Viele Menschen haben – schöner wäre es, wenn man sagen könnte, alle Menschen haben – ein Lieblingsbuch. Wenn es stimmt, was Bertolt Brecht in der »Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration« schrieb, dann hatte auch der legendäre chinesische Philosoph Laotse ein solches Büchlein, welches er immer las. Brecht hat uns den Titel leider nicht verraten.
Rudi Dutschke hat Marx‘ »Kapital«, vermutlich sein Lieblingsbuch, oft unterm Arm getragen. Einen ähnlichen Beliebtheitsgrad haben wohl nur das Neue Testament oder in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, zusammengefügt in der »Mao-Bibel«, gehabt. Mein Lieblingsbuch ist mit Abstand das »Kommunistische Manifest«. Es wurde mir, wie wohl vielen Kandidaten der SED im Bezirk Cottbus, vermutlich aber auch in anderen DDR-Bezirken, in einem feierlichen Akt von Werner Walde, dem 1. Sekretär der Bezirksleitung Cottbus, im Haus der Bauerarbeiter im Jahre 1968 übergeben. Die Übergabe des »Kommunistischen Manifestes« als der Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus an einen jungen Menschen sollte gleichsam die Geburtsurkunde eines zukünftigen Sozialisten sein. Nach 1990 zeigte sich dann, ob der Samen die Keimzelle befruchtet hatte oder ob es nur eine Scheinschwangerschaft war. Bei mir hatte sich der Samen jedenfalls angedockt, trotz massenhafter Abbrüche bei viel zu vielen.
Dass dieses Büchlein so deterministisch auf mich wirkte, verdanke ich vielleicht auch dem Buch »Die Abenteuer des Werner Holt – Roman einer Heimkehr« von Dieter Noll, welches ich ebenfalls in den sechziger Jahren gelesen habe. Die erste Begegnung des Romanhelden mit dem »Manifest« inspirierte mich in ähnlicher Weise und blieb mir latent im Gedächtnis, zwar nicht zitierfähig, aber sinngemäß. Als ich die Zeilen heute, nach fast 60 Jahren, noch einmal las, konnte ich mir erklären, weshalb sie mich damals so stark beeindruckten. »Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet.« Die kalte, zornige Leidenschaft dieses Stils packte Holt und ließ ihn nie wieder los. »Die Gedanken des Buches stürzten ihn in eine Erregung, deren er in dieser Nacht nicht mehr Herr wurde. Jeder Satz traf ihn mit der Wucht der Wahrheit, der man nach langer Suche begegnet.«
Gerade in Zeiten rasant zunehmender kriegerischer Konflikte und der Gefahr eines Weltkrieges, in Zeiten, in denen bisher als sicher geglaubte Ordnungen ins Wanken geraten, zu zerbrechen drohen oder sich bereits in Auflösung befinden, drängen sich die folgenden Zeilen aus dem »Manifest« auf: »In den Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, die die Zukunft in ihren Händen trägt.« Dass wir uns gegenwärtig in einem solchen »Auflösungsprozess« der bürgerlich-kapitalistischen Welt befinden, dürfte schwerlich zu bestreiten sein. Ob es aber schon der unvermeidliche und unumkehrbare Untergang ist, oder ob der Imperialismus noch einmal in der Lage ist, sich in eine ruhigere Phase zu retten, kann man schlecht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen. Wie oft haben Kommunisten und Sozialisten in der Geschichte geglaubt, diese Zeit sei angebrochen. Bisher erwiesen sich derartige Prophezeiungen aber leider mehr als Hoffnungen, denn als Gewissheiten.
Allerdings unterscheidet sich die gegenwärtige Entwicklungsphase der menschlichen Gesellschaft dadurch, dass sich in den Hauptländern des Imperialismus derartige sichtbaren Auflösungsprozesse vollziehen, und die »bürgerlichen Demokratien« offensichtlich nicht mehr imstande sind, die gesellschaftlichen Widersprüche im Inneren, also im nationalen Rahmen, aber auch untereinander zu lösen. Jedes imperialistische Hauptland sucht sein Heil darin, der Bevölkerung vorzugaukeln, es müsse das erste und größte werden. Der Nationalismus, der immer schon Wegbereiter von Kriegen war, hat wieder Hochkonjunktur. Und wieder ist es die Wucht der Wahrheit, die uns das »Manifest« offenbart: »Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.« Der kleine Mönch oder der situierte, humanistisch gebildete und wenig kämpferische Mensch fragt: »Und sie meinen nicht, dass die Wahrheit sich durchsetzt, auch ohne uns?« »Nein, nein, nein. Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein«, antwortet Galilei. Und davon gibt es noch zu wenige, lautet meine Ergänzung.