Mit Lügen werden Kriege begonnen und mit Lügen anschließend die Kriegsverbrechen vertuscht. Nach dem Ersten Weltkrieg beispielsweise nahmen die vermeintlichen Siegermächte, die noch in Versailles auf Überstellung der wegen Kriegsverbrechen gesuchten 900 Deutschen bestanden hatten, von diesem Ansinnen Abstand. Man wolle die ohnehin gedemütigten Deutschen nicht weiter verärgern, hieß es zur inoffiziellen Begründung, es solle darum die Sache Deutschlands sein, über seine Kriegsverbrecher selbst zu richten.
Von den 1.803 Ermittlungsverfahren, die daraufhin der Oberreichsanwalt zwischen 1921 und 1927 einleitete, kamen lediglich dreizehn Fälle vor Gericht. Davon wurden neun Verfahren mit einem Urteil abgeschlossen, von den zwölf Angeklagten erhielten sechs eine Haftstrafe. Nicht unwichtig in diesem Kontext: Zur selben Zeit wurden von der gleichen Justiz etwa siebentausend Arbeiter wegen »revolutionärer Bestrebungen« zu insgesamt fünftausend Jahren verurteilt. Bei solchen »Tätern« zeigte sich der bürgerliche Rechtsstaat also entschieden weniger nachsichtig.
Das erste Verfahren vorm Reichsgericht in Leipzig behandelte »eines der verwerflichsten Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg«, wie der Historiker Ulrich van der Heyden schreibt. Das U-Boot U 86 hatte am 27. Juni 1918 vor Irland das britische Hospitalschiff »Llandovery Castle« versenkt und anschließend die Krankenschwestern, Ärzte, Patienten und Seeleute, die sich in Rettungsflöße hatten retten können, mit Bordwaffen beschossen und ihre Boote gerammt, um sie als Zeugen dieses Massenmordes zu beseitigen. So starben 234 Menschen, die zumeist aus Kanada stammten.
Statt des Kommandanten Helmut Patzig, der die Mordaktion befehligt und sich dem Verfahren durch Flucht ins Ausland entzogen hatte, kamen zwei Oberleutnants vor Gericht. Als Bauernopfer wurden sie wegen Beihilfe zum Totschlag zu jeweils vier Jahren verurteilt. Die Strafe aber mussten sie nicht verbüßen. Ludwig Dithmar und John Claus Boldt, so ihre Namen, wurden aus der U-Haft von rechten Kameraden befreit und tauchten mit deren Hilfe unter. Die 50.000 Mark Belohnung, die die Polizeibehörde in Hamburg am 3. Dezember 1921 für den einen und der Oberreichsanwalt in Leipzig am 31. Januar 1922 für den anderen auslobten, führten nicht zu deren Ergreifung.
Das Leipziger Verfahren wurde wohl nicht zu Unrecht von Fachleuten später als »Schmierenkomödie« und »Skandal« bezeichnet. Der DDR-Anwalt Friedrich Karl Kaul, der als erster die Akten dieses Verfahrens auswertete und 1970 dazu publizierte, sah jenen Prozess hingegen prinzipiell: „So kam man im Reichsjustizministerium, dem zu dieser Zeit der Sozialdemokrat Radbruch vorstand, mit den Herren der roten Roben überein, den Fall der beiden in der Bevölkerung unbekannten Marineoffiziere als ›Muster‹ zu benutzen.«
Allerdings in einem anderen als dem gedachten Sinne wurde er zum Beispiel. Dieses Verfahren veranlasste die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die juristische Verfolgung von Völker- und Kriegsverbrechen besser nicht nationalen Gerichten zu überlassen. Leipzig lieferte die Lehre ex negativo, welche zur Bildung des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg führte. Und auch die Errichtung des Internationalen Gerichtshofes der Vereinten Nationen in Den Haag 1998 fußte letztlich auf den Erfahrungen mit den gescheiterten Versuchen nach dem Ersten Weltkrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen.
Die Mordtat Helmut Patzigs im Ersten Weltkrieg – im Zweiten sollte der Oberleutnant zur See es bis zum Fregattenkapitän und Kommandeur der faschistischen 26. Unterseebootflottille bringen – wurde verschiedentlich publizistisch behandelt. Dass das Interesse im englischen Sprachraum daran größer ist, die Rezeption von Kriegsverbrechen auf See bei Seemächten naturgemäß intensiver und nachhaltiger, hängt wohl auch mit dem weitaus höheren Stellenwert zusammen, den der erste Weltbrand dort einnimmt.
Den zahlreichen Untersuchungen – das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst fünfzehn Seiten – hat nun der Berliner Historiker Ulrich van der Heyden eine weitere Publikation hinzugefügt. Sie unterscheidet sich hinsichtlich Akribie und Anschaulichkeit kaum von allen anderen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema – bis auf einen Punkt. Der Autor kennt nach eigenem Bekunden als Einziger die Überlieferungen des Gefechtsrudergängers von U 86 und dessen Sohn. Der Seemann, der das U-Boot 1918 steuerte, als die Rettungsboote gerammt und versenkt wurden, hat sich öffentlich nie dazu erklärt: aus Furcht vielleicht, um nicht das gleiche Schicksal zu erfahren wie ein anderer Zeuge, der Kanonier Fritz Meißner, der auf die Schiffbrüchigen schießen musste. Meißner kam unmittelbar nach dem Krieg unter mysteriösen, nie aufgeklärten Umständen zu Tode. Der Gefechtsrudergänger von U 86 war darum weder Zeuge in Leipzig noch taucht er in der wissenschaftlichen Literatur auf.
Vermutlich ließen den Steuermann auch Scham und Selbstschutz schweigen – er und sein Sohn lebten in der DDR. Da gehörte die persönliche Verstrickung in Unrechtsregime und Gräuel nicht zu den Taten, derer man sich öffentlich rühmte. Der Sohn war, wohl auch mit Hilfe der Beziehungen seines Vaters zu Helmut Patzig und dessen Cousin Conrad Patzig – ein Admiral zur Rechten des Oberbefehlshabers der Nazi-Kriegsmarine –, auf einen Druckposten fernab der Ostfront gekommen. Dank dieser Verbindung blieb ihm vermutlich auch die Kriegsgefangenschaft erspart. U-Bootkommandant Patzig, der als kaufmännischer Angestellter und dann als Pensionär in NRW bis 1984 in Frieden lebte, dankte seinem einstigen Gefechtsrudergänger in der DDR für dessen Schweigen. Zweimal im Jahr traf dort ein Westpaket mit Bohnenkaffee ein. Und der ausdauernd schweigende Seemann revanchierte sich damit, dass der Erstgeborene seines Sohnes, sein Enkel, den Vornamen Patzigs erhielt: Helmut. Der Kriegsverbrecher Patzig kondolierte am 3. Juni 1970, als sein Kamerad von dieser Erde ging. Er sei ihm verbunden gewesen »in dem festen Band, das Vertrauen an Vertrauen bindet, bei dem man weiß, dass es völlig sicher besteht und kein Zweifel an ihm rütteln kann«.
Ulrich van der Heyden – geboren 1954 in Ueckermünde am Stettiner Haff – begründete diese »Geschichte der Vertuschung und nicht erfolgten Aufklärung zwischen Fememorden, Angst, Rathenau-Mördern, Canaris, Abwehr-Amt, BND, Nicht-Verfolgung von Kriegsverbrechen in der BRD und so manch andere Fragestellung«, die nichts mit seinem eigentlichen Forschungsgegenstand, Kolonialismus und Afrika, zu tun hätten, mit einer erläuternden Feststellung: »Ich musste das Buch schreiben, weil ich der Einzige noch Lebende bin, der dies alles aufklären konnte, was ich den Opfern bzw. den kanadischen Nachkommen schuldig bin.«
Möglicherweise sind persönliche Verpflichtungen auch der Grund, weshalb er den Namen des Gefechtsrudergängers beharrlich verschweigt, was der ansonsten bemerkenswerten Arbeit nicht unbedingt zuträglich ist. Van der Heyden wird seine Gründe haben, die eventuell gleichen Ursprungs sind wie die des Vorwortautors Dieter Hartwig, Fregattenkapitän a. D. und renommierter Marinehistoriker. Dessen Großvater war Admiral Friedrich Ruge, der 1919 als Kommandant sein Torpedoboot B 112 in Scapa Flow versenkte, damit es nicht den Briten in die Hände fiel. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Ruge Chef des Amtes für Kriegsschiffbau im Oberkommando der Marine und später erster Inspekteur der Marine in der Bundeswehr. Der Sozialdemokrat Dieter Hartwig, der sich der historischen Wahrheit verpflichtet fühlt, auch wenn diese schmerzt, konstatiert im Vorwort »eine mehr als bedauerliche Kontinuität der deutschen Marinegeschichte«, dass »z. B. U-Bootkommandanten, die ganz zweifellos in einem an sich schon verbrecherischen Krieg zusätzliche Kriegsverbrechen begangen hatten«, postum verschont und die Darstellungen der Ereignisse geschönt wurden.
Hartwig selbst hatte vor einigen Jahren im Landesarchiv Schleswig-Holstein herausgefunden, dass Admiral Rolf Johannesson am 21. April 1945 fünf Todesurteile gegen eine Helgoländer Widerstandsgruppe unterzeichnet hatte. Bis dato erklärter Anhänger Johannesson kritisierte Hartwig seither, dass dessen Büste in der Aula der Marineschule Mürwik steht und der an die besten Lehrgangsteilnehmer der Marineschule verliehene Preis nach Admiral Johannesson benannt ist. Auf eine diesbezügliche Anfrage der Linken im Bundestag mit Verweis auf den Traditionserlass der Bundeswehr hatte die Bundesregierung im Juni 2019 (Drucksache 19/11203) geantwortet, dass die militärgeschichtliche Lehrsammlung der Marineschule »nicht Teil der Traditionspflege der Bundeswehr« sei, zudem werde »die dort präsentierte Büste von Konteradmiral a. D. Johannesson (…) durch einen erklärenden Text für die Betrachter historisch eingeordnet und kontextualisiert«. Im Übrigen seien die Akten zu den Verfahren gegen die Helgoländer Widerstandsgruppe 1945 vernichtet worden, daher wäre die Sache »abschließend nicht mehr zu klären«. Und: »Maßgeblich für die Bewertung der Traditionswürdigkeit von Konteradmiral a. D. Johannesson sind ausschließlich seine Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr.«
Die bizarren gesellschaftlichen und über Jahrzehnte reichenden Verflechtungen, die van der Heyden mit den von ihm genannten Stichworten andeutet, sind im Text ausgeführt, zumindest angedeutet. Das Verdrängen und Vertuschen von Unrecht, an dem viele beteiligt waren, ist also nicht mit der deutschen Marine und dem Dritten Reich untergegangen.
Die Tradition lebt. Der Große Zapfenstreich mit preußischem Tschingderassabum und halbem Schlag im Beinkleid der fackeltragenden Matrosen hat’s mal wieder deutlich gezeigt.
Ulrich van der Heyden: »Die Affäre Patzig. Ein Kriegsverbrechen für das Kaiserreich?«, illustriert, Verlag Solivagus, Kiel 2021, 240 S., 19,90 €.