Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Lyrische Selfies

Man sieht mit­un­ter Men­schen sich ver­ren­ken, bevor sie ihr Han­dy »aus­lö­sen«, um sich prä­sen­ta­bel zu machen und danach viel­leicht die Welt an ihren Befind­lich­kei­ten teil­ha­ben zu las­sen. Die Gedich­te von Manue­la Bibrach, die durch­aus Sel­fies in Wor­ten glei­chen, kom­men dage­gen ziem­lich direkt daher und fast immer ohne Posen aus. Das heißt aber nicht, dass sie gänz­lich unan­ge­strengt wären. Mei­stens jedoch zeigt sich Manue­la Bibrach ziem­lich unver­hüllt. Da passt dann auch ein Gedicht mit dem lapi­da­ren Titel »nackt«, in dem sich das lyri­sche Ich, »das gewun­de­ne Hand­tuch im Genick« in die Welt stellt, wobei Hima­la­ya, Pini­en, die Anden und ein Ste­go­s­au­rus als Kulis­se fungieren.

Doch das ver­meint­lich Spie­le­ri­sche dient auch immer dazu, einen dunk­len Hin­ter­sinn zu evo­zie­ren. Das lässt sich zum Bei­spiel an den Gedich­ten des ersten Buch­teils »Ich bin das dunk­le Diri­ü­l­io« (das ist dem Amsel­ge­sang abge­lauscht) fin­den. Hier sind wohl die besten Gedich­te des Ban­des ver­sam­melt. In »Dachs­mond« wird ein an Georg Tra­kl gemah­nen­der Klang erreicht, der sich an den Leser hef­tet und mit ihm geht. Eine Herb­st­idyl­le taucht auf, in der still gestor­ben wird: »Die Jäger stei­gen lei­se durchs Geäst und lau­ern.« Dann das Geräusch bre­chen­der Zwei­ge, split­tern­der Bor­ke, und es »wan­dern fri­sche Stäm­me dem Holz­voll­ern­ter in das Maul.« Dem lyri­schen Topos »Herbst« viel, auch schwer­wie­gen­de Bedeu­tung, mit­zu­ge­ben, das ist üblich. Aber die­ses über­ra­schen­de Bild macht sprach­los. Ähn­lich kräf­tig ist auch ein Som­mer­ge­dicht, das mit Erin­ne­run­gen an Stich­lings- und Kaul­quap­pen­fang anhebt und ange­sichts der leta­len Fol­gen der Tier­lie­be postu­liert: »nur wir hat­ten unse­rer Zäh­mung nichts entgegenzusetzen.«

Nun sind nicht alle Gedich­te des Ban­des von so blitz­schlag­haf­ter Wir­kung, manch­mal wird ein wenig kon­stru­iert, etwa der Bezug zum Pop­star David Bowie. Ande­rer­seits ist »Ich habe wie­der von Cobain geträumt«, also vom eksta­ti­schen Sän­ger und Gitar­ri­sten der Band »Nir­va­na«, regel­recht fes­selnd, weil die fast sel­fie­ar­ti­ge Nähe auf­leuch­tet: »er mir als Mensch ver­traut nicht nur /​ Musik«. Wer Kurt Cobains Musik noch im Ohr hat, wird das Gedicht auch hören können.

Der Bezug zu Musik, Lite­ra­tur und Gei­stes­wis­sen­schaft scheint der Autorin wich­tig zu sein. Schön ist, dass ihr dabei das Augen­zwin­kern gelingt, etwa wenn von Zoo-Fla­min­gos gesagt wird, die Schei­be sei die Gren­ze ihrer Welt (Lud­wig Witt­gen­stein), oder dass Undi­ne das Töten ler­nen müs­se (Inge­borg Bach­mann). Gei­sti­ge Stol­per­fal­len sol­cher Art ver­hin­dern jede Ver­trau­lich­keit. Die­se Wir­kung hat auch das Voka­bu­lar Bibrachs, das For­sches und mili­tä­risch Klin­gen­des benutzt, Bezü­ge zur Male­rei und zum Welt­raum herstellt.

Es wird in dem unbe­dingt emp­feh­lens­wer­ten Buch jeder Leser etwas fin­den, das ihn hoch­reißt, mit­nimmt und beglei­tet, auch im Sin­ne des Nach­ge­hens. Mir ging es so mit dem selt­sa­men Wort »Schmack­a­du­zi­en« und den Gedich­ten des Kapi­tels »Defek­te«. Kühl und nüch­tern wer­den psych­ia­tri­sche »Feh­ler­codes« mit­ge­teilt, von Per­so­nen, die A., B. usw. hei­ßen. Oder D., die mit Druck nicht zurecht­kommt, deren Arme ver­bun­den sind, die tie­fe Schnit­te und Nar­ben auf­wei­sen. Auch der Geschich­te und den Gespen­stern, die sie in die Gegen­wart schickt, weicht die Autorin nicht aus: »Schwe­ster 0 nennt schwie­ri­ge Pati­en­ten /​ Schat­zi und dann brennt die Luft /​ wer mit­tags mit Ver­spä­tung /​ an die Luke tritt hat Pech und pin­keln gehn /​ kann einer in die Schleu­se wenn’s beliebt /​ denn Jesus in Klein-Ausch­witz ist sie /​ sagt sie sel­ber sicher nicht.«

Der Ein­tritt in die Welt der Lyrik mit sich ein­prä­gen­den Gedich­ten ist Manue­la Bibrach ohne Wenn und Aber gelun­gen. Aus den Sel­fies wer­den Wiedererkennungsfotos.

Ihr Buch ist ver­se­hen mit Zeich­nun­gen von Pètrus Akkor­dé­on. Wie jeder im Buch sein Lieb­lings­ge­dicht oder – sehr wahr­schein­lich! – sei­ne Lieb­lings­ge­dich­te fin­den wird, so auch sei­ne Lieblingszeichnung(en). Ich fand ein Ziga­ret­ten fres­sen­des Mon­strum im Kapi­tel »Niko­tin« zum Fürch­ten und zum Lachen.

Das ver­stän­di­ge, ver­ständ­nis­vol­le und tief­grün­di­ge Nach­wort von Patrick Wil­den hilft zu ver­ste­hen und zu begrei­fen, ja, schafft eine Nähe, wo in den Tex­ten Distan­ziert­heit wal­te­te. Jedoch: Etwas mehr kri­ti­sche Distanz wäre dem Nach­wort­au­tor zu wün­schen gewe­sen, wie­wohl sei­nen Befun­den zuzu­stim­men ist. Aber, so ver­kün­det Manue­la Bibrach: »haben wir uns über­haupt /​ gekannt ich /​ den­ke nicht«. Und sind nicht Sel­fies auch eine Art, sich selbst auf die Spur zu kommen.

Manue­la Bibrach: Radi­os mit Natur­stim­me. Gedich­te. Mit Gra­fi­ken von Pètrus Akkor­dé­on und einem Nach­wort von Patrick Wil­den, dr. zie­then ver­lag, Oschers­le­ben 2023, 96 S., 20 €.