

Am Vor­mit­tag war ich in der Kathe­dra­le. Die Oster­mes­se ging zwei Stun­den. Ein veri­ta­bler Chor sang, durch Mas­ken hin­durch, wie der Video­screen vor mei­ner Kir­chen­bank mir ver­si­cher­te. Das Haus war voll, aber es ist groß. Und gotisch. Lässt den Luft­raum über den Aus­at­men­den gegen unend­lich gehen. Nach allen vier Sei­ten hat­te ich zwei Meter Abstand von jeder und jedem. Was ich erlebt habe, fin­det kei­ne pas­sen­den Wor­te in mir. Eine Freu­de kennst du nicht, Jesus: dich anzu­be­ten in einem Ritus, der die Innen­ma­ße from­mer Men­schen hat, woher auch immer. Wer wäre ich in die­sem Moment, wenn ich das nicht erlebt hätte?

Einen Ver­gleich für das Erleb­nis lie­fert mir noch der Heim­weg. Die Oran­gen blü­hen. In Deutsch­land auch? Ich sit­ze in einer Anla­ge unter vier­zig Oran­gen­bäu­men. Sie tra­gen und blü­hen gleich­zei­tig. Oran­gen mag ich, aber so ehr­lich bin ich auch: Im Car­re­four um die Ecke ließ ich sie lie­gen, nicht nur, weil der Fünf-Kilo-Sack (für 2,50 Euro) der klein­ster­hält­li­che war. Son­dern weil mich ärger­te, dass es in die­sem Lebens­mit­tel­han­gar nicht einen ein­zi­gen Apfel zu kau­fen gab. Aber die Blü­te erle­be ich nur, wenn ich um die­se Jah­res­zeit Deutsch­land ver­las­se. Der Duft der Oran­gen­blü­te ist der Got­tes­be­weis, den mei­ne mäke­li­ge Nase vom ersten Zug an, den sie davon nahm (vor vier Jah­ren erst, in Anda­lu­si­en), wider­spruchs­los aner­kannt hat.

Tag 3: Eine Stun­de mit dem Bus nach And­ratx, das geht, dach­te ich, als ich zwei Minu­ten vor der Abfahrt des Bus­ses mit zwei ande­ren vor der Fah­rer­tür stand. Dann kamen vier­zig Student*innen(?), stie­gen mit ein und schrien sich eine Stun­de lang hei­ser. Ich hat­te gele­sen, auf Mal­lor­ca sei­en Unter­hal­tun­gen und Tele­fon­ge­sprä­che in Bus­sen nicht erwünscht. Davon wuss­te hier niemand.

Ich stieg auf den zweit­klein­sten Hügel der Bucht von And­ratx und sah mir alles von oben an. Das Auf­stei­gen in aus­ge­trock­ne­ten Bach­bet­ten emp­feh­le ich gegen Ischi­as­be­schwer­den. Die hat­te ich mir kurz vor der Abrei­se gefan­gen, jetzt trat ich sie mit jedem Schritt, jeder pas­sen­den Gewichts­ver­la­ge­rung aus dem Unter­bau raus.

Tag 4: Nach­mit­tags drei Stun­den geschla­fen. Dann bei löche­ri­gem Stream Cham­pi­ons League geguckt. Die Tele­kom gönnt mir das im Aus­land nur wider­wil­lig, ich muss mei­nen Per­so­nal­aus­weis bereit­hal­ten, mei­nen deut­schen Wohn­sitz nach­wei­sen. Vor­her mich eini­ge Stun­den müde gefah­ren mit einem Leih­fahr­rad. Nach­dem ich damit den ersten Weg zum Miró-Muse­um nach Cala Major gemacht hat­te, war der Schlüs­sel für das Fahr­rad­schloss weg. Ich fuhr zurück in der Hoff­nung, das Ner­ven auf­rei­ben­de Aus­fül­len des Leih­ver­trags bei Anhö­rung ein­wei­sen­der Wor­te des Ver­lei­hers hät­ten dazu geführt, dass ich den Schlüs­sel auf dem Tre­sen ver­ges­sen hät­te. Fahr­rad­ket­te! Nix wars mit der Hoff­nung, mein Auf­merk­sam­keits­ver­sa­gen auf ande­re Per­so­nen oder Umstän­de schie­ben zu kön­nen. Der Mann gab mir ein Schloss, zu dem der Ersatz­schlüs­sel noch exi­stier­te – und einen Klaps auf den Ober­arm für mei­ne Zer­knir­schung. Wie mir das gefehlt hat! Die lächeln­den Augen, an denen kei­ne Mas­ke einen Zwei­fel weckt. Und die klei­ne kör­per­li­che Geste der Aufmunterung.

Nach­trag: Die Muse­en hier waren das letz­te Jahr, außer an Mon­ta­gen, kei­nen Tag geschlos­sen. War­um auch. Vor den kos­mi­schen Schrift­zei­chen des spä­ten Joan Miró ste­hen außer mir fünf Per­so­nen. In einer Hal­le so groß wie ein Impfzentrum.

Tag 5: Man muss frei­lich die rich­ti­gen Bücher dabei­ha­ben. Früh gekauft und nie gele­sen hat­te ich Antó­nio Lobo Antu­nes‘ Roman »Die Rück­kehr der Kara­vel­len«. Habe ich jetzt nach­ge­holt. Passt zu dem Buch, das iro­nisch spä­te Ent­decken gro­ßer Ent­deckun­gen. L. A. erzählt von den ibe­ri­schen Explo­ra­to­res und Con­qui­sta­do­res, die nach fünf­hun­dert Jah­ren Schei­tern in das Por­tu­gal einer ande­ren tran­si­ción zurück­keh­ren: das nel­ken­re­vo­lu­tio­nä­re der Sieb­zi­ger. Was da geschei­tert war auf gan­zer welt­hi­sto­ri­scher Linie, muss ich den­ken, hat Deutsch­land nie ver­sucht, bis es zu spät war und ein Jahr­tau­send­mas­sa­ker aus dem Ver­such wer­den muss­te, es nach­zu­ho­len. Deutsch­land hat nie etwas ent­deckt vor dem Tuber­kel­ba­zil­lus und nie etwas erfun­den vor dem Kunst­dün­ger. Was kei­ne schlech­ten Lei­stun­gen sind, wenn man sie rich­tig anwen­det und ihre Gren­zen mit­denkt. Genau das ist das Pro­blem des Erfin­dens und Ent­deckens: Gren­zen sind angeb­lich nur, was ich zurück­las­se, nie, was mich anschlie­ßend wie­der kon­fron­tiert. Nach neue­rer sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Ter­mi­no­lo­gie ist das der impe­ria­le Lebens­stil.

Die ibe­ri­schen Völ­ker haben vor fünf­hun­dert Jah­ren, mit dem ersten Tag ihres Tri­umphs, ange­fan­gen zu ver­lie­ren. Vier­hun­dert Jah­re Vor­sprung vor Kai­ser Wil­helms »Platz-an-der-Sonne«-Strandkolonie. Unter ande­rem das macht die läs­si­ge Über­le­gen­heit der spa­nisch- und por­tu­gie­sisch-spra­chi­gen Lite­ra­tur aus. Denn L. A. schreibt alles, nur kei­ne Sozio­lo­gie­kol­legs. Das ist das pral­le Leben: wil­de Träu­me und das lang­sa­me Auf­wa­chen aus ihnen. Das sind der Machis­mo, die Gau­ne­rei, die Kolo­ni­sie­rung der Frau­en anstel­le der abspen­sti­gen Län­der, das Glücks­spiel mit dem Geld, der Gesund­heit, den unver­sieg­li­chen Tra­di­ti­ons­vor­rä­ten. Mit nichts ande­rem haben die Erobe­run­gen begon­nen. Auf jene Din­ge redu­ziert sich im letz­ten Akt ihre Tra­gö­die, als Satyrspiel.

Tag 6: Bar­ba­ra, eine zwei­und­vier­zig­jäh­ri­ge Tou­ris­mus-Nochange­stell­te, erzählt mir eine Buch­ge­schich­te von hier. Sie woll­te im Car­re­four ein Buch kau­fen, also mit­neh­men. Das ging nicht, erfuhr sie. Sie müs­se den Car­re­four anru­fen und das Buch bestel­len. Sie rief die Num­mer, hör­te das Frei­zei­chen, drück­te die Wahl­wie­der­ho­lung. Nie­mand erreichbar.

Bar­ba­ra guckt ein­fach wei­ter Net­flix. War­um hat man das Buch – das hygie­nisch­ste und kon­tak­tärm­ste Ver­gnü­gen, das je erfun­den wur­de – nicht vom ersten Tag der Pan­de­mie an regie­rungs­amt­lich geför­dert? Die Fra­ge ist ernst gemeint und rich­tet sich an Frau Mer­kel und Herrn Bouf­fier, mei­ne hei­mi­schen Regie­run­gen. Eine Ant­wort wer­de ich genau­so wenig bekom­men wie Bar­ba­ra auf ihre Fra­ge nach einem Buch als Abwechs­lung zu Netflix.

Also gebe ich die Ant­wort selbst: Weil Regie­run­gen die Beleuch­tung spa­ren sol­len für die wich­ti­gen Seg­men­te des all­ge­mei­nen Super­markts. Sie haben den Haus­mei­ster­job in der Markt­hal­le. Der Oster­lock­down – Mer­kels beste Idee seit fünf Jah­ren, dafür wäre ich not­falls zu Hau­se geblie­ben – wur­de abge­sagt, weil die Wirt­schaft die bes­se­ren Rechts­an­wäl­te hat. Etwas för­dern, das kei­ne Akti­en emit­tiert, wie das Buch, nur weil es mensch­lich ist, ergibt kei­nen Sinn für Mer­kel. Es hie­ße auch, frem­den Wesen zu ver­trau­en, die man in Inter­views zwar »die Men­schen« nennt, über deren Bedürf­nis­se man aber sou­ve­rän vor sich hin rät­selt wie Eltern vor dem Affen­kä­fig, wenn die Kin­der eine Fra­ge haben.

Kul­tur oder Car­re­four? Wir müs­sen uns ent­schei­den, was wir sein wol­len. Die­se Fra­ge geht alle an und sie geht vor. Über Haus­mei­ster­jobs und wer die machen soll, kann man sich noch im Sep­tem­ber unter­hal­ten. Hier ist mein Pro­blem mit Ange­la Mer­kels Hass­bot­schaf­ten gegen Mal­lor­ca: Sie hört »Mal­lor­ca«, und der kom­plet­te Film läuft ab: alle Vor­ur­tei­le gegen Men­schen, die sich gehen las­sen und denen alles um sie rum egal ist. Die also das machen, was die Regie­run­gen ihren Bür­gern unab­läs­sig ein­häm­mern. Jeder gegen jeden als Über­set­zung von: alles immer denselben.

Komisch: Ich habe hier vie­le Deut­sche beob­ach­tet, belauscht, stu­diert – mehr als ken­nen­ge­lernt, das soll man ja nur ein­ge­schränkt tun. Fast alle agier­ten sie vor­sich­tig, ver­ant­wor­tungs­voll und soli­da­risch. Mein Fazit: Die Regie­rung hat ver­sagt. Die Unter­ta­nen ver­hal­ten sich wie Men­schen. Am Ende fan­gen sie noch an zu lesen (ich träume).

 

Anmer­kung der Redak­ti­on: Wer das kom­plet­te Rei­se­ta­ge­buch von Ewart Reder lesen möch­te, sei auf die Sei­te https://liternatur.net/#meinmalle ver­wie­sen. Im Juni erscheint Rede­rs neue­stes Buch: Die hin­te­ren Kapi­tel der Berüh­rung. Gedich­te, Pop-Ver­lag Lud­wigs­burg, ca. 200 Sei­ten, 18,50 .