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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lyrik als Ausdruck radikaler Ideen

Der Haupt­ti­tel der neu­en Ver­öf­fent­li­chung von Jen­ny Far­rell macht stut­zig: »Revo­lu­tio­nä­re Roman­tik« – wie ist das zu ver­ste­hen? Han­delt es sich um eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Vor­wurf der »Real­po­li­ti­ker«, Revo­lu­tio­nä­re sei­en naiv-ahnungs­lo­se Roman­ti­ker? Oder wird hier mit einer Denk­wei­se abge­rech­net, wonach die Revo­lu­ti­on ein roman­ti­sches Relikt sei, unge­eig­net in Zei­ten wie den uns­ri­gen, in denen eine auf Refor­men gegrün­de­te gesell­schaft­li­che Trans­for­ma­ti­on ange­sagt sei?

Weder noch, nichts der­glei­chen. »Roman­tik« ist hier als ein lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­cher Epo­chen­be­griff zu ver­ste­hen. Er bezeich­net die Zeit des aus­ge­hen­den Abso­lu­tis­mus vom Ende des 18. bis weit hin­ein in das 19. Jahr­hun­dert – eine Zeit enor­mer Umwäl­zun­gen: einer­seits von der mit­tel­al­ter­li­chen, feu­da­len zur moder­nen bür­ger­li­chen Welt, zur kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, ande­rer­seits, als kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­rer Wen­de­punkt, von einem bür­ger­lich-revo­lu­tio­nä­ren zu einem repres­si­ven Regime. In die­ser Zei­ten­wen­de tritt die eng­li­sche und schot­ti­sche Roman­tik in der Lite­ra­tur das Erbe der radi­ka­len Auf­klä­rung und der bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on an.

Die Schrift­stel­ler in der Peri­ode der Roman­tik drück­ten den Wider­stand gegen das feu­da­le Anci­en-Regime und die abso­lu­ti­sti­sche Dik­ta­tur aus. Sie unter­stütz­ten die erste Sozi­al­be­we­gung der Arbei­ter­klas­se, die Char­ti­sten in Eng­land. »Die Roman­tik ist die künst­le­ri­sche Avant­gar­de, der vor­aus­schau­end­ste, kri­tisch­ste und radi­kal­ste Aus­druck die­ses Zeit­al­ters«, schreibt Jen­ny Far­rell: Die Roman­tik »bezeugt und reflek­tiert ästhe­tisch, in der Spra­che der Kunst, die­se Epo­che der bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on. Sie setzt sich für Men­schen­rech­te, Frei­heit, Brü­der­lich­keit und Selbst­be­stim­mung ein. Sie ist inter­na­tio­na­li­stisch. Sie ist die ästhe­ti­sche Ver­wirk­li­chung der Idea­le der bür­ger­li­chen Revolution.«

Far­rell belegt dies muster­gül­tig und auf beein­drucken­de Wei­se am Bei­spiel des Dich­ters John Keats (1795-1821), von dem sie fünf sei­ner berühm­ten Oden im eng­li­schen Ori­gi­nal aus­ge­wählt und in deut­scher Über­set­zung inter­pre­tiert hat. Nie­mand ist zu die­ser Ein­füh­rung in das Werk von John Keats als eines Ver­tre­ters der eng­li­schen lite­ra­ri­schen Roman­tik bes­ser geeig­net als Far­rell. In der DDR wuchs sie als Kind einer deutsch-schot­tisch-iri­schen Fami­lie auf, besuch­te die Hum­boldt-Uni­ver­si­tät und lebt seit 1985 in Irland, wo sie am Gal­way-Mayo Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy iri­sche Lite­ra­tur unter­rich­tet. Sie ver­öf­fent­licht Bücher (etwa eines über »Shake­speares Tra­gö­di­en«) und schreibt für pro­gres­si­ve Zeit­schrif­ten und Zeitungen.

Sie ver­steht es, am Bei­spiel von Keats’ Oden auf­zu­zei­gen, dass sich die Lyrik in der Epo­che der Roman­tik als eine lite­ra­ri­sche Gat­tung bewährt hat, um in jener Zeit der Repres­si­on radi­ka­le Ideen aus­zu­drücken. Die Oden, deren Tra­di­ti­on bis in die Anti­ke zurück­reicht, sind Gedich­te zur Lob­prei­sung eines Ereig­nis­ses, einer Per­son oder eines Gegen­stan­des. Bei den im vor­lie­gen­den Band ver­tre­te­nen Oden han­delt es sich hin­sicht­lich des Gegen­stan­des der Bewun­de­rung um sehr Ver­schie­de­nes, etwa die mensch­li­che Psy­che, den Gesang der Nach­ti­gall, eine anti­ke Ampho­re, die Melan­cho­lie und den Herbst.

Die bei­den beson­de­ren The­men, die allen Oden von Keats zu Grun­de lie­gen, sind das Wesen der Schön­heit sowie die Bezie­hung zwi­schen Kunst, Künst­ler und Leben. In sei­nen Oden zeigt der Dich­ter auf, dass Wahr­heit und Schön­heit im natür­li­chen Leben exi­stie­ren, aber in der bis­he­ri­gen Gesell­schaft unter­drückt wer­den. Doch ver­fü­ge die Mensch­heit über die Fähig­keit, »mit allen Sin­nen die Schön­heit einer huma­ni­sier­ten Welt zumin­dest gei­stig zu erle­ben und somit vorwegzunehmen«.

Keats anti­zi­pie­re »poe­tisch eine Welt, in der Mensch und Natur in Har­mo­nie mit­ein­an­der bestehen, in der die Schön­heit dyna­misch, wan­del­bar ist und ihre Erfül­lung ein­schließt. Schön­heit ist das Leben im Ein­klang mit sich selbst. Sie ist dia­lek­tisch, natür­lich und näh­rend. Schön­heit wird zu Keats’ Inbe­griff für wah­re Huma­ni­tät und damit Lebens­sinn. Keats ent­deckt die­se Wahr­heit in sei­ner Poe­sie.« Das mache sei­ne Dich­tung für uns noch heu­te so wichtig.

Jen­ny Far­rell, die in ihrer Schrift durch erhel­len­de Text­in­ter­pre­ta­tio­nen sorg­fäl­tig und auf über­zeu­gen­de Wei­se zu die­ser Ein­sicht hin­führt, spricht damit ein zen­tra­les Ele­ment von Lite­ra­tur, Musik und Bil­den­der Kunst an: ihre beson­de­re Wirk­kraft als revo­lu­tio­nä­rer Kom­pass und als Movens kri­tisch-schöp­fe­ri­scher Ener­gie in Theo­rie und Pra­xis. Noch zu Leb­zei­ten von John Keats wur­de Karl Marx gebo­ren. Auch er betrach­te­te die vol­le Ent­wick­lung der mensch­li­chen Wesens­kräf­te als not­wen­di­gen Aspekt einer zukünf­ti­gen, eman­zi­pier­ten Menschheit.

 

Jen­ny Far­rell: Revo­lu­tio­nä­re Roman­tik. Die Oden des John Keats, Man­gro­ven Ver­lag, Kas­sel 2021, 128 S., 17 .