Wir schreiben das Jahr 2019. Der weitgehend staatlich finanzierte US-ThinkTank Rand Corporation für die Beratung des Militärs (Schwerpunkte laut Wikipedia: Strategien zur Destabilisierung Russlands und Überlegungen zum Krieg mit China) veröffentlicht eine Studie: »Overextending and Unbalancing Russia«. In zahlreichen Tabellen werden Handlungsempfehlungen an die Regierung danach bewertet, wie intensiv sie zum Ruin Russlands beitragen können und mit welchen Kosten und Risiken sie für die USA verbunden sind. Beispiele: »Provide lethal aid to Ukraine«, »Increase support to the Syrian rebels« oder »Encourage domestic protests (in Russia) and other nonviolent resistance«. Die USA fühlen sich offensichtlich nicht nur berechtigt, sondern auch in der Lage, all dies durchzuführen. In Deutschland lesen wir nur in alternativen Medien über die – inzwischen zu großen Teilen umgesetzten – Pläne der westlichen Vormacht, Russland zu destabilisieren.
Das Schweigen hat System. Die Leitmedien versuchen nicht, die komplexe gesellschaftliche und politische Wirklichkeit darzustellen, sondern eine eigene Realität zu konstruieren, regierungs- und parteiennah. Sie machen Politik, mit allen Methoden der »Strategischen Kommunikation«», sprich Propaganda. Natürlich ist »Lügenpresse« ein rechter Kampfbegriff, eine Vielzahl kritischer Berichte und Kommentare von JournalistInnen, die ihren Beruf ernst nehmen, beweisen es. Aber in zentralen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Themenbereichen, wo es um westliche Interessen und Macht geht, stellen wir eine systematische Verzerrung fest.
Beispiele strategischer Kommunikation findet man täglich. Zeitungen bringen etwa eine Meldung von dpa: EU und Nato haben eine noch engere Kooperation vereinbart. Denn die Lebensgrundlage von Millionen sei durch die Erderwärmung bedroht: »Noch mehr humanitäre Katastrophen, Flucht und Migration sowie zunehmende Konflikte um Ressourcen wie Wasser und Land könnten die Folge sein.« Dieser sicherheitspolitischen Bedrohung müsse man auf einer neuen Stufe der Partnerschaft begegnen. Dass dies gemeldet wird, geht in Ordnung – aber wo bleiben die kritischen Rückfragen: Wer verursacht die Katastrophen? Wieso ist Abhilfe Sache der Nato? Ist das Hilfe oder Neokolonialismus?
Berichtet wird auch über den geplanten Militäreinsatz, zur Terrorbekämpfung, genannt »EU Partnership Mission Niger«. Ein anderes Blatt kolportiert dazu Gerüchte über Fake News russlandfreundlicher Trolle: Frankreich wolle sich die Rohstoffe wie Uran sichern. Gerüchte? Fake News? Russische Trolle? Eine Recherche deckt auf, dass mit dem angeblich selbstlosen Militäreinsatz auch die Migration nach Europa bekämpft und die Uran-Minen des französischen Staatskonzerns abgesichert werden sollen, die übrigens die Sterberate bei Arbeitern und bei Bewohnern wesentlich erhöhen.
Im Krieg herrscht Propaganda. Aber ist es hinzunehmen, dass die meinungsbildenden Qualitätsmedien in Deutschland nach einer Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung tendenziös, einseitig und sehr einheitlich berichten? Nur vier Prozent der Berichte haben seit Kriegsbeginn den Westen als (mit)verantwortlich beschrieben, während 93 Prozent die Schuld ausschließlich Putin geben. Muss man das nicht als historischen Fake bezeichnen, ist das nicht Indoktrination? In den Berichten werden Waffenlieferungen gegenüber Diplomatie eindeutig bevorzugt. Spiegeln diese Berichte die Stimmung in der Bevölkerung oder suchen sie sie zu erzeugen? Immerhin waren noch im letzten August 77 Prozent der Befragten der Meinung, der Westen sollte sich um Verhandlungen über die Beendigung des Krieges bemühen.
Die Studienergebnisse haben die Leitmedien ihrem Publikum übrigens weitgehend verschwiegen. Die für eine Demokratie so wichtige Säule der Pressefreiheit soll vor allem vor staatlicher Einflussnahme schützen; was passiert, wenn die Leitmedien als Sprachrohr der regierungsamtlichen Kriegspolitik dienen?
»Zeitenwende« bedeutet Militarisierung, Kriegslogik, Freund-Feind-Denken und auch eine wirtschaftlich-militärische Führungsrolle Deutschlands (die zu 68 Prozent von Befragten abgelehnt wird). Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik propagiert einen Mentalitätswandel in der Bevölkerung; bei den Soldaten müsse er als Bereitschaft zum Kampf nach dem Motto »Kämpfen, Töten, Sterben« entwickelt werden. Will das die Bevölkerung? Die große Mehrheit der Menschen (bis zu 90 Prozent) verlangt eine Verbesserung der Daseinsvorsorge, 92 Prozent ein Atomwaffenverbot. Militarisierung fördern, wenn marode Kliniken, zerstörtes Klima, unbezahlbare Wohnungen, der erbärmliche Zustand des öffentlichen Verkehrs den Alltag prägen? Die Folge: Nur noch ein knappes Drittel bekundet Vertrauen in Regierung und Bundestag, gerade mal 17 Prozent in die Parteien. Die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie (bis zu 70 Prozent der Bevölkerung, je nach sozialer Lage) wächst.
Statt Abhilfe Indoktrination auf allen Kanälen: Die seit Monaten in Medien allgegenwärtige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Strack-Zimmermann hat freie Hand und Stimme für Kriegshetze und Züchtung von Feindbildern: Auch die Politik brauche, »um aus der Sicht der Bundeswehr zu agieren, ein Feindbild«, sie brauche »ein Bild eines möglichen Feindes, der unsere Freiheit und Demokratie beseitigen will«. Nicht erwähnt wird, dass sie auch als Rüstungslobbyistin agiert: im Präsidium des Förderkreises Deutsches Heer, der Deutschen Wehrtechnischen Gesellschaft, als Vizepräsidentin der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Edward Bernays, einer der wichtigsten Entwickler der modernen Propaganda, schrieb schon vor knapp hundert Jahren: »Die Manipulation der Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist.« Die Medien haben die Ratschläge beherzigt. Statt Aufklärung und kritischer Berichte über die Machtstrukturen und die dahinter stehenden Interessen werden wir mit Propaganda gefüttert.
Verschwiegen wurden die Vorschläge und Konzepte verschiedener Staaten, Ex-Diplomaten und -Militärs für Friedensverhandlungen. Vergeblich suchen wir Analysen zum Eingeständnis der Exkanzlerin Merkel, die Minsk-Verträge seien 2014 abgeschlossen worden, um der Ukraine Zeit zum Aufrüsten für den Krieg zu geben. Aber die deutschen Medien bearbeiten die Bevölkerung mit der Botschaft, Putin sei nicht zu trauen, er verstehe nur die Sprache der Gewalt. Übrigens: Die Nato arbeitet mit Hochdruck an »Cognitive Warfare«, dem »Gedankenkrieg« als extreme Weiterentwicklung des Informationskrieges, laut einer Verteidigungsexpertin »die fortschrittlichste Form der Manipulation«.
Verweigerung der Berichterstattung, die ein eigenes Urteil ermöglichen würde, auch bei den Lebensbedingungen der Menschen in der Ukraine. Will man tatsächlich helfen, wäre eine ehrliche Bestandsaufnahme unabdingbar. Wo wird darauf hingewiesen, dass dort schon seit acht Jahren Krieg geherrscht hat, lange vor dem 24.2.2022; dass die Ukraine schon vor dem russischen Einmarsch als das ärmste und korrupteste Land in Europa galt, beherrscht von sechs Oligarchen? Nichts über die Auswanderung von sieben Millionen Menschen in zwanzig Jahren nach 1990. Der Ökonom Heiner Flassbeck hat die vom Westen geforderte und geförderte Privatisierung sowohl in Russland als auch in der Ukraine beschrieben, die Entdemokratisierung, oligarchische Strukturen und die Ausbeutung der Länder als Rohstofflieferanten begünstigt hat. Präsident Selenskyj holt gerade die politisch wie wirtschaftlich mächtige, unkontrollierbare Investmentgesellschaft Black Rock für den Aufbau ins Land – zu wessen Gunsten? Agrar- und Biotech-Giganten Cargill, DuPont, Monsanto/Bayer kaufen Millionen Hektar fruchtbaren Landes. Dient das den Menschen in der Ukraine?
»Die Achtung vor der Wahrheit (…) und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse«, heißt es in den »ethischen Standards für den Journalismus«. Stattdessen erleben wir: Die Leitmedien machen Politik. Sie konstruieren eine gefärbte Realität. Abweichende Meinungen werden eliminiert, Friedensverhandlungen kriegspropagandistisch niedergemacht. Die Pressefreiheit, die primär dem Schutz der Medien vor staatlichen Eingriffen dienen soll, verkehren die Chefredaktionen ins Gegenteil, verengen den Meinungskorridor, betreiben selektiv und manipulativ Kriegspropaganda. Auch das ist Teil der »Zeitenwende«: Kriegslogik und Zerstörung der Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen muss abgestützt werden durch das Erzeugen eines moralischen Narrativs. Dass es eine Fake Reality ist, empfinden viele; in diesem Klima gedeihen Hass, Gewalt, Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Hannah Arendt schrieb 1967: »Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.«