Im Frühsommer 1970 schwitzte ich in der mündlichen Abiturprüfung im Fach Kunsterziehung. Die Prüfer an der sozialistischen Erweiterten Oberschule (EOS) wollten von mir etwas zum Impressionismus wissen. Neunzehn Jahre später schickte mich meine Zeitung, die Junge Welt, nach Paris. Die Franzosen feierten den 200. Jahrestag ihrer großen Revolution, darüber sollte ich berichten. Ich nutzte die Dienstreise, um mir im Musée d’Orsay die Impressionisten anzuschauen. Drei Jahre zuvor hatte Frankreichs Präsident Mitterrand im ehemaligen Bahnhof von Orsay deren einzigartige Versammlung mit Bildern und Skulpturen eröffnet. Auge in Auge mit Rodins »Denker« – das hatte was.
Unterm Glasdach im Obergeschoss, im Naturlicht, flimmerten und flirrten die Gemälde nur so, ein Feuerwerk für alle Sinne, welches – zumindest meinem Empfinden nach – das staatsoffizielle Feuerwerk am 14. Juli an Farbigkeit bei Weitem übertraf. Die Kunstwerke waren für die Ewigkeit, die Böllereien hingegen nur Schall und Rauch. Allerdings schaffte ich es nicht mehr in eine bestimmte Stadtvilla im 16. Arrondissement. Dort, im Museé Marmottan, hing die Blaupause, die Initialzündung, der Namensgeber dieser Kunstrichtung: Claude Monets »Impression, soleil levant«. Der Hafen von Le Havre im Morgendunst mit leuchtender Sonne, nichts Spektakuläres scheinbar.
Die später von der Kunstgeschichte als Revolution in der Malerei interpretierte Darstellung war auch eine. Monet hatte allem Anschein nach auf eine Komposition verzichtet. Der Zufall führte Regie, er hatte wie ein Fotograf abgebildet, was ihm vor die Augen gekommen war. Im Hintergrund des Bildes steigt Rauch aus Fabrikschloten, und ein roter Klecks ist zu sehen, dessen Widerschein auf dem Wasser liegt. Im Vordergrund steuern drei Fischerboote hinaus aufs Meer. Im Nachgang lässt sich vieles hineinlegen: Die rauchenden Schlote weisen aufs beginnende Industriezeitalter. Und da sie auch am Morgen rauchten, musste also auch nachts produziert worden sein, Schichtbetrieb rund um die Uhr also. Eine Zeitenwende: beim Sehen und Malen, beim Denken und bei der Interpretation der Welt – so kurz nach der Niederschlagung der Pariser Commune und dem Deutsch-Französischen Krieg, bei dem Maschinengewehre und stählerne Hinterladergeschütze von Krupp Weltpremiere beim Töten gefeiert hatten.
Monet hatte das Motiv – es war nicht das einzige, das ihm dieser Hafen lieferte – aus seinem Hotelfenster festgehalten und das Bild erstmals 1874 in Paris ausgestellt. Das Publikum war entrüstet, nannte es Schmiererei, weil man nicht einmal erkennen könne, um was es sich überhaupt handele. Nur Striche, Punkte, verschwimmende Konturen. Was soll das? Und das Bild trug nicht mal einen richtigen Namen. Monet selbst hatte, danach gefragt, lediglich geantwortet: »Nennen Sie es Impression.« Die kunstsinnigen Betrachter waren die konventionelle Ateliermalerei gewohnt, Sujets aus der Geschichte und der Bibel. Diese Bilder waren ordentlich gebaut und konstruiert und forderten den Geist beim Entschlüsseln. Das hier war nicht Tradition, nicht Mythos, sondern gedankenloses Gekleckse.
Hundert Jahre später sah man das anders. Da war ein Wertewandel erfolgt, und Monets »Impression« gehörte inzwischen zu den berühmtesten Werken der Kunstgeschichte. Bewaffnete Diebe drangen während der Öffnungszeit in die Villa Marmotta ein und stahlen eben jenes Gemälde und acht weitere Monets. 1986 meldete sich bei der französischen Botschaft in Tokio ein Japaner, der sich anheischig machte, gegen ein gewisses Honorar die Rückgabe zu arrangieren. 1990 kehrten nach fünfjähriger Abwesenheit die Gemälde nach Paris zurück. Mehr wissen wir nicht.
Für zwei Monate war eben dieser Monet erstmals in Deutschland zu sehen, im April kehrt es nach Paris zurück. Um dieses Bild herum wurde eine bemerkenswerte Ausstellung im Potsdam arrangiert, die nicht nur wegen des professionellen Marketings schon Tausende ins Museum Barberini des Milliardärs und Mäzens Hasso Plattner zog. Der Potsdamer Ehrenbürger besitzt mit weit über hundert Gemälden die größte Sammlung französischer Impressionisten außerhalb Frankreichs, welche – in unterschiedlichen Kontexten – bereits in verschiedenen Expositionen im Hause gezeigt wurden oder immer zu sehen sind.
Allerdings würde man die außerordentliche Leistung der Kuratoren der aktuellen Ausstellung »Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst« unzulässig schmälern, beließe man es bei dieser Feststellung. Die Macher haben weltweit in fünf Dutzend Museen und Privatsammlungen Leihgaben besorgt, die zweieinhalbtausend Jahre abendländische Kunst dokumentieren. Bildliche Abbildungen der Sonne in Marmor und Elfenbein, auf Gemälden und Lithografien, in Druckschriften und auf Fotografien – 130 Kunstwerke von der Antike bis zur Gegenwart. In unserer trüben Gegenwart mehr als nur ein Lichtblick, der den Augen schmeichelt und das Herz wärmt.
Ich war an einem Wochenende dort, bevor der berühmteste Monet wieder an seinen angestammten Platz in Paris zurückkehrt. Obgleich Tickets, wie inzwischen bei vergleichbaren Ausstellungen üblich, per elektronischer Vorbestellung für ein konkretes Zeitfenster verkauft wurden, drängten sich die Massen in den beiden Etagen. Der offenbar unterlassenen Zeit-Kontrolle stemmte sich das Aufsichtspersonal entgegen, indem es punktuell die aufsteigende Besucherflut staute. In manche Räume ließ man nur noch so viele Menschen hinein, wie sie soeben verlassen hatten. Und dabei mussten die Sicherheitskräfte noch darauf achten, dass sich nicht Kunstfreunde der Letzten Generation in die Warteschlange einreihten. Die Luft war ziemlich dick, fast so dick wie der Kartoffelbrei, der im Oktober vorigen Jahres auf Monets »Getreideschober« geflogen war. (Das Bild ist nach erfolgter Restaurierung ebenfalls wieder zu sehen.) Doch was tut man nicht alles für große Kunst, selbst schlechte Luft nimmt man dafür in Kauf und drängelt sich mit anderen vor den Ikonen der Kunstgeschichte. Die Auslöser der Handykameras rattern wie Maschinenpistolen.
Mindestens so spannend wie die Gemälde fand ich die Fotografien. Sie wurden in einem eigenen Raum präsentiert und überstrahlt von einer rotglühenden, pulsierenden Sonne – ein digitales Video von mehr als drei Stunden Länge. Die Aufnahmen zeigen Verdunklungen der Sonne, totale oder nur von Teilen des Zentralgestirns, oder den Venustransit, den Eugéne Chapuis am 6. Dezember 1882 auf Haiti auf Albuminpapier festgehalten hatte. (Vielleicht sogar auf Blättern aus den Dresdener Albuminfabriken, denn dort wurde in den 1880er Jahren der größte Teil der Weltproduktion erzeugt.)
Drei Fotografien zeigen verschiedene Phasen einer totalen Sonnenfinsternis, die ein unbekannter Fotograf in Iowa/USA am 7. August 1869 auf Glasplatten abgelichtet hatte. Die meisten Aufnahmen sind anonym, die Namen der Urheber nicht überliefert. Sie riskierten bei diesen Blicken in die Sonne ihre Sehkraft, was im Übrigen auch ihren malenden Kollegen bei der Freiluftmalerei so ging. Der Blick in die Sonnenstrahlen oder deren gleißende Widerspiegelung auf dem Wasser trüben das Augenlicht, wie jeder von uns weiß.
In der Ausstellung hängt auch ein Bild eines dänischen Malers. Schønheyder Møller hatte 1900 den Sonnenuntergang im Wald von Fontainebleau gemalt. Das vom Wasser reflektierte Licht legt sich über die Bäume, nur deren Wipfel setzen sich gegen den blauen Himmel ab. Das quadratmetergroße Gemälde selbst blendet, wirkt wie eine überbelichtete Fotografie, eine dilettantische Gegenlichtaufnahme. Wie lange wird der Maler auf das Wasser gestarrt haben, bis ihm vermutlich schwarz vor Augen wurde?
Nach vielleicht zwei Stunden treten wir ins Freie, atmen tief die frische Luft ein und schließen geblendet die Augen. Vom tiefblauen Himmel strahlt die Sonne, die wir seit Wochen, ja, Monaten vermisst haben. Als wir das Haus betraten, tropfte es noch aus dunkeltrüben Wolken. Und jetzt das! »Here comes the sun« möchte man mit den Beatles singen oder »Sonne« von Rammstein, meinetwegen auch Mozarts »Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht« aus der Zauberflöte. Egal, die Sinne sind hinlänglich angeregt, der Frühling und der Frieden können kommen.
Die Ausstellung »Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst« im Museum Barberini läuft bis zum 11. Juni 2023. Die Karte kostet 18 und der vorzügliche Katalog 34 €.