Man sieht mitunter Menschen sich verrenken, bevor sie ihr Handy »auslösen«, um sich präsentabel zu machen und danach vielleicht die Welt an ihren Befindlichkeiten teilhaben zu lassen. Die Gedichte von Manuela Bibrach, die durchaus Selfies in Worten gleichen, kommen dagegen ziemlich direkt daher und fast immer ohne Posen aus. Das heißt aber nicht, dass sie gänzlich unangestrengt wären. Meistens jedoch zeigt sich Manuela Bibrach ziemlich unverhüllt. Da passt dann auch ein Gedicht mit dem lapidaren Titel »nackt«, in dem sich das lyrische Ich, »das gewundene Handtuch im Genick« in die Welt stellt, wobei Himalaya, Pinien, die Anden und ein Stegosaurus als Kulisse fungieren.
Doch das vermeintlich Spielerische dient auch immer dazu, einen dunklen Hintersinn zu evozieren. Das lässt sich zum Beispiel an den Gedichten des ersten Buchteils »Ich bin das dunkle Diriülio« (das ist dem Amselgesang abgelauscht) finden. Hier sind wohl die besten Gedichte des Bandes versammelt. In »Dachsmond« wird ein an Georg Trakl gemahnender Klang erreicht, der sich an den Leser heftet und mit ihm geht. Eine Herbstidylle taucht auf, in der still gestorben wird: »Die Jäger steigen leise durchs Geäst und lauern.« Dann das Geräusch brechender Zweige, splitternder Borke, und es »wandern frische Stämme dem Holzvollernter in das Maul.« Dem lyrischen Topos »Herbst« viel, auch schwerwiegende Bedeutung, mitzugeben, das ist üblich. Aber dieses überraschende Bild macht sprachlos. Ähnlich kräftig ist auch ein Sommergedicht, das mit Erinnerungen an Stichlings- und Kaulquappenfang anhebt und angesichts der letalen Folgen der Tierliebe postuliert: »nur wir hatten unserer Zähmung nichts entgegenzusetzen.«
Nun sind nicht alle Gedichte des Bandes von so blitzschlaghafter Wirkung, manchmal wird ein wenig konstruiert, etwa der Bezug zum Popstar David Bowie. Andererseits ist »Ich habe wieder von Cobain geträumt«, also vom ekstatischen Sänger und Gitarristen der Band »Nirvana«, regelrecht fesselnd, weil die fast selfieartige Nähe aufleuchtet: »er mir als Mensch vertraut nicht nur / Musik«. Wer Kurt Cobains Musik noch im Ohr hat, wird das Gedicht auch hören können.
Der Bezug zu Musik, Literatur und Geisteswissenschaft scheint der Autorin wichtig zu sein. Schön ist, dass ihr dabei das Augenzwinkern gelingt, etwa wenn von Zoo-Flamingos gesagt wird, die Scheibe sei die Grenze ihrer Welt (Ludwig Wittgenstein), oder dass Undine das Töten lernen müsse (Ingeborg Bachmann). Geistige Stolperfallen solcher Art verhindern jede Vertraulichkeit. Diese Wirkung hat auch das Vokabular Bibrachs, das Forsches und militärisch Klingendes benutzt, Bezüge zur Malerei und zum Weltraum herstellt.
Es wird in dem unbedingt empfehlenswerten Buch jeder Leser etwas finden, das ihn hochreißt, mitnimmt und begleitet, auch im Sinne des Nachgehens. Mir ging es so mit dem seltsamen Wort »Schmackaduzien« und den Gedichten des Kapitels »Defekte«. Kühl und nüchtern werden psychiatrische »Fehlercodes« mitgeteilt, von Personen, die A., B. usw. heißen. Oder D., die mit Druck nicht zurechtkommt, deren Arme verbunden sind, die tiefe Schnitte und Narben aufweisen. Auch der Geschichte und den Gespenstern, die sie in die Gegenwart schickt, weicht die Autorin nicht aus: »Schwester 0 nennt schwierige Patienten / Schatzi und dann brennt die Luft / wer mittags mit Verspätung / an die Luke tritt hat Pech und pinkeln gehn / kann einer in die Schleuse wenn’s beliebt / denn Jesus in Klein-Auschwitz ist sie / sagt sie selber sicher nicht.«
Der Eintritt in die Welt der Lyrik mit sich einprägenden Gedichten ist Manuela Bibrach ohne Wenn und Aber gelungen. Aus den Selfies werden Wiedererkennungsfotos.
Ihr Buch ist versehen mit Zeichnungen von Pètrus Akkordéon. Wie jeder im Buch sein Lieblingsgedicht oder – sehr wahrscheinlich! – seine Lieblingsgedichte finden wird, so auch seine Lieblingszeichnung(en). Ich fand ein Zigaretten fressendes Monstrum im Kapitel »Nikotin« zum Fürchten und zum Lachen.
Das verständige, verständnisvolle und tiefgründige Nachwort von Patrick Wilden hilft zu verstehen und zu begreifen, ja, schafft eine Nähe, wo in den Texten Distanziertheit waltete. Jedoch: Etwas mehr kritische Distanz wäre dem Nachwortautor zu wünschen gewesen, wiewohl seinen Befunden zuzustimmen ist. Aber, so verkündet Manuela Bibrach: »haben wir uns überhaupt / gekannt ich / denke nicht«. Und sind nicht Selfies auch eine Art, sich selbst auf die Spur zu kommen.
Manuela Bibrach: Radios mit Naturstimme. Gedichte. Mit Grafiken von Pètrus Akkordéon und einem Nachwort von Patrick Wilden, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2023, 96 S., 20 €.