Jetzt aber mal was Schönes. Märchen sind was Schönes, oder? Also, ich meine die richtigen Märchen, die mit »Es war einmal« am Anfang und mit »und wenn sie nicht gestorben sind« am Schluss. Die, die man im Herzen für wahr hält, aber an die man nicht glaubt. Weil jeder Erwachsene weiß, dass es Zauberer und Feen und sprechende Tiere nicht wirklich gibt. Die anderen Märchen, die erzählt werden, damit die Zuhörenden sie glauben sollen, heißen ja auch nicht Märchen. Wenn zum Beispiel meine Enkelin mich mit ihren großen, unschuldigen Augen ansieht und sagt: »Omi, eine böse Fee hat die Tasse kaputt gemacht«, dann weiß ich: Das ist kein Märchen, das ist eine phantasievolle Ausrede. Und wenn der Papst oder ein anderer Kuttenträger mir erzählt, der heilige Geist habe mit der Jungfrau Maria einen Sohn Gottes gezeugt, dann ist das auch kein Märchen, dann ist das Religion.
Und dann gibt es noch die politischen Märchen, die Wahlversprechen und Sonntagsreden.
Die glaubt sowieso niemand mehr. Oder vielleicht doch? Wir lassen uns doch so gerne beruhigen. Und sind dann oft bitter enttäuscht! Aber weil wir alle Märchen lieben, erzähle ich Ihnen jetzt selbst ein paar Märchen. Also:
Erstes Märchen:
Es war einmal ein reiches Land. Das war so reich und liebenswert, dass viele Menschen aus anderen, weniger liebenswerten Ländern auch darin leben wollten. Die großherzigen Menschen dieses Landes hießen die Fremden willkommen. Sie freuten sich daran, dass ihr Land so beliebt war in der Welt. Sie gaben den Fremden Arbeit und ein Dach über dem Kopf und feierten mit ihnen im Biergarten ihre Willkommenskultur. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sei noch heute friedlich und freundlich mit den Fremden. Während sich die hässlichen Fremdenhasser voller Scham in ihren Kellern verkrochen haben. Und für immer schweigen.
Zweites Märchen:
Es war einmal ein großes Reich, dem gehörte die halbe Welt, und an der anderen Hälfte hatte es auch noch Anteile. Es nannte sich das »Reich der Freiheit«, denn in diesem Reich hatten alle die Freiheit, daran zu glauben, dass sie vom Tellerwäscher zum Millionär werden könnten. Und wer nicht daran glaubte, war eben selbst schuld, wenn er kein Millionär wurde. Außerdem hatte das »Reich der Freiheit« alle Freiheiten, andere Reiche zu überfallen und sie – zum Beispiel – in die Steinzeit zu bombardieren.
Es gab aber noch ein anderes großes Reich, das wurde das »Reich des Bösen« genannt. Denn was immer das Reich des Bösen tat, war böse. Das machte aber nichts, denn das Gute braucht schließlich das Böse, um zu beweisen, dass es das Gute ist. Aber als das Reich der Freiheit das Reich des Bösen immer weiter eingrenzen wollte, überschritt das Reich des Bösen seine Grenze und verletzte das Reich der Freiheit in seiner Allmacht und Skrupellosigkeit. Und alle anderen Länder empörten sich, dass das Reich des Bösen zu tun wagte, was das Reich der Freiheit bis dahin immer selbst getan hatte. Niemand wollte verdächtigt werden, zum Reich des Bösen zu gehören. Das Reich der Freiheit fand weitere Verbündete – und wenn sie nicht gestorben sind, dann kämpfen sie bis zum Untergang aller Reiche.
Drittes Märchen:
Es war einmal ein großer Wohltäter. Und alles, was er tat, war zum Wohle seiner Mitmenschen. So wurde der Wohltäter unermesslich reich. Durch seine Wohltaten! Er hatte für Millionen von Menschen ein Fenster in die Welt der Computer konstruiert und es für Milliarden Dollar an sie verkauft. Und weil dies in Amerika geschah, nannte der Wohltäter diese Fenster Windows, und er hatte eine große Freude daran. Und die Menschen hatten auch eine große Freude daran. Nun tauchten aber böse Feinde auf. Die nannte man Viren. Sie drangen in die Fenster ein, zerstörten die Computer – und die Menschen waren sauer. Da erklärte der Wohltäter die Viren zu seinen persönlichen Feinden und bezahlte viele Wissenschaftler, damit sie Virenschutzprogramme erfanden. Und die Menschen in der ganzen Welt kauften die Virenschutzprogramme für Milliarden Dollar und installierten sie auf ihrem Computer und später auch bei sich selbst. Das nannte man »impfen«. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann impfen sie jedes halbe Jahr und machen den Wohltäter immer unermesslicher reich.
Viertes Märchen:
Es war einmal ein kleines Land. Darin gehörte alles allen: Der Boden, die Häuser, die Fabriken. Niemand hatte ein Privateigentum. Wer kein Privateigentum hat, der ist aber auch kein Räuber. Denn »privat« kommt aus dem Lateinischen und heißt u. a. geraubt. Privat-Eigentum heißt also: Geraubtes Eigentum. Und wo es das gibt, da herrschen die Räuber. Und wo es kein Privateigentum gibt, da herrscht ein Unrechtsstaat. Sagen die Räuber. Und wenn die Räuber nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute und genießen die Früchte ihres Raubes.
Letztes Märchen:
Es war einmal ein Grundgesetz. In dem hieß es in Artikel 14: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Ja, das war einmal formuliert worden nach dem Großen Krieg. Als die Menschen noch wussten, wohin der Kapitalismus treiben kann, wenn er nicht gezügelt wird. Heute erleben wir, wohin er treibt, wenn er nicht gezügelt wird. Und wenn das Grundgesetz noch nicht gestorben ist, dann sollten wir es endlich anwenden!