Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Mein Lieblingsbuch

Vie­le Men­schen haben – schö­ner wäre es, wenn man sagen könn­te, alle Men­schen haben – ein Lieb­lings­buch. Wenn es stimmt, was Ber­tolt Brecht in der »Legen­de von der Ent­ste­hung des Buches Tao­te­king auf dem Weg des Lao­tse in die Emi­gra­ti­on« schrieb, dann hat­te auch der legen­dä­re chi­ne­si­sche Phi­lo­soph Lao­tse ein sol­ches Büch­lein, wel­ches er immer las. Brecht hat uns den Titel lei­der nicht verraten.

Rudi Dutsch­ke hat Marx‘ »Kapi­tal«, ver­mut­lich sein Lieb­lings­buch, oft unterm Arm getra­gen. Einen ähn­li­chen Beliebt­heits­grad haben wohl nur das Neue Testa­ment oder in den sech­zi­ger Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts die Wor­te des Vor­sit­zen­den Mao Tse-tung, zusam­men­ge­fügt in der »Mao-Bibel«, gehabt. Mein Lieb­lings­buch ist mit Abstand das »Kom­mu­ni­sti­sche Mani­fest«. Es wur­de mir, wie wohl vie­len Kan­di­da­ten der SED im Bezirk Cott­bus, ver­mut­lich aber auch in ande­ren DDR-Bezir­ken, in einem fei­er­li­chen Akt von Wer­ner Wal­de, dem 1. Sekre­tär der Bezirks­lei­tung Cott­bus, im Haus der Bau­er­ar­bei­ter im Jah­re 1968 über­ge­ben. Die Über­ga­be des »Kom­mu­ni­sti­schen Mani­fe­stes« als der Geburts­ur­kun­de des wis­sen­schaft­li­chen Sozia­lis­mus an einen jun­gen Men­schen soll­te gleich­sam die Geburts­ur­kun­de eines zukünf­ti­gen Sozia­li­sten sein. Nach 1990 zeig­te sich dann, ob der Samen die Keim­zel­le befruch­tet hat­te oder ob es nur eine Schein­schwan­ger­schaft war. Bei mir hat­te sich der Samen jeden­falls ange­dockt, trotz mas­sen­haf­ter Abbrü­che bei viel zu vielen.

Dass die­ses Büch­lein so deter­mi­ni­stisch auf mich wirk­te, ver­dan­ke ich viel­leicht auch dem Buch »Die Aben­teu­er des Wer­ner Holt – Roman einer Heim­kehr« von Die­ter Noll, wel­ches ich eben­falls in den sech­zi­ger Jah­ren gele­sen habe. Die erste Begeg­nung des Roman­hel­den mit dem »Mani­fest« inspi­rier­te mich in ähn­li­cher Wei­se und blieb mir latent im Gedächt­nis, zwar nicht zitier­fä­hig, aber sinn­ge­mäß. Als ich die Zei­len heu­te, nach fast 60 Jah­ren, noch ein­mal las, konn­te ich mir erklä­ren, wes­halb sie mich damals so stark beein­druck­ten. »Alle Mäch­te des alten Euro­pa haben sich zu einer hei­li­gen Hetz­jagd gegen dies Gespenst ver­bün­det.« Die kal­te, zor­ni­ge Lei­den­schaft die­ses Stils pack­te Holt und ließ ihn nie wie­der los. »Die Gedan­ken des Buches stürz­ten ihn in eine Erre­gung, deren er in die­ser Nacht nicht mehr Herr wur­de. Jeder Satz traf ihn mit der Wucht der Wahr­heit, der man nach lan­ger Suche begegnet.«

Gera­de in Zei­ten rasant zuneh­men­der krie­ge­ri­scher Kon­flik­te und der Gefahr eines Welt­krie­ges, in Zei­ten, in denen bis­her als sicher geglaub­te Ord­nun­gen ins Wan­ken gera­ten, zu zer­bre­chen dro­hen oder sich bereits in Auf­lö­sung befin­den, drän­gen sich die fol­gen­den Zei­len aus dem »Mani­fest« auf: »In den Zei­ten end­lich, wo der Klas­sen­kampf sich der Ent­schei­dung nähert, nimmt der Auf­lö­sungs­pro­zess inner­halb der herr­schen­den Klas­se, inner­halb der gan­zen Gesell­schaft, einen so hef­ti­gen, so grel­len Cha­rak­ter an, dass ein klei­ner Teil der herr­schen­den Klas­se sich von ihr los­sagt und sich der revo­lu­tio­nä­ren Klas­se anschließt, der Klas­se, die die Zukunft in ihren Hän­den trägt.« Dass wir uns gegen­wär­tig in einem sol­chen »Auf­lö­sungs­pro­zess« der bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­schen Welt befin­den, dürf­te schwer­lich zu bestrei­ten sein. Ob es aber schon der unver­meid­li­che und unum­kehr­ba­re Unter­gang ist, oder ob der Impe­ria­lis­mus noch ein­mal in der Lage ist, sich in eine ruhi­ge­re Pha­se zu ret­ten, kann man schlecht mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit sagen. Wie oft haben Kom­mu­ni­sten und Sozia­li­sten in der Geschich­te geglaubt, die­se Zeit sei ange­bro­chen. Bis­her erwie­sen sich der­ar­ti­ge Pro­phe­zei­un­gen aber lei­der mehr als Hoff­nun­gen, denn als Gewissheiten.

Aller­dings unter­schei­det sich die gegen­wär­ti­ge Ent­wick­lungs­pha­se der mensch­li­chen Gesell­schaft dadurch, dass sich in den Haupt­län­dern des Impe­ria­lis­mus der­ar­ti­ge sicht­ba­ren Auf­lö­sungs­pro­zes­se voll­zie­hen, und die »bür­ger­li­chen Demo­kra­tien« offen­sicht­lich nicht mehr imstan­de sind, die gesell­schaft­li­chen Wider­sprü­che im Inne­ren, also im natio­na­len Rah­men, aber auch unter­ein­an­der zu lösen. Jedes impe­ria­li­sti­sche Haupt­land sucht sein Heil dar­in, der Bevöl­ke­rung vor­zu­gau­keln, es müs­se das erste und größ­te wer­den. Der Natio­na­lis­mus, der immer schon Weg­be­rei­ter von Krie­gen war, hat wie­der Hoch­kon­junk­tur. Und wie­der ist es die Wucht der Wahr­heit, die uns das »Mani­fest« offen­bart: »Mit dem Gegen­satz der Klas­sen im Innern der Nati­on fällt die feind­li­che Stel­lung der Natio­nen gegen­ein­an­der.« Der klei­ne Mönch oder der situ­ier­te, huma­ni­stisch gebil­de­te und wenig kämp­fe­ri­sche Mensch fragt: »Und sie mei­nen nicht, dass die Wahr­heit sich durch­setzt, auch ohne uns?« »Nein, nein, nein. Es setzt sich nur so viel Wahr­heit durch, als wir durch­set­zen; der Sieg der Ver­nunft kann nur der Sieg der Ver­nünf­ti­gen sein«, ant­wor­tet Gali­lei. Und davon gibt es noch zu weni­ge, lau­tet mei­ne Ergänzung.