Gedanken über Gut und Böse, Gewalt und Harmonie, Selbstbeherrschung und Freiheit erscheinen mir trostlos. Meine Sehnsucht nach einem qualitativen Urteil, das das Gute in keinerlei Weise mit dem Bösen verwechselt, sondern eindeutig davon trennt, wächst ohne Ende, befriedigt meinen Geist nicht, ist stets schuld an allem, gerade an diesem Tag, als ich in fröhlicher Stimmung durch die Stadt ging, mein Augenmerk vielmehr entgegenkommenden Augenblicken gelten sollte, mich bald antrieb, aus vielerlei Gründen an einer Kundgebung gegen den Krieg teilzunehmen.
Viele demonstrierende Menschen, die wahrscheinlich wie ich zum Teil keine Ahnung hatten, was sich tatsächlich abspielte, damit jedoch etwas Gutes tun wollten, ihrer Meinung nach für eine bessere Welt einstanden, waren auf dem Platz vor dem Grazer Rathaus versammelt. Mein tiefes Misstrauen blieb. Es war allerdings lustig, prominente Gesichter mancher Parteien und Vertreter einiger Organisationen am Rande zu beobachten und darüber nachzudenken, welche Absichten und Ziele sie dabei wohl verfolgten.
Die üblichen Parolen machten rasch jede andere Realität unsichtbar. »Die Ukraine braucht Hilfe, wir müssen sie unbedingt unterstützen. Gerechtigkeit muss siegen«, sagte ein Politiker mehrmals, und schließlich sprach ein Experte zu den Menschen. Ein Demonstrant rief gleich am Ende seiner Rede aus der Menge: »Wir werden den Diktator Putin besiegen.« – »Wir werden ihn bald zur Rechenschaft ziehen, wenn das ukrainische Militär die nötige Unterstützung der Welt bekommt. Dieses kämpft tapfer an der Front gegen Putin für den Frieden.« Alle anderen Demonstrierenden ließen darauf ihren Emotionen freien Lauf: »Ja, das können wir bestimmt gemeinsam schaffen.«
Es ging um Militär, Macht und Sieg. Niemand schrie nach Freiheit, Frieden ohne Waffen und Krieg, rief: »Gewalt gab es schon mehr als genug, es ist höchste Zeit, dass die Menschheit endlich etwas Neues erfindet, Konflikte friedlich, nicht mit Gegengewalt, zu lösen sucht und die Waffen niederlegt, auch wenn sie einigen viel Macht und Wohlstand bringen. Sie erzeugen Gewalt und kranke Seelen.«
Aber wer würde so etwas Unerfüllbares in seinem Dämmerzustand, stets manipuliert durch die Gewalt der Politik und die Macht der Wirtschaft, wünschen, die Wirklichkeit dann schlagartig von allen Seiten prüfend betrachten?
Die Gedanken führten mich zum Fluss, der fast am Hauptplatz vorbeifließt. Der Wind wehte, die Sonne wirkte an diesem Märztag trotzdem warm.
Ich setzte mich hin, sprach, wie schon immer, zu ihm: »Schöner Fluss: Ich will dein Sein. Du kannst fließen, wohin du willst. Du bist stets und überall frei, ohne Grenzen und Gewalt. Sprich doch nur einmal zu mir, ich stehe oft hier, nichts ist so klar wie du. Ich will von dir hören, wie ich leben, loslassen, weniger denken und leiden kann. Du bist leicht, fein und sicher überaus rein, ohne Schuld, Kummer und diese großen, grundlosen Sorgen, die mich bedrücken. Bring mir etwas von deiner Weisheit bei. Der Mensch kennt nur die Geltung von Geld, Macht und Waffen und glaubt tatsächlich, er wäre daher überaus wichtig. Neben dir bin ich doch nur eine armselige Figur. Das erkenne ich, wenn ich lange unter den Menschen stehe.«
Der Fluss: »Was ist los mit dir? Glaubst du wirklich, ich wäre frei? Ich bin ebenso im ständigen Krieg. Einmal werde ich umgeleitet oder aus politischen Gründen gestoppt, ein andermal wird mein Tempo verlangsamt und ich werde andauernd mit dem Müll der Menschheit gefüllt. Das menschliche Verhalten verwirrt mich. Wer will diese ganze menschliche Gewalt?«
»Du schaust aber gesund und glänzend aus.«
»Das ist der Schein, es lässt sich leicht himmlisch aussehen. Der Mensch will nichts lieber als das.«
»Wie gut, dass du sonst nicht sprichst, nur dein schönes Sein zeigst und deshalb viel nützlicher sein kannst. Menschliche Worte, Blicke können grausam sein, Seelen verletzen, gute Energie in der Menschheit vernichten. Deine Töne sind nicht so schwer wie Blei auf dem Herzen, sie sind die Ruhe in sich. Ich liebe dein heilendes Rauschen. Dies ist für mich genug Freiheit und Frieden.«
»Anscheinend denkst du zu viel.«
»Ich kann nichts dafür, möchte aber keinen Krieg mehr. Sein brutales Gesicht macht mich stets traurig. Ich will die Freiheit, die leider nirgends existiert, möchte diese Liebe, die sich ohne Erwartung erhält, die es allem Anschein nach nicht gibt, trachte nach Gleichheit, Gerechtigkeit, die selten jemand unbewusst akzeptiert, mag die Wildheit der Natur, die kaum Beachtung erhält. Bist du tatsächlich nicht friedvoll?«
»Bist du tatsächlich so naiv? Wie sollte mir das gelingen, wenn ich nicht einmal mich selbst im Griff habe, die Tiere und Fische in meinen Gewässern hart um ihren Bestand kämpfen? Dies stört jegliche Harmonie in mir. Wofür aber die Mühe, das ganze Kopfzerbrechen, wenn selten jemand andere Wirklichkeit außer dieser hier akzeptiert, selten jemand, der ein bisschen Einfluss hat, etwas anderes auf dieser Erde will?
Sogar die Luft ist nicht gewaltfrei. Die Vögel werden zum Vergnügen oft vom Himmel geschossen. Wenn sie fliehen, weit wegfliegen, werden sie entweder verfolgt oder sie verhungern, weil ihnen die Natur nicht mehr ausreichend Futter bieten kann. Die Dürre breitet sich aus, die Wälder werden verbaut, die Flüsse und Bäche trocknen aus, weil man damit überflüssige Energie erzeugen will. So sind die Vögel auch abhängig, gar nicht frei, andauernd im Krieg. Und du willst in diesem Sein, mit deinem winzigen Gehirn, das dir nicht ganz gehört und über das du deshalb keine Kontrolle hast, zwischen Gut und Böse, Krieg und Frieden unterscheiden.«
»Es ist gar nicht leicht, wenn der Kopf sich am besten missbrauchen lässt. Könnte sein, dass das menschliche Wesen zu selbstgerecht, zu gefühllos geworden ist und deshalb nicht in der Lage sein kann, andere Fakten zu verstehen, um menschlich, nachhaltig zu handeln?«
»Du bist eben ein Mensch! Vergeude dein Leben nicht damit. Ein Fluss will, muss immer weiterfließen, hier und jetzt dies trotz allem genießen. Außerdem glaube ich dir nicht, kaum gehst du ebenfalls in die Politik, willst du nur Macht und Krieg. Ich habe einige Menschen wie dich gekannt, die zuerst heftig gegen die selbstsüchtige Weltordnung kämpften, dann an der Macht waren, uns und dies alles vergaßen und ›brav‹ viel Geld machten. Die Herrschenden dieser Welt lieben anscheinend den Krieg.
Übrigens bin ich längst nicht so rein und fein, wie du glaubst. An meinen schönsten Ufern kämpft man, tötet man Menschen und Tiere. Meine Seele ist mit deren Blut befleckt. In meinem Abgrund findet man jede Menge Patronenhülsen, Bomben und sonstige Reste des Kriegs. Ich trage seinen grausamen Geist in mir, er ist überall mit mir, man trinkt allseits aus mir. Wo ich nicht bin, bringt die Luft ihn mit sich, man atmet ihn ein, diesen Geist des Krieges, somit sind wir weit und breit im Krieg und haben ihn endlos in uns. Du glaubst wirklich, du bist der einzige Pazifist? Jeden Tag bete ich, dass dies alles endlich aufhört. Ich bin inzwischen alt und weise geworden, die Waffen werden weiterproduziert, Kriege werden weitergeführt, und ich ersticke im Müll.«
»Deshalb bin ich hier, möchte etwas dagegen, gegen diese Realität des Menschen tun. Das kann doch nicht alles in diesem Leben sein.«
»Das ist aber offensichtlich alles. Wir sind im Laufe der Evolution Mittäter dieses Unfriedens geworden. Die gewohnten Werte blenden, regen doch immer die höchsten Gefühle in der Menschheit an, und wenn sie ebenfalls oft das Böse in sich verbergen, wirken sie trotzdem immer befriedigend auf uns. Selbstbetrug ist wahrscheinlich das wahre Gut und die einzige Realität hier. Deine Sehnsucht ist jenseits dieser menschlichen Wirklichkeit einfach lächerlich. Wer bist du überhaupt, dass du dich gegen den gewohnten Willen der Menschheit auflehnst? Hör am besten gleich damit auf. Lass uns jetzt lieber tanzen und lachen.«
Als ich aus dem Traum aufwachte, hörte ich die Natur, das Wasser rauschte, die Vögel zwitscherten über mir. Sie sprachen vermutlich laut zu mir. Mein Geist war doch wieder in dem kleinen Raum meines Kopfs eingesperrt, gefesselt, nicht fähig zu etwas anderem: »Ich will fließen, wehen, fliegen, um dieser menschlichen Starre endlich zu entfliehen.«
Dilan Canbaz wurde 1973 in Sulaimaniyya im irakischen Kurdistan geboren, kam mit 22 Jahren nach Graz, schreibt und veröffentlicht seit 2018.