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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Massen bei Monet

Im Früh­som­mer 1970 schwitz­te ich in der münd­li­chen Abitur­prü­fung im Fach Kunst­er­zie­hung. Die Prü­fer an der sozia­li­sti­schen Erwei­ter­ten Ober­schu­le (EOS) woll­ten von mir etwas zum Impres­sio­nis­mus wis­sen. Neun­zehn Jah­re spä­ter schick­te mich mei­ne Zei­tung, die Jun­ge Welt, nach Paris. Die Fran­zo­sen fei­er­ten den 200. Jah­res­tag ihrer gro­ßen Revo­lu­ti­on, dar­über soll­te ich berich­ten. Ich nutz­te die Dienst­rei­se, um mir im Musée d’Orsay die Impres­sio­ni­sten anzu­schau­en. Drei Jah­re zuvor hat­te Frank­reichs Prä­si­dent Mit­ter­rand im ehe­ma­li­gen Bahn­hof von Orsay deren ein­zig­ar­ti­ge Ver­samm­lung mit Bil­dern und Skulp­tu­ren eröff­net. Auge in Auge mit Rodins »Den­ker« – das hat­te was.

Unterm Glas­dach im Ober­ge­schoss, im Natur­licht, flim­mer­ten und flirr­ten die Gemäl­de nur so, ein Feu­er­werk für alle Sin­ne, wel­ches – zumin­dest mei­nem Emp­fin­den nach – das staats­of­fi­zi­el­le Feu­er­werk am 14. Juli an Far­big­keit bei Wei­tem über­traf. Die Kunst­wer­ke waren für die Ewig­keit, die Böl­le­rei­en hin­ge­gen nur Schall und Rauch. Aller­dings schaff­te ich es nicht mehr in eine bestimm­te Stadt­vil­la im 16. Arron­dis­se­ment. Dort, im Museé Mar­mot­tan, hing die Blau­pau­se, die Initi­al­zün­dung, der Namens­ge­ber die­ser Kunst­rich­tung: Clau­de Monets »Impres­si­on, soleil levant«. Der Hafen von Le Hav­re im Mor­gen­dunst mit leuch­ten­der Son­ne, nichts Spek­ta­ku­lä­res scheinbar.

Die spä­ter von der Kunst­ge­schich­te als Revo­lu­ti­on in der Male­rei inter­pre­tier­te Dar­stel­lung war auch eine. Monet hat­te allem Anschein nach auf eine Kom­po­si­ti­on ver­zich­tet. Der Zufall führ­te Regie, er hat­te wie ein Foto­graf abge­bil­det, was ihm vor die Augen gekom­men war. Im Hin­ter­grund des Bil­des steigt Rauch aus Fabrik­schlo­ten, und ein roter Klecks ist zu sehen, des­sen Wider­schein auf dem Was­ser liegt. Im Vor­der­grund steu­ern drei Fischer­boo­te hin­aus aufs Meer. Im Nach­gang lässt sich vie­les hin­ein­le­gen: Die rau­chen­den Schlo­te wei­sen aufs begin­nen­de Indu­strie­zeit­al­ter. Und da sie auch am Mor­gen rauch­ten, muss­te also auch nachts pro­du­ziert wor­den sein, Schicht­be­trieb rund um die Uhr also. Eine Zei­ten­wen­de: beim Sehen und Malen, beim Den­ken und bei der Inter­pre­ta­ti­on der Welt – so kurz nach der Nie­der­schla­gung der Pari­ser Com­mu­ne und dem Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg, bei dem Maschi­nen­ge­weh­re und stäh­ler­ne Hin­ter­la­der­ge­schüt­ze von Krupp Welt­pre­mie­re beim Töten gefei­ert hatten.

Monet hat­te das Motiv – es war nicht das ein­zi­ge, das ihm die­ser Hafen lie­fer­te – aus sei­nem Hotel­fen­ster fest­ge­hal­ten und das Bild erst­mals 1874 in Paris aus­ge­stellt. Das Publi­kum war ent­rü­stet, nann­te es Schmie­re­rei, weil man nicht ein­mal erken­nen kön­ne, um was es sich über­haupt han­de­le. Nur Stri­che, Punk­te, ver­schwim­men­de Kon­tu­ren. Was soll das? Und das Bild trug nicht mal einen rich­ti­gen Namen. Monet selbst hat­te, danach gefragt, ledig­lich geant­wor­tet: »Nen­nen Sie es Impres­si­on.« Die kunst­sin­ni­gen Betrach­ter waren die kon­ven­tio­nel­le Ate­lier­ma­le­rei gewohnt, Sujets aus der Geschich­te und der Bibel. Die­se Bil­der waren ordent­lich gebaut und kon­stru­iert und for­der­ten den Geist beim Ent­schlüs­seln. Das hier war nicht Tra­di­ti­on, nicht Mythos, son­dern gedan­ken­lo­ses Gekleckse.

Hun­dert Jah­re spä­ter sah man das anders. Da war ein Wer­te­wan­del erfolgt, und Monets »Impres­si­on« gehör­te inzwi­schen zu den berühm­te­sten Wer­ken der Kunst­ge­schich­te. Bewaff­ne­te Die­be dran­gen wäh­rend der Öff­nungs­zeit in die Vil­la Mar­mot­ta ein und stah­len eben jenes Gemäl­de und acht wei­te­re Monets. 1986 mel­de­te sich bei der fran­zö­si­schen Bot­schaft in Tokio ein Japa­ner, der sich anhei­schig mach­te, gegen ein gewis­ses Hono­rar die Rück­ga­be zu arran­gie­ren. 1990 kehr­ten nach fünf­jäh­ri­ger Abwe­sen­heit die Gemäl­de nach Paris zurück. Mehr wis­sen wir nicht.

Für zwei Mona­te war eben die­ser Monet erst­mals in Deutsch­land zu sehen, im April kehrt es nach Paris zurück. Um die­ses Bild her­um wur­de eine bemer­kens­wer­te Aus­stel­lung im Pots­dam arran­giert, die nicht nur wegen des pro­fes­sio­nel­len Mar­ke­tings schon Tau­sen­de ins Muse­um Bar­be­ri­ni des Mil­li­ar­därs und Mäzens Has­so Platt­ner zog. Der Pots­da­mer Ehren­bür­ger besitzt mit weit über hun­dert Gemäl­den die größ­te Samm­lung fran­zö­si­scher Impres­sio­ni­sten außer­halb Frank­reichs, wel­che – in unter­schied­li­chen Kon­tex­ten – bereits in ver­schie­de­nen Expo­si­tio­nen im Hau­se gezeigt wur­den oder immer zu sehen sind.

Aller­dings wür­de man die außer­or­dent­li­che Lei­stung der Kura­to­ren der aktu­el­len Aus­stel­lung »Son­ne. Die Quel­le des Lichts in der Kunst« unzu­läs­sig schmä­lern, belie­ße man es bei die­ser Fest­stel­lung. Die Macher haben welt­weit in fünf Dut­zend Muse­en und Pri­vat­samm­lun­gen Leih­ga­ben besorgt, die zwei­ein­halb­tau­send Jah­re abend­län­di­sche Kunst doku­men­tie­ren. Bild­li­che Abbil­dun­gen der Son­ne in Mar­mor und Elfen­bein, auf Gemäl­den und Litho­gra­fien, in Druck­schrif­ten und auf Foto­gra­fien – 130 Kunst­wer­ke von der Anti­ke bis zur Gegen­wart. In unse­rer trü­ben Gegen­wart mehr als nur ein Licht­blick, der den Augen schmei­chelt und das Herz wärmt.

Ich war an einem Wochen­en­de dort, bevor der berühm­te­ste Monet wie­der an sei­nen ange­stamm­ten Platz in Paris zurück­kehrt. Obgleich Tickets, wie inzwi­schen bei ver­gleich­ba­ren Aus­stel­lun­gen üblich, per elek­tro­ni­scher Vor­be­stel­lung für ein kon­kre­tes Zeit­fen­ster ver­kauft wur­den, dräng­ten sich die Mas­sen in den bei­den Eta­gen. Der offen­bar unter­las­se­nen Zeit-Kon­trol­le stemm­te sich das Auf­sichts­per­so­nal ent­ge­gen, indem es punk­tu­ell die auf­stei­gen­de Besu­cher­flut stau­te. In man­che Räu­me ließ man nur noch so vie­le Men­schen hin­ein, wie sie soeben ver­las­sen hat­ten. Und dabei muss­ten die Sicher­heits­kräf­te noch dar­auf ach­ten, dass sich nicht Kunst­freun­de der Letz­ten Gene­ra­ti­on in die War­te­schlan­ge ein­reih­ten. Die Luft war ziem­lich dick, fast so dick wie der Kar­tof­fel­brei, der im Okto­ber vori­gen Jah­res auf Monets »Getrei­de­scho­ber« geflo­gen war. (Das Bild ist nach erfolg­ter Restau­rie­rung eben­falls wie­der zu sehen.) Doch was tut man nicht alles für gro­ße Kunst, selbst schlech­te Luft nimmt man dafür in Kauf und drän­gelt sich mit ande­ren vor den Iko­nen der Kunst­ge­schich­te. Die Aus­lö­ser der Han­dy­ka­me­ras rat­tern wie Maschinenpistolen.

Min­de­stens so span­nend wie die Gemäl­de fand ich die Foto­gra­fien. Sie wur­den in einem eige­nen Raum prä­sen­tiert und über­strahlt von einer rot­glü­hen­den, pul­sie­ren­den Son­ne – ein digi­ta­les Video von mehr als drei Stun­den Län­ge. Die Auf­nah­men zei­gen Ver­dunk­lun­gen der Son­ne, tota­le oder nur von Tei­len des Zen­tral­ge­stirns, oder den Venus­tran­sit, den Eugé­ne Cha­puis am 6. Dezem­ber 1882 auf Hai­ti auf Albu­min­pa­pier fest­ge­hal­ten hat­te. (Viel­leicht sogar auf Blät­tern aus den Dres­de­ner Albu­min­fa­bri­ken, denn dort wur­de in den 1880er Jah­ren der größ­te Teil der Welt­pro­duk­ti­on erzeugt.)

Drei Foto­gra­fien zei­gen ver­schie­de­ne Pha­sen einer tota­len Son­nen­fin­ster­nis, die ein unbe­kann­ter Foto­graf in Iowa/​USA am 7. August 1869 auf Glas­plat­ten abge­lich­tet hat­te. Die mei­sten Auf­nah­men sind anonym, die Namen der Urhe­ber nicht über­lie­fert. Sie ris­kier­ten bei die­sen Blicken in die Son­ne ihre Seh­kraft, was im Übri­gen auch ihren malen­den Kol­le­gen bei der Frei­luft­ma­le­rei so ging. Der Blick in die Son­nen­strah­len oder deren glei­ßen­de Wider­spie­ge­lung auf dem Was­ser trü­ben das Augen­licht, wie jeder von uns weiß.

In der Aus­stel­lung hängt auch ein Bild eines däni­schen Malers. Schøn­heyder Møl­ler hat­te 1900 den Son­nen­un­ter­gang im Wald von Fon­taine­bleau gemalt. Das vom Was­ser reflek­tier­te Licht legt sich über die Bäu­me, nur deren Wip­fel set­zen sich gegen den blau­en Him­mel ab. Das qua­drat­me­ter­gro­ße Gemäl­de selbst blen­det, wirkt wie eine über­be­lich­te­te Foto­gra­fie, eine dilet­tan­ti­sche Gegen­licht­auf­nah­me. Wie lan­ge wird der Maler auf das Was­ser gestarrt haben, bis ihm ver­mut­lich schwarz vor Augen wurde?

Nach viel­leicht zwei Stun­den tre­ten wir ins Freie, atmen tief die fri­sche Luft ein und schlie­ßen geblen­det die Augen. Vom tief­blau­en Him­mel strahlt die Son­ne, die wir seit Wochen, ja, Mona­ten ver­misst haben. Als wir das Haus betra­ten, tropf­te es noch aus dun­kel­trü­ben Wol­ken. Und jetzt das! »Here comes the sun« möch­te man mit den Beat­les sin­gen oder »Son­ne« von Ramm­stein, mei­net­we­gen auch Mozarts »Die Strah­len der Son­ne ver­trei­ben die Nacht« aus der Zau­ber­flö­te. Egal, die Sin­ne sind hin­läng­lich ange­regt, der Früh­ling und der Frie­den kön­nen kommen.

Die Aus­stel­lung »Son­ne. Die Quel­le des Lichts in der Kunst« im Muse­um Bar­be­ri­ni läuft bis zum 11. Juni 2023. Die Kar­te kostet 18 und der vor­züg­li­che Kata­log 34 €.