Prognosen und ernstzunehmende Warnungen gab es genug. Vor zehn Jahren hatte das Institut für Sicherheitsstudien der EU (EUISS) Beiträge veröffentlicht, wonach sich die Spannungen zwischen der Welt der Reichen und der armen Weltbevölkerung weiter verschärfen würden. Schlussfolgerung: »Da es uns kaum gelingen wird, die Ursachen dieses Problems (…) bis 2020 zu beseitigen, werden wir uns stärker abschotten müssen.«
Auch das deutsche Militär mahnte in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011: »Erhebliche Wohlstandsunterschiede, verbunden mit sozialen Disparitäten führen zu weltweiten Migrationsströmen.« Die Internationale Organisation für Migration (IOM) prognostizierte ebenso wie die Weltbank die Zahl der Klimaflüchtlinge bis 2050 auf ca. 200 Millionen – zusätzlich zu den etwa 80 Millionen Menschen, die jetzt schon vor Krieg und Armut fliehen müssen. Und vor fünf Jahren warnte Bundesminister Gerd Müller eindringlich: »Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Das wird nicht mehr lange gut gehen. Diese Spannungen entladen sich. Dann ist egal, was wir hier festlegen. Die Menschen werden uns nicht fragen, ob sie kommen können.«
Was tut also ein reiches kapitalistisches Land im Zusammenwirken mit der Wirtschaftsunion EU, deren Vormacht es zu sein beansprucht? Die Ursachen angehen, also Ausbeutung beenden und die imperiale Lebensweise verändern, die die Menschheit und den Planeten bedroht? Mitnichten. Es rüstet auf, schottet sich ab, zertrampelt die Werte und internationalen Regelwerke, die es nach außen lautstark vertritt und sogar militärisch durchzusetzen beansprucht.
Gegen Flüchtlinge baut die EU eine »physische Grenzinfrastruktur« auf, wie der EU-Ratspräsident die meterhohen Mauern und rasiermesserscharfen Stacheldrahtzäune, gesichert durch Tausende hochgerüsteter Grenzschutzsoldaten, beschönigend nennt. Mittlerweile sind etwa 1700 Kilometer martialischer Grenzbefestigungen gebaut oder konkret geplant – das ist etwa die Entfernung von Berlin nach Bukarest. Zwölf Staaten wirken »für Interessen der gesamten EU«, wie sie behaupten, um ihre nationalistisch abgeschirmten Festungen von den BürgerInnen der EU bezahlt zu bekommen: Polen, Lettland, Litauen und Estland sind dabei, Ungarn, Griechenland, Bulgarien und Spanien sowieso, aber auch Dänemark, Schweden und Frankreich.
An der EU-Außengrenze entstehen rechtsfreie Räume. Die EU-Staaten missachten die Genfer Flüchtlingskonvention, brechen Völkerrecht, ignorieren Menschenrechte, kümmern sich einen Dreck um die UN-Kinderrechtskonvention (vgl. Art. 22 zu Flüchtlingskindern). Stattdessen alimentieren sie eine profitträchtige Sicherheitsindustrie für den Bau von Schallkanonen, die Entwicklung neuester Techniken der Biometrisierung und Digitalisierung – zur Luftüberwachung mit Radar und Drohnen und KI für Gesichtserkennung wie auch für die Analyse von Satellitenbildern und Bewegungsmustern. Die Sicherheits- und Rüstungsindus-trie ist eine Wachstumsbranche, die in den letzten zehn Jahren auf das Zehnfache angeschwollen ist.
Die »natürliche Abschottung« durchs Mittelmeer sichern Kriegsschiffe und Aufklärungsflüge der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Das Urlaubsparadies Mittelmeer ist für Zehntausende zum Massengrab geworden: »Im vergangenen Jahr sind bei dem Versuch, Spanien auf dem Seeweg zu erreichen, mindestens 4.404 Menschen ums Leben gekommen.« Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind in den letzten sieben Jahren über 23.000 Menschen ertrunken, Männer, Frauen, Kinder. Die Toten werden zu einer Zahl, die nicht mehr berührt. Statt Menschen in Seenot zu retten, erstattet Frontex Meldung an Libyen und Tunesien mit der Aufforderung, die Boote zurückzuholen. Sie betreibt also Luftaufklärung für die nordafrikanische Küstenwache, damit diese die illegalen Pushbacks durchziehen: Zurückdrängen der Flüchtlinge ohne jede Prüfung der Asylersuchen. In Libyen werden die Zurückgedrängten in Internierungslagern zusammengepfercht, viele misshandelt und als Sklaven verkauft.
Alle legalen Fluchtwege wurden durch die EU gesperrt. Der Propagandaapparat läuft auf Hochtouren. Abwechselnd werden Flüchtlinge als »Reisewillige« (Welt) bezeichnet, Schutzsuchende als Bedrohung dargestellt, die als Waffen gegen den Westen eingesetzt würden. Medien bezichtigen konzertiert den Autokraten Lukaschenko der »hybriden Kriegsführung« durch Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus, um nicht die Gründe untersuchen zu müssen, warum die Menschen aus Kriegsgebieten wie Irak und Afghanistan fliehen – und warum das über Belarus und Polen versucht wird.
An dieser Grenze der EU wurde eine »Emergency Zone« ausgerufen: Am drei Kilometer breiten Landstreifen entlang der polnischen Grenze werden JournalistInnen und FotografInnen festgenommen. Die Einschränkung der Pressefreiheit ist die neue Normalität. Auch Hilfsorganisationen ist der Zutritt verwehrt. Unterbunden wird nicht nur eine unabhängige Berichterstattung, sondern auch jede Unterstützung für die Menschen, die im Niemandsland ohne Rechte der Gewalt ausgesetzt sind und um ihr Leben fürchten. Die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international berichtet über die verzweifelte Lage von Hunderten ohne medizinische Versorgung, ohne ausreichendes Essen und Wasser, eingekesselt zwischen polnischen und belarussischen Grenzschützern. Illegale Pushbacks mit Schlagstöcken und Elektroschocks sind hier ebenso üblich wie an der bosnisch-kroatischen Grenze oder an der griechischen Küste.
Jede menschliche Geste, jede praktische Hilfe wird zu einem kriminellen Akt gestempelt und entsprechend bestraft. Sie wird sogar zu einer »staatsfeindlichen Aktivität«, wie Reinhard Wolff in der taz den litauischen Innenminister zitiert. »Die europäische Erzählung, die doch für sich Demokratie und Menschenrechte beansprucht, wird an den Außengrenzen neu geschrieben«, stellt Franziska Grillmaier im medico-Rundschreiben fest.
Der Euphemismus »Ursachenbekämpfung« der Flucht ist blanker Zynismus. Die EU verlagert ihre Außengrenzen immer mehr nach Afrika. Das Hilfswerk Brot für die Welt beschreibt, wie finanzielle Hilfe, als »Entwicklungshilfe« verbrämt, als Druckmittel genutzt wird. Die EU investiert in Aufrüstung der Sicherheitsapparate der Anrainer-, Herkunfts- und Transitstaaten – meist mit autokratischen Regierungen – mit der Auflage, gegen Flüchtende vorzugehen. Medico kritisiert darüber hinaus die »Migrationspartnerschaften« der EU und die Programme zur Förderung angeblich freiwilliger Rückkehr: All dies diene dem Ziel, sich der Schutzsuchenden zu entledigen. Die Organisation weist darauf hin, dass die propagierten Partnerschaften mit Ländern wie Ägypten, Marokko oder Afghanistan kaum unter Wahrung der Menschenrechte organisiert werden können. Zudem wird Ägypten großzügig mit Überwachungstechnologie gegen Flüchtende ausgestattet. Die klammheimlichen deutschen Waffenexporte dorthin im Wert von fünf Milliarden Euro in den letzten Tagen der scheidenden Bundesregierung sind strategische Investitionen in die Festung EU.
England hat nach dem Brexit ein neues Gesetz beschlossen: »Nationality and Borders Bill«. Damit wird die Kriminalisierung der Flüchtlinge und Seenotretter betrieben und das Asylsystem außer Kraft gesetzt. Schutzsuchende sollen weggesperrt, Pushbacks legitimiert werden – all das, um »kriminelle Banden daran zu hindern, aus menschlichem Elend Profit zu schlagen«, wie die junge Welt aus der Begründung zitiert. Nicht nur die EU und England, die gesamte »freie Welt« mit ihrer »wertebasierten Demokratie« rüstet auf, schottet sich ab gegen die Elenden, die fürs Überleben ihre von Krieg, Elend und Katastrophen zerstörte Heimat verlassen, ihr gesamtes Hab und Gut aufgeben und oft ihr Leben bei der Flucht riskieren. Die westliche Wertegemeinschaft macht sie zu Rechtlosen, zu einer anonymen Bedrohung unserer Lebensart, behandelt sie wie Abfall. Steffen Mau bringt die Hintergründe auf den Nenner »Wohlstandsgefälle« und »globale Ungleichverteilung von Lebenschancen« (Blätter, August 2021). Da hilft keine »Migrationspartnerschaft« und keine Bekämpfung der Schleuser. Da hilft nur ein gerechtes Weltwirtschaftssystem und die Beachtung der Menschenrechte, des Völkerrechts und der Menschenwürde auch seitens der marktkonformen Demokratien.
Es bleibt eine akademische Frage, ob es ein Alleinstellungsmerkmal dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist, Menschen nicht als gleichwertige Wesen mit Gefühlen und Rechten zu sehen, sondern sie je nach eigener Interessenlage zu benutzen oder wegzuwerfen.