Kapitalismus kann nur eine bürgerliche Demokratie hervorbringen. Undifferenzierte Begriffe wie »Demokratie«, »Freiheit«, »Nation« usw. sind unter gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen für die Wesensbestimmung der Gesamtgesellschaft unzulässige Verallgemeinerungen, d. h. im Grunde manipulative Ideologeme, um die wirklichen Machtverhältnisse im Kapitalismus zu verschleiern. Denn im Wesentlichen haben hier die großen Kapitalanleger, die besitzenden, bürgerlichen Schichten das Sagen, kurzum: die ökonomische, soziale, kulturelle, mediale und damit auch politische Vorherrschaft sowie eine wesentliche Entscheidungsmacht auch in den Parlamenten. Ihre politischen Interessenvertreter sind in Deutschland hauptsächlich die CDU/CSU und FDP. Dadurch müssen auch sozial und ökologisch ausgerichtete Parteien und Organisationen oft schmerzhafte Kompromisse eingehen, weil sie von den Interessen der dominierenden Wirtschafts- und Finanzverbände in Banken und Konzernen ebenfalls abhängig sind, ohne dies zumeist öffentlich zu kommunizieren. So kann durch diese Anpassung auch die Mehrheit der Bevölkerung zu wenig dagegen demokratisch mobilisiert werden.
Die »Krise der Demokratie«, von der inzwischen alle Welt spricht, ist eine Krise der »kapitalistisch-bürgerlichen Demokratie«. Der Kapitalismus ist aufgrund seines inneren wirtschaftlichen Zwangs zum Wirtschaftswachstum dazu verdammt, international konkurrenzfähig zu sein und zu bleiben, um größtmögliche Profite für die Kapitaleigner zu erzielen. Notfalls werden zu diesem Zweck auch abhängig Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit entlassen bzw. weltweit in den Niedriglohnsektor und ins Prekariat abgedrängt. Der Kapitalismus ist dadurch nicht in der Lage, die globalen sozialen, ökologischen und politischen Krisen sowie die tiefen nationalen und globalen Ungleichheiten zurückzudrängen. Er muss diese universellen Gesellschaftsspaltungen sogar immer weiter vertiefen, und sei es auch durch Aufrüstung und Kriege, um das kapitalistische Gesellschaftssystem und deren Marktmacht möglichst global weiter am Leben zu erhalten. Keiner der imperialen Kriege der USA, als dem selbsternannten »Führer der freien Welt«, hat je »Gerechtigkeit«, »Freiheit«, »Glück« oder »Demokratie« gebracht, sondern in erster Linie Chaos, Zerstörung und millionenfaches Flüchtlingselend sowie eskalierende Ausbeutung, ob in Indochina, Irak, Syrien, im Nahen Osten, in Jugoslawien, in Süd- und Mittelamerika, in Afghanistan oder heute in Russland und der Ukraine. Diese imperialen Kriege entspringen dem (auto-)kannibalischen Wesen des Kapitalismus, dem Gewalttätigkeit aufgrund der sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich sowie die zerstörerische Ausbeutung der Natur immanent sind.
Diese Zusammenhänge werden ununterbrochen verdrängt. Stattdessen will man uns glauben machen, dass durch gewaltsame Intervention »Befreiungsbewegungen« unterstützt werden, die aber bestenfalls nur bürgerliche Ausbeutungsverhältnisse und vertiefte soziale Spaltungen hervorbringen. Die Folgen sind millionenfaches Kriegs- und Armutselend sowie Migrationsbewegungen, die wiederum terroristische und nationalistische, rechtsradikale, gewalttätige Gegenbewegungen auslösen und dadurch letztlich das eigene System durch faschistoide Bewegungen gefährden. Das wird jedoch in Kauf genommen, weil Nationalismus und bürgerlicher Patriotismus einem Klassenbewusstsein entgegenwirken und damit das Ringen zwischen »Unten« und »Oben« toxisch lähmen.
Aber der Kampf gegen expansive Ausbeutung und soziale Spaltung der Mehrheit der Weltbevölkerung durch die kapitalistische Globalisierung sowie die dabei eskalierende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Erde sind inzwischen zu einem existenziellen Überlebenskampf der ganzen Menschheit geworden. Es geht dabei im Kern um die Partizipation aller an den einmaligen Schätzen der Erde, d. h. um die Durchsetzung universeller Menschenrechte. Erst wenn dieser Kampf für alle Menschen gewonnen wurde, ist der Begriff »Demokratie«, also »Volksherrschaft«, in der Gesellschaftspraxis realisiert.
Die unlängst gefeierte 48er-Revolution gehört sicherlich zur Demokratisierungsgeschichte Deutschlands und Europas, inspiriert durch die republikanische amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Französischen Revolutionen seit 1789 gegen die feudalen Herrschaftssysteme. Obwohl daran immer auch proletarische Schichten und aufgeklärte Intellektuelle leidenschaftlich mitwirkten, entpuppten sich alle diese Kämpfe für die angeblich allgemeingültigen Ideale von »Gerechtigkeit«; »Gleichheit«, »Brüderlichkeit« oder »allgemeinem Wohlstand« als vornehmlich bürgerliche Revolutionen, die zunächst weniger für die Arbeiterschaft, für Sklaven, Frauen oder Menschen kolonialisierter Herkunft wirksam wurden. Natürlich eröffneten bürgerliche Revolutionen langfristig zugleich auch emanzipatorische Freiräume für abhängig Beschäftigte, etwa durch Bildung von Gewerkschaften und Parteien, Verbesserung von Bildungs-, Arbeits- und Lebensbedingungen, Entstehung sozialer Sicherungssysteme, Gewaltenteilung, Versammlungs- und Pressefreiheit, sowie das allgemeine Wahlrecht für regionale und nationale Parlamente. Doch diese Freiräume waren und sind ständig gefährdet, mussten ununterbrochen verteidigt und unendlich mühsam weiter erkämpft und ausgebaut werden, oft gegen erbitterte Widerstände des feudalen und bürgerlichen Lagers.
Es ist bezeichnend, dass SPD-Mitglied und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Gedenkrede zur 48er Revolution vom 17. März 2023, anlässlich ihres 175 Jubiläums, kein Wort über das bereits 1847/48 entstandene »Manifest der Kommunistischen Partei« von Marx und Engels verlor, ebenso wenig über deren führende Mitarbeit an der Neuen Rheinischen Zeitung, dem wohl wichtigsten medialen »Organ der Demokratie« (so deren Untertitel) der 48er-Revolution – obwohl die beiden zugleich die entscheidenden theoretischen und praktischen Geburtshelfer der internationalen Arbeiterbewegung, also auch der deutschen Sozialdemokratie waren. Bundeskanzler Scholz behauptete sogar, Marx habe »am Ende nur Quatsch hinterlassen, das unmögliche Ideal eines paradiesischen Lebens vollkommen freier Wahl der Bedürfnisbefriedigung« (FAZ v. 15.6.23). Aber die revolutionäre Gesellschaftsvision von Marx und Engels ging bekanntlich weit über die Forderungen der bürgerlichen Revolutionäre von 1848 hinaus. Sie entlarvten die entstehende bürgerliche Gesellschaft, trotz der Emanzipationskämpfe gegen die Adelsherrschaft, als »Instrument bürgerlicher Klassenherrschaft«, weil damit bekanntlich das vorherrschende Privateigentum an Produktionsmitteln abgesichert und weiterentwickelt werden sollte, meist auf Kosten der abhängig Beschäftigten. Diese Eigentumsverhältnisse trugen und tragen dazu bei, dass der erwirtschaftete Mehrwert, der bis heute auf unbezahlter Arbeit der »Arbeitnehmer« beruht, primär in die Taschen der Aktionäre fließt, während abhängig Beschäftigte nur ein Bruchteil davon in ihren Lohn- und Gehaltsabrechnungen wiederfinden, wodurch die sozial gespaltene, bürgerliche Klassengesellschaft zementiert wird. Erst die Überwindung dieser Klassengegensätze kann, wie es im »Manifest« heißt, die »freie Entwicklung eines jeden (als) Bedingung für die freie Entwicklung aller« ermöglichen. Das ist und bleibt das Ideal einer wirklichen Volksherrschaft.
Aber die Niederlage der 48er-Revolution barg noch andere weitreichende Lehren: Engels analysierte 1895 rückblickend auch für eine gescheiterte »rote Republik«, dass »der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem europäischen Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion«. Und Marx analysierte, dass eine Revolution, die auf mangelndem gesellschaftlichem Reichtum basiert, »die alte Scheiße« erneut reproduziert.
Doch die Konterrevolution hat schließlich, trotz Wiederherstellung feudaler Vorherrschaft, immerhin die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung und später auch die nationale Vereinigung von »Oben« durch Bismarck sowie die Entwicklung der Sozialdemokratie und den Beginn einer Sozialgesetzgebung nicht verhindern können. Allerdings konnte erst nach dem Desaster des 1. Weltkrieges, also 70 Jahre später, durch die Novemberrevolution und die Abdankung des Kaisers eine bürgerliche Republik, d. h. die fragile Weimarer Republik, in Deutschland entstehen, allerdings erneut – auch mit Hilfe der SPD-Führung – durch blutige Niederschlagung einer »roten Räterepublik«.
Dennoch: Mit der Weiterentwicklung der Weimarer Republik nach dem NS-Desaster und dem 2. Weltkrieg haben wir heute in der kapitalistischen Bundesrepublik ein respektables, wenn auch immer noch bürgerliches Grundgesetz – das etwa den Entwurf des »Runden Tisches« nach 1990 nicht in eine neue Verfassung integrierte. Es bleibt zu hoffen, dass auch die Revolutionen im Ostblock, die spätestens 1990 aufgrund ökonomischer und politischer Schwächen gleichfalls eine konterrevolutionäre Niederlage erlitten, emanzipatorisch weiterwirken. Deshalb ist der bürgerliche Mainstream heute unter allen Umständen darauf bedacht, die emanzipatorischen Errungenschaften sozialistischer Revolutionen im Osten verächtlich zu machen und die bürgerliche Bundesrepublik als einzig legitime deutsche Nachkriegsordnung apologetisch zu feiern. Erst nach und nach wird sich herausstellen, dass die sozialistischen Revolutionen, trotz ihrer ökonomischen und demokratischen Defizite, Entwicklungen im 21. Jahrhundert vorweggenommen haben, um die sozial ungerechten und Gewalt auslösenden Klassenspaltungen zurückzudrängen.
Welche außen- und innenpolitischen Hauptziele aber wären dafür ausschlaggebend, die bisherige bürgerliche Demokratie in Richtung einer sozial-ökologischen, demokratischen Transformation zu einer wirklichen Volksherrschaft umzugestalten, die den Namen »Demokratie« tatsächlich verdient? Was heißt also heute: Mehr Demokratie wagen?
Solange Gesellschafts- und Außenpolitik sich nicht aus der Abhängigkeit von aggressiven globalen Zielen der Herrschenden in den USA löst, die für über 80 Prozent der Kriege nach 1945 verantwortlich sind, kann es keine friedlich-progressiven Entwicklungen in einer multipolaren, demokratisierten Welt geben.
Solange Profitmaximierung für wohlhabende Minderheiten nicht durch eine Innen- und Außenpolitik sowie den Gewerkschaftskampf permanent zurückgedrängt wird, um eine stärkere Teilhabe aller abhängig Beschäftigten zu sichern und das Prekariat, Arbeits- und Obdachlosigkeit durch stärkere Angleichung aller Einkommen, durch sozial gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen, durch Ausbau der Sozialsysteme zu überwinden, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange der flächendeckende Ausstieg aus fossiler Energiewirtschaft und Umweltraubbau nicht gelingt und nationale Bodenschätze nicht primär dem nationalen Gemeinwohl schonend zugutekommen – und nicht primär multinationalen Konzernen und ihren Aktionären –, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange menschenwürdiger Wohnraum und Wohnnebenkosten nicht für alle Gesellschaftsschichten bezahlbar zur Verfügung stehen, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote nicht allen Menschen bezahlbar offenstehen, zur demokratischen Mitwirkung befähigen und nicht vorrangig privilegierten Schichten vorbehalten bleiben, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange Sozialsysteme – Gesundheitswesen, Weiterbildungssysteme, Rentensystem usw. – nicht alle Menschen vor vermeidbaren Krankheiten, vor Arbeitslosigkeit, vor Kinder- und Altersarmut schützen, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange Massenmedien primär die innen- und außenpolitische Deutungshoheit der vorherrschenden Parteien durch eine Art »Hofberichterstattung« unterstützen, überwiegend Unterhaltungssendungen und Werbung anbieten, anstatt wertvolle Kulturangebote zu vermitteln, und die Meinungsbildung in den sozialen Medien nicht in den öffentlichen politischen Diskurs einspeisen, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange Abgeordnete der Parteien nur zu Wahlen um Stimmen der Wähler werben, und dies abhängig von der Höhe ihrer Wahlkampfgelder und Wahlkampfspenden, aber nicht auch innerhalb der Wahlperioden, etwa in Wählerräten, ihren Wählern regelmäßig Rede und Antwort stehen und notfalls auch zwischen den Wahlperioden abgewählt werden können, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange Parlamente nicht ausreichende Steuergelder insbesondere von wohlhabenden Schichten einnehmen, um das sozial-ökologische Gemeinwohl für alle zu sichern und weiterzuentwickeln, sondern permanent Staatsschulden, auch für sinnlose Rüstungs- und Kriegsausgaben anhäufen, kann keine Gesellschaft als demokratisch gelten.
Solange eine Polizei- und Justiz existieren, die auf dem rechten Auge blind sind, und die Verteidigung von Angeklagten von ihrem Geldbeutel abhängig ist, also Klassenjustiz herrscht, kann keine Rechtsprechung als demokratisch gelten.
Solange nicht, angesichts der eskalierenden sozialen, ökologischen und politischen Krisen und Kriegsschauplätze, eine friedensstiftende Zeitenwende, auf der Basis der UN-Charta durch sehr viele Menschen, durch Zivilgesellschaft, Friedensbewegung, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine, Organisationen, Parteien und von Abgeordneten in den Parlamenten ausgeht, d. h. immer mehr Menschen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht nur um die Verbesserung ihrer eigenen Existenz ringen, sondern sich auch leidenschaftlich für die Entwicklung des partizipativen, nationalen und globalen Gemeinwohls einsetzten und sich dabei nicht von demagogischen Kriegstreibern, Nationalisten und Rechtsradikalen instrumentieren lassen, kann keine Gesellschaft demokratisiert werden und schließlich als demokratisch gelten.
Ohne gesellschaftliche Organisationen, die niederschwellige, demokratische Mitwirkungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten und damit Übertragungen von »Unten« nach »Oben« ermöglichen, ist die Vision einer demokratischen, Klassengrenzen überwindenden Gesellschaft nicht zu realisieren. »Mehr Demokratisierung wagen« muss also auch durch Druck von unten, in den gesellschaftlichen Organisationen, Medien und Parteien beginnen, wie einst auch die 68er-Bewegung Willy Brandt zu dieser Losung inspiriert haben dürfte. Dabei lassen sich Demokratisierungsprozesse nur insoweit vorantreiben, wenn bereits Emanzipationsbewegungen und praktische Lösungsansätze zum Abbau von Klassenunterschieden und ökologischer Krise tradiert und in die Wege geleitet sind. Ansonsten laufen solche Bemühungen Gefahr, sich in moralisierendem Wunschdenken von Parteiprogrammen und Wahlversprechen in Luft aufzulösen. Sie hinterlassen so nur politische Enttäuschungen, Frustration und Entpolitisierung. Sowohl das ständige Bewusstmachen der genannten gesellschaftspolitischen Fernziele und Werte als auch die Definition der aktuell »nächsten Schritte«, um diese Zukunftsvisionen im Alltag durchzusetzen, sind gleichermaßen unverzichtbare Motivationen für erfolgreiche demokratische Massenbewegungen. Fehlt eine solche glaubwürdige, d. h. auch personell und medial überzeugend kommunizierte Doppelstrategie der leidenschaftlichen Vermittlung des Zusammenhangs von Gegenwarts- und Zukunftsinteressen bei der Zurückdrängung sozialer Spaltung und ökologischer Krise, brauchen sich Parteien und Organisationen nicht zu wundern, wenn ihnen Mitglieder und Wähler weglaufen, sich entsolidarisieren bzw. sich in ihre »Filterblasen« einkapseln. Das ist eine allgemeingültige geschichtliche Erfahrung, die für Sozialdemokraten, Grüne und Linke gleichermaßen zutrifft: Wenn programmatische Versprechungen und entsprechende politische Maßnahmen nicht verknüpft und im Alltag für viele Menschen als neue Lebenschancen erlebbar sind, verlieren alle genannten politischen Strömungen an demokratisierender Identifikations- und Durchsetzungskraft. Mehr Demokratie wagen, kann nur gelingen, wenn immer mehr Demokraten Mut und Kompetenz entwickeln, die lebensbedrohliche Ausbeutung von Menschen und Natur zurückzudrängen.