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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Manöveritis

Der seit 30 Jah­ren in den Nie­der­lan­den leben­de Sozi­al- und Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Ull­rich Mies hat nach­ge­zählt und fest­ge­stellt, dass es von 2014 bis 2018 weit über 1000 NATO-Mili­tär­ma­nö­ver und -Übun­gen gab. 2016 war die im Juni in Polen statt­ge­fun­de­ne Kriegs­übung von Luft- und Land­streit­kräf­ten »Ana­kon­da« das größ­te Mili­tär­ma­nö­ver. An ihm nah­men 31.000 Sol­da­ten aus 23 Staa­ten teil. Das größ­te Manö­ver des Pak­tes im Jahr 2018 trug den leicht myste­riö­sen Namen »Trident Junc­tu­re« (bei dem viel­leicht Posei­dons Drei­zack als Sym­bol sei­ner Herr­schaft über das Meer Pate stand) und ging vom 25. Okto­ber bis 7. Novem­ber in Tei­len Nor­we­gens und den umlie­gen­den Gebie­ten des Nord­at­lan­tiks und der Ost­see über die Büh­ne. An ihm nah­men rund 50.000 Sol­da­ten mit 250 Flug­zeu­gen, 65 Schif­fen und bis zu 10.000 Fahr­zeu­gen teil. Die gro­ße Mehr­heit der rund 1000 NATO-Manö­ver fand laut Mies nahe der rus­si­schen West­gren­ze statt. Obwohl Spre­cher des Mili­tär­pak­tes behaup­ten, die NATO-Übun­gen sei­en nicht gegen ein Land gerich­tet, son­dern basier­ten auf fik­ti­ven Sze­na­ri­en mit fik­ti­ven Geg­nern, ist es wahr­lich kein Geheim­nis, dass fast alle die­se Manö­ver gegen Russ­land gerich­tet waren.

Neue gro­ße und klei­ne­re Kriegs­übun­gen des Nord­at­lan­tik­pak­tes (North Atlan­tic Trea­ty Orga­nizati­on, NATO) ste­hen bevor. Einen Höhe­punkt soll 2021 das Groß­ma­nö­ver »Stead­fast Defen­der« (Stand­haf­ter Ver­tei­di­ger) bil­den. Es soll haupt­säch­lich in Polen und in Deutsch­land statt­fin­den. Inter­es­san­ter­wei­se fin­det man im Inter­net bis­her kaum Infor­ma­tio­nen über die­se gro­ße Kriegs­übung. Nicht ein­mal auf der NATO-Web­site ist ein Ein­trag zu dem geplan­ten Manö­ver zu fin­den. Trotz­dem ist die Geheim­hal­tung nicht per­fekt. Erste Infor­ma­tio­nen plau­der­te der rang­höch­ste NATO-Admi­ral und deut­sche Vize­kom­man­deur des NATO-Haupt­quar­tiers »Allied Com­mand Trans­for­ma­ti­on« in den USA, Man­fred Niel­son, aus. Der Grund für sei­ne Infor­ma­ti­ons­freu­dig­keit ist sim­pel. Er ist besorgt, nicht wegen der poli­ti­schen Fol­gen der geplan­ten Groß­übung, son­dern wegen der »erhebliche[n] Defi­zi­te der deut­schen Infra­struk­tur, die die Übung in zwei Jah­ren behin­dern könn­ten«. Wie Admi­ral Niel­son gegen­über der Welt erklär­te, wer­den bei dem Manö­ver »mehr als 10.000 US-Sol­da­ten mit rund 1100 gepan­zer­ten und unge­pan­zer­ten Fahr­zeu­gen per Schiff in meh­re­ren euro­päi­schen Häfen ankom­men und dann wei­ter nach Ost­eu­ro­pa ver­legt«. Die Infra­struk­tur Deutsch­lands, also bei­spiels­wei­se Stra­ßen, Schie­nen­net­ze und Brücken, sei­en in »einem mise­ra­blen Zustand«. Nun räche sich, dass »wir uns mehr als 20 Jah­re um sol­che Auf­ga­ben nicht aus­rei­chend geküm­mert haben«. Ja, Hit­ler war da weit­sich­ti­ger, er ließ die Auto­bah­nen bauen.

Niel­son erwar­tet auch bei der Deut­schen Bahn Schwie­rig­kei­ten. Der­zeit sei es mit ihr nicht mög­lich, in fünf Tagen inner­halb Deutsch­lands Pan­zer zu trans­por­tie­ren. Die Not ist groß, aber Hil­fe ist in Sicht. Schließ­lich stellt die EU 6,5 Mil­li­ar­den Euro bereit, um die Infra­struk­tur quer durch Euro­pa bis an die Ost­front »kriegs­fest zu machen«. Ein schö­ner Trost.

Selbst­ver­ständ­lich führt auch Russ­land Mili­tär­ma­nö­ver durch. Die FAZ behaup­tet gar, dass der Kreml mehr sol­che Übun­gen ver­an­stal­tet als die NATO. Bewei­se lie­fert das Blatt nicht. Hin und wie­der fin­den im rus­si­schen Rie­sen­reich aller­dings auch Groß­ma­nö­ver statt. Im ver­gan­ge­nen Jahr war es die Übung »Wostok 2018«, das größ­te Manö­ver seit 1981. Ein­ge­setzt wur­den in ihm laut rus­si­schem Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um 300.000 Sol­da­ten, bis zu 36.000 Pan­zer und Mili­tär­fahr­zeu­ge, mehr als 1000 Flug­zeu­ge, Hub­schrau­ber und Droh­nen sowie 80 Mari­ne­schif­fe. Chi­na betei­lig­te sich an der Übung. Obwohl der Adres­sat des Groß­ma­nö­vers in Sibi­ri­en und im Fer­nen Osten Russ­lands leicht zu erken­nen war, erklär­te Gene­ral­stabs­chef Wale­ri Ger­as­si­mow nach NATO-Vor­bild, dass es sich gegen kein ande­res Land rich­te. So trägt auch Mos­kau zu der um sich grei­fen­den Mänö­ve­ri­tis bei. Aller­dings unter­schei­den sich rus­si­sche Manö­ver von den Kriegs­übun­gen der NATO. Wäh­rend letz­te­re meist in unmit­tel­ba­rer Nähe zur rus­si­schen Gren­ze statt­fin­den, wer­den erste­re weit ent­fernt von den NATO-Haupt­mäch­ten, den USA, Deutsch­land und Frank­reich, durchgeführt.

Mitt­ler­wei­le ist die Manö­ve­ri­tis in den inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen eine gefähr­li­che Seu­che. Sie ist ansteckend und fügt der Umwelt beträcht­li­chen Scha­den zu. Und dem Staats­haus­halt ent­zieht sie Jahr für Jahr Mil­lio­nen und Aber­mil­lio­nen Euro, die an ande­rer Stel­le nutz­brin­gend ein­ge­setzt wer­den könn­ten. Allein das NATO-Manö­ver »Trident Junc­tu­re« koste­te Deutsch­land 90 Mil­lio­nen Euro. 2018 bau­te die Bun­des­wehr ihre Betei­li­gung an NATO-Manö­vern wei­ter aus und ließ sich dies mehr kosten als in den vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­ren. Rund 300 Mil­lio­nen Euro koste­te der Manö­ver­spaß. 2017 waren dafür 264 Mil­lio­nen Euro aus­ge­ge­ben worden.

Leicht lässt sich errech­nen, wie vie­le Mil­li­ar­den DM und Euro in den letz­ten Jahr­zehn­ten für Kriegs­übun­gen aus­ge­ge­ben wur­den. Abge­se­hen von einem gewis­sen Abschreckungs­ef­fekt sind die Kriegs­ma­nö­ver weit­ge­hend nutz­los. Die Mil­li­ar­den, die im Sozi­al­haus­halt drin­gend benö­tigt wür­den, wer­den zum Fen­ster hin­aus­ge­wor­fen. Die NATO-Befehls­ha­ber und die Gene­rä­le pro­ben den Krieg gegen Russ­land. Was für ein Schwach­sinn im Zeit­al­ter der Kern­waf­fen. Sie kön­nen noch solan­ge pro­ben, den Krieg könn­ten sie nicht gewin­nen. Soll­ten NATO-Aggres­so­ren doch auf rus­si­sches Ter­ri­to­ri­um vor­drin­gen und gar Kern­waf­fen ein­set­zen, wür­den die rus­si­schen Streit­kräf­te mit ato­ma­rer Gewalt zurück­schla­gen. Ber­lin wäre genau­so bedroht wie New York oder Los Ange­les. In die­sem Fall wür­de die Vor­aus­sa­ge zutref­fen: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.

Wie aktu­ell, wie erschreckend groß die Gefahr eines nuklea­ren Infer­nos ist, zeigt ein kürz­lich ver­öf­fent­lich­tes Doku­ment des Pen­ta­gons mit dem Titel »Nuklea­re Ope­ra­tio­nen«. Das Papier trägt das Datum 11. Juni 2019 und ist vom Ver­ei­nig­ten Gene­ral­stab (Joint Chiefs of Staff) abge­zeich­net. Es ent­hält die »Grund­prin­zi­pi­en und Leit­li­ni­en für die Pla­nung, Durch­füh­rung und Bewer­tung ato­ma­rer Ope­ra­tio­nen«. In dem Doku­ment ver­tre­ten die Stra­te­gen im US-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um die Auf­fas­sung, dass ein Kern­waf­fen­krieg gewon­nen wer­den kann. Die schier unglaub­li­che Annah­me for­mu­lie­ren sie mit Wor­ten, als gin­ge es um die nor­mal­ste Sache der Welt. Lako­nisch stel­len sie fest: »Der Ein­satz von Atom­waf­fen könn­te die Vor­aus­set­zun­gen für ent­schei­den­de Ergeb­nis­se und die Wie­der­her­stel­lung der stra­te­gi­schen Sta­bi­li­tät schaf­fen. Ins­be­son­de­re wird der Ein­satz einer Atom­waf­fe den Umfang einer Schlacht grund­le­gend ver­än­dern und Bedin­gun­gen schaf­fen, die beein­flus­sen, wie sich Kom­man­deu­re in einem Kon­flikt durch­set­zen wer­den.« (zitiert nach: https://deutsch.rt.com)

Das Doku­ment ergänzt die 2018 aktua­li­sier­te US-Nukle­ar­dok­trin, in der das Wei­ße Haus und das Pen­ta­gon bekräf­tig­ten, an der ato­ma­ren Erst­schlag-Opti­on fest­zu­hal­ten, und Umstän­de auf­li­sten, unter denen die USA einen sol­chen Erst­schlag für mög­lich und not­wen­dig erach­ten. Wie kreuz­ge­fähr­lich die­se Plä­ne für den Welt­frie­den, für den gesam­ten Pla­ne­ten und das Über­le­ben der Mensch­heit sind, zeigt die Tat­sa­che, dass die Ver­ei­nig­ten Staa­ten unter den Prä­si­den­ten Oba­ma und Trump enor­me Mit­tel für die Moder­ni­sie­rung der »nuklea­ren Tria­de« – luft-, was­ser- und land­ge­stütz­te Atom­ra­ke­ten – vor­ge­se­hen haben. Aus Washing­to­ner Sicht kann eine gro­ße mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung, zum Bei­spiel mit Russ­land und/​oder Chi­na, nur ein Kern­waf­fen­krieg sein. Ange­sichts der ato­ma­ren Bedro­hung sind Manö­ver, in denen mit kon­ven­tio­nel­len Waf­fen geführ­te Krie­ge geübt wer­den, sinn- und nutz­los. Das Üben von Sturm- und Gegen­an­grif­fen, Bau von Schüt­zen­grä­ben und Pon­ton­brücken, dem Zusam­men­wir­ken von Land-, See- und Luft­streit­kräf­ten, Luft­lan­de­ope­ra­tio­nen, Artil­le­rie­be­schuss und -abwehr, Pan­zer­schlach­ten und was es sonst noch an schö­nen Kriegs­spie­len gibt, ist über­flüs­sig. Mil­lio­nen und Mil­li­ar­den Dol­lar und Euros könn­ten bes­ser und frucht­brin­gend ein­ge­setzt wer­den, wenn die Manö­ve­ri­tis end­lich gestoppt wür­de. Statt immer wie­der Kriegs­ge­heul anzu­stim­men, wäre es doch ver­nünf­ti­ger, Frie­dens­bot­schaf­ten zu ver­brei­ten, zum Bei­spiel die von Fried­rich Schiller:

Hol­der Friede,
Süße Eintracht,
Wei­let, weilet
Freund­lich über die­ser Stadt!
Möge nie der Tag erscheinen,
Wo des rau­hen Krie­ges Horden
Die­ses stil­le Tal durchtoben,
Wo der Himmel,
Den des Abends sanf­te Röte
Lieb­lich malt,
Von der Dör­fer, von der Städte
Wil­dem Bran­de schreck­lich strahlt!