Gelegentlich dient es zum Einwickeln oder Ausstopfen, meist wandert es – gelesen – nach ein paar Tagen in die Altpapiertonne: Zeitungspapier. Dass die Ausgabe einer Tageszeitung etwas Besonderes, Behütenswertes ist, kommt wahrscheinlich nicht allzu oft vor.
Eine grüne Schmuckmappe liegt geöffnet auf dem Tisch. Zu sehen ist brüchiges, an den Rändern eingerissenes, bräunlich schimmerndes, vergilbtes Zeitungspapier. Der Satz ist in roter Farbe ausgeführt, alles eng bedruckt. Kleine Buchstaben erschweren das Lesen.
Erschienen ist die Zeitung in Köln am Samstag, dem 19. Mai 1849. Die Neue Rheinische Zeitung, das »Organ der Demokratie« erschien als Nummer 301 an diesem Tag zum letzten Mal als gedruckte Tageszeitung. Das fünfstrophige Gedicht von Ferdinand Freiligrath »Abschiedswort der Neuen Rheinischen Zeitung« ist unter dem Titel platziert.
Karl Marx hatte die Zeitung seit dem 1. Juni 1848 herausgegeben. Möglich geworden war das nach Aufhebung der Pressezensur in Folge der Märzrevolution 1848 in Preußen. Nachdem die letzten Aufstände der Märzrevolution im Rheinland niedergeschlagen waren, verwiesen die Herrschenden Karl Marx sowie seine Mitstreiter Ernst Dronke und Georg Weerth als Nichtpreußen des Landes. Gegen weitere Redaktionsmitglieder waren Gerichtsverfahren eingeleitet. Karl Marx emigrierte erneut. Mit dem Ende der revolutionären Aufstände endete auch die Existenz der Tageszeitung unter seiner Regie.
Einhundertsiebzig Jahre später liegt die bewahrte letzte Ausgabe der Zeitung auf dem Tisch im Haus von Günter und Margot Pappenheim.
Günter Pappenheim erzählt: Sein Vater, Ludwig Pappenheim, am 17. März 1887 in Eschwege geboren, trat bereits als Lehrling am 1. Mai 1905 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein und gehörte zu jenen, die den Auftrag erhielten, in Schmalkalden einen Ortsverein der Partei zu bilden. Pappenheim wurde Vorsitzender einer erfolgreich agierenden Wahlkreisorganisation in Schmalkalden. Er gehörte zu den Parteimitgliedern, die Karl Liebknecht unterstützten, als der gegen die Bewilligung von Kriegskrediten gestimmt hatte. Als Soldat zunächst in Ostpreußen, später an der Westfront verfasste er unter dem Eindruck des Krieges Flugblätter gegen den Krieg. Folgerichtig unterstützte er aktiv die Novemberrevolution von 1918 und entschied sich endgültig für die politische Arbeit in Schmalkalden, wurde Stadtrat und Redakteur, geriet mit den Herrschenden in Konflikt.
Ab 1923 verheiratet, hatte er mit seiner Frau Frieda, ebenfalls engagierte Sozialdemokratin, drei Kinder. Aus einer vorehelichen Beziehung hatte Frieda die Tochter Erna. Die Eheleute stellten sich den politischen Fragen der Zeit und legten großen Wert auf die humanistische Erziehung ihrer Kinder.
Als 1933 den deutschen Faschisten die Macht übergeben wurde, gehörte der entschiedene Gegner der Nazis zu den Ersten, gegen die sich Hass und Gewalt richteten. Ludwig Pappenheim wurde bereits am 23. März 1933 unter Verletzung seiner Immunität als Parlamentarier in »Schutzhaft« genommen. Denunziation und fadenscheinige Sachverhalte sollten zu einer Verurteilung führen. Schließlich wurde er, nachdem er in den Polizeigefängnissen Suhl und Kassel inhaftiert worden war, im Juli 1933 in das Konzentrationslager Breitenau und von dort im Oktober in das KZ Neusustrum gebracht. In der Nähe des KZ wurde er am 4. Januar 1934 ermordet, nachdem die Nazis ihn misshandelt hatten.
Frieda Pappenheim hatte umsichtig wichtige Unterlagen der Familie in Sicherheit gebracht. Vernichtet hatte sie nur die Mitgliederlisten der Partei, die den Nazis auf gar keinen Fall in die Hände fallen sollten. Bei mehrmaligen Hausdurchsuchungen, die anfangs noch von Polizeibeamten durchgeführt wurden, die selbst der SPD angehörten beziehungsweise angehört hatten, wurde nie Belastendes gefunden.
Zu den sicher versteckten Dingen gehörten das Exemplar der Neuen Rheinischen Zeitung, mehrere Ausgaben des Kommunistischen Manifests, Protokollbände von Parteitagen der SPD sowie ein großes Porträt von August Bebel.
In den 1950er Jahren arbeitete Günter Pappenheim hauptamtlich im Parteiapparat der SED. Zu dieser Zeit übergab seine Mutter jene wertvollen Materialien an ihn in der Überzeugung, dass sie bei ihm am besten und sichersten bewahrt würden.
Günter Pappenheim nahm die Zeitung vielfach mit, wenn er öffentlich über das Leben seines Vaters und über sein eigenes Erleben als ehemaliger Häftling des KZ Buchenwald sprach. Geschichte ließ sich so anschaulich vermitteln. In seinem Fundus hatte Günter viele Dokumente, die ihm als Anschauungsmaterial dienten. Ein jedes hatte seinen Platz und war griffbereit abgelegt.
Neue Möbel machten es irgendwann erforderlich, dass das viele gesammelte Material umgelagert werden musste. Und die Zeit brachte es mit sich, dass sich die öffentlichen Auftritte von Günter Pappenheim verringerten. So wurde auch die Neue Rheinische Zeitung nicht mehr so häufig bemüht.
Bei einem Gespräch mit Freunden erwähnte Günter Pappenheim die Existenz des einzigartigen Dokuments, ging zielsicher an den Schrank, in dem er es aufbewahrt zu haben glaubte, und erschrak. Die Zeitung war nicht am vermuteten Ort. Sie konnte nicht verloren worden sein. Es ließ sich nicht genau bestimmen, wann er sie zum letzten Mal in der Hand gehabt hatte. War es ein Vortrag vor jungen Leuten gewesen, hatte er sie liegen lassen? Könnte sie mitgenommen worden sein? Der Verdacht wäre ungeheuerlich. Günter Pappenheim fühlte eine riesige Last auf seinem Herzen. Nur – die Zeitung war nicht zu finden. Willkürlich zu suchen, erwies sich als wenig zielführend.
Über einen längeren Zeitraum suchte ein Freund systematisch.
An einem Spätsommertag entnahm der Freund einem Schrank eine alte Mappe aus rotem Kunststoff. Sie fühlte sich klebrig an, die Weichmacher waren aus dem Material entwichen, hatten es verformt. An der Unterseite der roten Mappe klebte eine grüne Kunstledermappe. Wie eine Krake hatte der rote Kunststoff die grüne Mappe umschlossen, so dass sie sich nicht öffnen ließ. Nachdem beide Mappen vorsichtig voneinander gelöst waren und die grüne Mappe geöffnet werden konnte, erschien die rot gedruckte einhundertsiebzig Jahre alte Neue Rheinische Zeitung.
Günter fühlte sich an dem Tag nicht wohl. Schwächen des Alters sind manchmal schwer zu ertragen. Als ihm die Zeitung gezeigt wurde, atmete er lange geräuschvoll aus. Der Stein, der auf ihm gelastet hatte, war sehr schwer gewesen, besonders deshalb, weil die Gefahr falscher Verdächtigung so riesig und bedrohlich über allem schwebte.
Nun gilt es zu überlegen, wie am besten eine Konservierung des wertvollen Stückes erfolgen und das Original bewahrt werden kann.