Tag 1: Ich bin auf Mallorca. Habe ich geahnt, dass dieser Satz einmal klingen würde wie die Selbstbezichtigung des Angeklagten in einem stalinistischen Schauprozess? Ich bin abtrünnig.
Nebenbei, zur Beruhigung: Ich schreibe keinen Reiseblog wie so viele andere. Ich reflektiere. Auf dem Fahrrad beim (in Spanien derzeit verbotenen) Nachtradeln. Und am mitgeführten Laptop in meinem Zimmerchen mit Blick auf den Hafen von Palma. Denn da bin ich: in Palma. In einer Stadt. »Mallorca« mit seinen Assoziationen von Biereimer über Rennrad-Strampelanzug bis zu Finca-fingiertem Dauersonnenbrand ist von mir noch genauso weit entfernt wie in Frankfurt.
Ich schreibe auch nicht viel, versprochen. Dazu bin ich nicht hier, dass ich mache, was ich immer mache, schreiben. Ich wollte, musste weg aus dem Leben, das ich führe, und wenn nur für eine Woche. Hergeflogen mit lauter frisch Getesteten. In eine Stadt mit Sieben-Tage-Inzidenz (letzte Zahl vor dem Abflug) siebzehn! Sieben- bis zehnmal weniger als da, wo ich lebe. Was sich leider ändern dürfte, und zwar nicht durch die Touristen. Alle Draußenlokale (heißt auf Mallorca: alle Lokale) haben geöffnet. Weil sie um 17 Uhr wieder schließen müssen und die meisten Mallorciner da noch arbeiten, drängelt sich alles in den kurzen Pausenzeiten und am noch kürzeren Feierabend in dieselben Fressläden. Keine Masken beim Essen führt mittlerweile zu wenig Masken in jeder Art von Gedränge: Schlechte Angewohnheiten werden einem angewöhnt.
Carmen, eine Ecuadorianerin, die in Palma lebt, erzählt, wie sie seit ihrer Einwanderung jede Woche von irgendwem kontrolliert wurde, weil sie Ausländerin ist und so aussieht. Heute kontrolliert sie jede Woche irgendwer wegen Corona. Es ist dasselbe für sie. Ich frage mich: Welches Vertrauen haben Regierungen vor Corona bei den Bürger*innen aufgebaut? Es wäre das Kapital, mit dem sie heute arbeiten könnten.
Der Flug war übrigens überwältigend. Ich fliege nicht oft; hätte ein Zug mich irgendwohin gebracht, von wo ich als Rückkehrer nicht in Quarantäne gemusst hätte, wäre Mallorca in meinem Kopf ausgeschieden. Aber nun, ich bin geflogen. Die Sonnenseite der Wolken sehen heißt lachen über den dunklen Ernst, mit dem sie auf uns Milliardenfüßler herabblicken. Und Palmen sehen. Und Pinien. Die Natur hat wieder eine Konzentration oberhalb von gefällig.
Tag 2: Das Meer wartet zehn Minuten auf mich, wenn ich das Haus verlasse. Dann liegt es zu meinen Füßen, begrenzt von der Steilküste hinter Arenal auf der einen, von den Ausläufern des Tramuntana-Gebirges hinter Cala Major auf der anderen Seite. Dazwischen ist seine Offenheit entwaffnend. Einen Tag hat es gebraucht, um meinen Atemweg (es gibt nur einen, der Plural ist irreführend) vollständig freizumachen. Auch deswegen bin ich hier. Gesünder nach Hause zu kommen, ist ein Teil der Rechnung, deren Gegenseite, das Reiserisiko, mir in Deutschland als die Gesamtrechnung verkauft wird.
Am Vormittag war ich in der Kathedrale. Die Ostermesse ging zwei Stunden. Ein veritabler Chor sang, durch Masken hindurch, wie der Videoscreen vor meiner Kirchenbank mir versicherte. Das Haus war voll, aber es ist groß. Und gotisch. Lässt den Luftraum über den Ausatmenden gegen unendlich gehen. Nach allen vier Seiten hatte ich zwei Meter Abstand von jeder und jedem. Was ich erlebt habe, findet keine passenden Worte in mir. Eine Freude kennst du nicht, Jesus: dich anzubeten in einem Ritus, der die Innenmaße frommer Menschen hat, woher auch immer. Wer wäre ich in diesem Moment, wenn ich das nicht erlebt hätte?
Einen Vergleich für das Erlebnis liefert mir noch der Heimweg. Die Orangen blühen. In Deutschland auch? Ich sitze in einer Anlage unter vierzig Orangenbäumen. Sie tragen und blühen gleichzeitig. Orangen mag ich, aber so ehrlich bin ich auch: Im Carrefour um die Ecke ließ ich sie liegen, nicht nur, weil der Fünf-Kilo-Sack (für 2,50 Euro) der kleinsterhältliche war. Sondern weil mich ärgerte, dass es in diesem Lebensmittelhangar nicht einen einzigen Apfel zu kaufen gab. Aber die Blüte erlebe ich nur, wenn ich um diese Jahreszeit Deutschland verlasse. Der Duft der Orangenblüte ist der Gottesbeweis, den meine mäkelige Nase vom ersten Zug an, den sie davon nahm (vor vier Jahren erst, in Andalusien), widerspruchslos anerkannt hat.
Tag 3: Eine Stunde mit dem Bus nach Andratx, das geht, dachte ich, als ich zwei Minuten vor der Abfahrt des Busses mit zwei anderen vor der Fahrertür stand. Dann kamen vierzig Student*innen(?), stiegen mit ein und schrien sich eine Stunde lang heiser. Ich hatte gelesen, auf Mallorca seien Unterhaltungen und Telefongespräche in Bussen nicht erwünscht. Davon wusste hier niemand.
Ich stieg auf den zweitkleinsten Hügel der Bucht von Andratx und sah mir alles von oben an. Das Aufsteigen in ausgetrockneten Bachbetten empfehle ich gegen Ischiasbeschwerden. Die hatte ich mir kurz vor der Abreise gefangen, jetzt trat ich sie mit jedem Schritt, jeder passenden Gewichtsverlagerung aus dem Unterbau raus.
Tag 4: Nachmittags drei Stunden geschlafen. Dann bei löcherigem Stream Champions League geguckt. Die Telekom gönnt mir das im Ausland nur widerwillig, ich muss meinen Personalausweis bereithalten, meinen deutschen Wohnsitz nachweisen. Vorher mich einige Stunden müde gefahren mit einem Leihfahrrad. Nachdem ich damit den ersten Weg zum Miró-Museum nach Cala Major gemacht hatte, war der Schlüssel für das Fahrradschloss weg. Ich fuhr zurück in der Hoffnung, das Nerven aufreibende Ausfüllen des Leihvertrags bei Anhörung einweisender Worte des Verleihers hätten dazu geführt, dass ich den Schlüssel auf dem Tresen vergessen hätte. Fahrradkette! Nix wars mit der Hoffnung, mein Aufmerksamkeitsversagen auf andere Personen oder Umstände schieben zu können. Der Mann gab mir ein Schloss, zu dem der Ersatzschlüssel noch existierte – und einen Klaps auf den Oberarm für meine Zerknirschung. Wie mir das gefehlt hat! Die lächelnden Augen, an denen keine Maske einen Zweifel weckt. Und die kleine körperliche Geste der Aufmunterung.
Nachtrag: Die Museen hier waren das letzte Jahr, außer an Montagen, keinen Tag geschlossen. Warum auch. Vor den kosmischen Schriftzeichen des späten Joan Miró stehen außer mir fünf Personen. In einer Halle so groß wie ein Impfzentrum.
Tag 5: Man muss freilich die richtigen Bücher dabeihaben. Früh gekauft und nie gelesen hatte ich António Lobo Antunes‘ Roman »Die Rückkehr der Karavellen«. Habe ich jetzt nachgeholt. Passt zu dem Buch, das ironisch späte Entdecken großer Entdeckungen. L. A. erzählt von den iberischen Exploratores und Conquistadores, die nach fünfhundert Jahren Scheitern in das Portugal einer anderen transición zurückkehren: das nelkenrevolutionäre der Siebziger. Was da gescheitert war auf ganzer welthistorischer Linie, muss ich denken, hat Deutschland nie versucht, bis es zu spät war und ein Jahrtausendmassaker aus dem Versuch werden musste, es nachzuholen. Deutschland hat nie etwas entdeckt vor dem Tuberkelbazillus und nie etwas erfunden vor dem Kunstdünger. Was keine schlechten Leistungen sind, wenn man sie richtig anwendet und ihre Grenzen mitdenkt. Genau das ist das Problem des Erfindens und Entdeckens: Grenzen sind angeblich nur, was ich zurücklasse, nie, was mich anschließend wieder konfrontiert. Nach neuerer sozialwissenschaftlicher Terminologie ist das der imperiale Lebensstil.
Die iberischen Völker haben vor fünfhundert Jahren, mit dem ersten Tag ihres Triumphs, angefangen zu verlieren. Vierhundert Jahre Vorsprung vor Kaiser Wilhelms »Platz-an-der-Sonne«-Strandkolonie. Unter anderem das macht die lässige Überlegenheit der spanisch- und portugiesisch-sprachigen Literatur aus. Denn L. A. schreibt alles, nur keine Soziologiekollegs. Das ist das pralle Leben: wilde Träume und das langsame Aufwachen aus ihnen. Das sind der Machismo, die Gaunerei, die Kolonisierung der Frauen anstelle der abspenstigen Länder, das Glücksspiel mit dem Geld, der Gesundheit, den unversieglichen Traditionsvorräten. Mit nichts anderem haben die Eroberungen begonnen. Auf jene Dinge reduziert sich im letzten Akt ihre Tragödie, als Satyrspiel.
Tag 6: Barbara, eine zweiundvierzigjährige Tourismus-Nochangestellte, erzählt mir eine Buchgeschichte von hier. Sie wollte im Carrefour ein Buch kaufen, also mitnehmen. Das ging nicht, erfuhr sie. Sie müsse den Carrefour anrufen und das Buch bestellen. Sie rief die Nummer, hörte das Freizeichen, drückte die Wahlwiederholung. Niemand erreichbar.
Barbara guckt einfach weiter Netflix. Warum hat man das Buch – das hygienischste und kontaktärmste Vergnügen, das je erfunden wurde – nicht vom ersten Tag der Pandemie an regierungsamtlich gefördert? Die Frage ist ernst gemeint und richtet sich an Frau Merkel und Herrn Bouffier, meine heimischen Regierungen. Eine Antwort werde ich genauso wenig bekommen wie Barbara auf ihre Frage nach einem Buch als Abwechslung zu Netflix.
Also gebe ich die Antwort selbst: Weil Regierungen die Beleuchtung sparen sollen für die wichtigen Segmente des allgemeinen Supermarkts. Sie haben den Hausmeisterjob in der Markthalle. Der Osterlockdown – Merkels beste Idee seit fünf Jahren, dafür wäre ich notfalls zu Hause geblieben – wurde abgesagt, weil die Wirtschaft die besseren Rechtsanwälte hat. Etwas fördern, das keine Aktien emittiert, wie das Buch, nur weil es menschlich ist, ergibt keinen Sinn für Merkel. Es hieße auch, fremden Wesen zu vertrauen, die man in Interviews zwar »die Menschen« nennt, über deren Bedürfnisse man aber souverän vor sich hin rätselt wie Eltern vor dem Affenkäfig, wenn die Kinder eine Frage haben.
Kultur oder Carrefour? Wir müssen uns entscheiden, was wir sein wollen. Diese Frage geht alle an und sie geht vor. Über Hausmeisterjobs und wer die machen soll, kann man sich noch im September unterhalten. Hier ist mein Problem mit Angela Merkels Hassbotschaften gegen Mallorca: Sie hört »Mallorca«, und der komplette Film läuft ab: alle Vorurteile gegen Menschen, die sich gehen lassen und denen alles um sie rum egal ist. Die also das machen, was die Regierungen ihren Bürgern unablässig einhämmern. Jeder gegen jeden als Übersetzung von: alles immer denselben.
Komisch: Ich habe hier viele Deutsche beobachtet, belauscht, studiert – mehr als kennengelernt, das soll man ja nur eingeschränkt tun. Fast alle agierten sie vorsichtig, verantwortungsvoll und solidarisch. Mein Fazit: Die Regierung hat versagt. Die Untertanen verhalten sich wie Menschen. Am Ende fangen sie noch an zu lesen (ich träume).
Anmerkung der Redaktion: Wer das komplette Reisetagebuch von Ewart Reder lesen möchte, sei auf die Seite https://liternatur.net/#meinmalle verwiesen. Im Juni erscheint Reders neuestes Buch: Die hinteren Kapitel der Berührung. Gedichte, Pop-Verlag Ludwigsburg, ca. 200 Seiten, 18,50 €.