Meret Oppenheim, 1913 in Berlin geboren, war 18, als sie nach Paris ging, sich den Surrealisten anschloss und deren junge Fee wurde. Als sie ein mit Pelz beklebtes Metallrohr als Armband trug, soll Picasso angeregt haben, man könne eigentlich alles mit Pelz überziehen, worauf Meret ihm erwiderte: »Auch diesen Teller und die Tasse.« Für eine Ausstellung surrealistischer Objekte hatte sie eine große Tasse mit Teller und Löffel mit Gazellenfell überzogen, und Alfred Barr jr. sollte sie dann später für die Sammlung des damals noch jungen Museums of Modern Art in New York erwerben. In der Folgezeit wurde die »Pelztasse« eines der meistzitierten und abgebildeten Werke des Surrealismus und führte ein langes, geheimes Leben als sexuelles Symbol, während der Name ihrer Schöpferin in Vergessenheit geraten zu sein schien. Erst in den 1970er Jahren wurde einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, welch ein bedeutendes Werk die Künstlerin geschaffen hatte.
Der Basler Kunsthistoriker Simon Baur, der als freier Kurator und Kunstpublizist arbeitet, hat auf der Grundlage vieler Aufsätze über Meret Oppenheim ein Buch über sie verfasst, in dem er Fragen an ihr Leben und Werk richtet, die so noch nie gestellt wurden. Überwältigend sind zunächst einmal die Breite und Fülle eines Werkes, das nicht eine Person, Meret Oppenheim, sondern mehrere gleichzeitig geschaffen zu haben scheinen. »Mein Stil ist, dass kein Bild dem anderen gleicht.« Welche Vielfalt der Themenkreise: Keimendes, Wachsendes, Gelebtes, Erträumtes, Sonne, Mond und Sterne, Himmel und Wolken, Geister und Kobolde, die Schlange, Personifizierungen, Kleinkreaturen. Eine ebenso reiche Vielfalt der Werkformen: Zeichnung, Collage, Assemblage, Relief, modellierte, konstruierte, gehauene Skulptur, Malerei, auch Formen, die überhaupt nicht einzuordnen sind, schließlich Sprache von der Poesie der Werktitel bis zu eigener Prosa und Poesie. Nicht alles ist ihr als Ausdruck einer eigenen Formensprache gelungen. Doch gibt es höchst signifikante Beispiele poetischer Umsetzung von Relikten der Wirklichkeit in eine Welt der Imagination. M. O., wie sie sich selbst genannt hat, lässt sich keiner Richtung zuordnen – auch von den Surrealisten hat sie sich bald wieder abgewandt –, sie schöpfte aus dem Unterbewusstsein, aus Träumen, wollte immer frei und unabhängig sein.
Nun ist Simon Baurs Buch aber keine Biografie, sondern eine Sammlung von Texten unterschiedlicher Thematik. Wer hat Meret Oppenheim beeinflusst, mit wem ging sie um (das waren vor allem Arp und Giacometti)? Wie sind die Text-Bild-Verhältnisse in ihren Werken beschaffen? Wie hat sie Aspekte des Designs in ihre Kunst integriert? Weshalb sind die Naturbezüge in ihrem Werk so wichtig? Warum hat sie sich in etwa 40 Werken ausgerechnet mit Vögeln und Vogelflug befasst, und – nun geht es nur noch um »einige Gedankenfäden zum Weiterspinnen« – welche Rolle spielen Wolken, Orangen, Bienen, Übersinnliches und anderes in ihrem Werk? Was hat es mit dem »ausgefallenen« Bildchen des »Malers Znüni« (1972) auf sich, und ist der mit verwelkten Blumen dekorierte Waldschrat, den sie 1942 der Kunstmäzenin Maja Sacher schickte, wirklich ein männliches Wesen und nicht eher eine Vorläuferin des legendären »Frühlingsfestes« von 1959? Zwar lesen sich die Beiträge spannend und gewinnvoll, aber ihre Darbietung ist doch so heterogen und disparat, dass hier der Versuch einer Synthese unternommen, das Werk der Künstlerin in eine zeit- und entwicklungsgeschichtliche Abfolge gebracht werden soll, wobei die Ergebnisse der Betrachtungen Baurs mit einzubeziehen sind.
Das künstlerische Werk Meret Oppenheims umfasst mehr als ein halbes Jahrhundert, es reicht vom »Schulheft« der Sechzehnjährigen, in das sie 1930 die skurrile Gleichung »x = Hase« eingetragen und das sie ihrem Vater geschenkt hatte, »um ihm meine Begabung in Mathematik zu zeigen«, bis zur Halskette »Husch, husch« aus dem Todesjahr 1985. Die Fotos von Man Ray, des damals gefragtesten Fotografen, aus dem Jahre 1933 haben zum Mythos der Künstlerin beigetragen. Die junge Meret Oppenheim mit geschwärzten Händen und Armen am Rad der Druckerpresse. Das Rad fungiert als Buchstabe, der den nackten weiblichen Körper einrahmt. Doch ihrer Glorifizierung als Muse der Surrealisten war bald eine persönliche und künstlerische Krise gefolgt, die nach ihren eigenen Angaben bis 1954 andauern sollte. 1938 – sie war ein Jahr zuvor in die Schweiz zurückgekehrt – malte sie das Bild »Die Steinfrau«, die diese bleierne Lähmung aller Lebensenergien zum Ausdruck bringt.
Ist es Man Rays Fotografie der »Schwimmerin« Meret Oppenheim, die, ans Land gespült, versteinerte? Ihre Füße im Wasser sind die einzigen Zeichen von Leben und Überleben. »Keine Antwort« von 1961 ist ein ledergerahmter Holzblock mit zwei Bohrlöchern, in die man wie in zwei stumpfe Augen schaut. »Frühlingstag« dagegen, ebenfalls von 1961, ist ein quellend sinnliches Reliefbild. Beide Werke übertragen körperlich unmittelbar ein als Bild erfasstes Gefühl. Besonders provokant wirkt ihre – wohl unter dem Einfluss der Baseler Fasnacht entstandene – »Maske mit Bäh-Zunge« (o. J.), die dem Zeitgeist die Zunge herausstreckt.
1959 organisierte sie in Bern jenes makabre, ein Fruchtbarkeitsfest symbolisierende »Frühlingsfest«, das auf dem Körper einer nackten Frau aufgetischt wurde. Es war eine ihrer letzten surrealistischen Arbeiten. Baur erkennt hier eine Analogie zur »Steinfrau«, deren Oberkörper zwar aus »totem« Material besteht, deren im Wasser – der Metapher für Leben – befindlichen Beine sich aber bewegen können. Vom »Frühlingsfest« sieht er einen direkten Bezug zu dem ein Jahr zuvor entstandenen, aber erst 1983 in Bern aufgestellten und seitdem heftig diskutierten Brunnen, um den sich ein »Moospelz« windet. Dass M.O. dann ihre jahrelange Schaffenskrise überwunden hat, demonstriert ihr mehrteiliges Ensemble »Bon appetit, Marcel! (Die weiße Königin)« (1966/1978): Eine – diesmal – gebackene Frauen-Figur liegt, von Gabel und Messer flankiert, auf einem Schachbrett aus Wachstuch verzehrfertig bereit. Aber das aus der Wirbelsäule eines Rebhuhns bestehende Rückgrat der Dame, dieser Herrscherin des Schachspiels, lässt sich nicht so ohne weiteres brechen. Drei Jahre vor der Annahme des politischen Stimmrechts für Frauen in der Schweiz hat Meret Oppenheim mit dem »Abendkleid mit Büstenhalter-Collier« (1968) einen Frauenkörper sadistisch hergerichtet: Eine Schaufensterpuppe, bei der Strumpfhalterklammern an den Brustwarzen befestigt sind, offenbart uns die Abgründe sexueller Gewaltfantasien.
Materialien und Mittel erhalten bei ihr eine bis dahin unbekannte Freiheit: Wirklichkeit wie Kunst werden zitiert und ironisierend hinterfragt, zugleich kommt ein Wetteifer in der Verwendung ungewöhnlicher Stoffe in Gang. Literatur und Kunstgeschichte werden geistreich persifliert. Alltägliche Gegenstände sind wie biomorphe Wesen gezeichnet. Die nur angedeuteten Formen erscheinen aufgrund ihrer assoziativen Körperhaftigkeit wie virtuelle Skulpturen mit menschlichem Bezug. »Das Paar« (1956), ein Paar Damen-Schnürstiefel: Die Spitzen sind vorne zusammengewachsen, so als könnten sie sich nie mehr aus einem allzu heftigen Kuss lösen. In dem Gemälde »Daphne und Apoll« (1943) sind beide, Verfolgte wie Verfolger, in einer Metamorphose begriffen, Daphne flieht nicht vor Apoll, sondern wendet sich ihm zu – aus dem Gegensatzpaar wird von Oppenheim die Annäherung beider Geschlechter abgeleitet. 1971 hat sie die Skulptur »Genoveva« ausgeführt: An einem breiten Holzbrett sind seitlich zwei Kerben symmetrisch angebracht, in welche je ein abgebrochener Stecken geklemmt ist. Sie gleichen gebrochenen Armen – Ausdruck der Ohnmacht und zerstörten Freiheit der Frau. Baur verweist auf die vielen Verwandlungsprozesse der Genoveva-Figur, vom Gemälde »Genoveva und vier Echos« (1956) zu »Genoveva über dem Wasser schwebend« (1957).
Ihre Objekte frappieren durch ihre lapidare Aggressivität. Es dominiert eine fast minutiöse Korrespondenz poetisch inszenierter Details. Der Betrachter erlebt ein Ensemble addierter Körperzitate, die in ihrer ungewöhnlichen Koppelung eine fast kultische Magie ausdrücken. So war den Damen-»Pelzhandschuhen« von 1936 eine Prothese mit hölzernen Fingern und lackierten Nägeln untergelegt worden, die wie monströse Krallen aus dem Pelz hervorragen – eine Parodie surrealistischer Fantasien der Frau als unheimliches, sexuell bedrohliches Raubtier. Dagegen tragen die Leder-»Handschuhe (Paar)« von 1985 die Skelettumrisse der menschlichen Hand wie ein modisches Dekor – die Mode ist vergänglich, ohne ihren Tod kann keine neue Mode entstehen. Mit der Fotografie »Röntgenaufnahme des Schädels M. O.« (1964), die auf die rein physische Durchdringung der Körperhülle hinzielt, soll der traditionellen Funktion des Porträts, den inneren Zustand des Porträtierten in seiner Physiognomie bloßzulegen, ironisch eine Abfuhr erteilt werden. Dagegen tritt in ihrem »Porträt mit Tätowierung« (1980) ihr fotografiertes Gesicht hinter eine Übermalung zurück. Ihre Selbstinszenierung als »Schamanin« soll jeder Individualisierung widersprechen.
1970 stellte sie ein großes Objekt her, »Die alte Schlange Natur«. Schwarz glänzend mit glattem weißem Kopf liegt die Schlange, Symbol des Urprinzips der Natur, zusammengerollt auf einem vollen Kohlensack. Die Natur ist hier als Vereinigung von Gegensätzen dargestellt. Oppenheim hatte ihre eigene Version vom biblischen Sündenfall. Die Schlange, die sich auch durch ihr ganzes Werk schlängelt, habe glücklicherweise Eva dazu verleitet, zuerst vom Baum der Erkenntnis, des bewussten Denkens, zu essen, bevor sie den Apfel Adam gab. Das verpflichte alle Frauen zu Aktivität, Neugier, Wissensdurst und zu scharfem Gebrauch ihres Verstandes. Meret Oppenheim hat sich ihr ganzes Leben daran gehalten.
Simon Baur hat viele weitere Geheimnisse im Werk Meret Oppenheims aufgespürt. Aber sie sind längst noch nicht alle gehoben. Wer sein Buch liest, bekommt Lust, sich weiter mit dieser »aufregenden und ungewöhnlichen Künstlerin« zu beschäftigen. Denn – so der Autor – »ihr Werk ist inspirierend, vielschichtig und zeitkritisch und damit seit Jahrzehnten aktuell«.
Simon Baur: Meret Oppenheim Geheimnisse. Eine Reise durch Leben und Werk, Zürich 2021 (Verlag Scheidegger & Spiess), 227 S., 38 €.