Der Haupttitel der neuen Veröffentlichung von Jenny Farrell macht stutzig: »Revolutionäre Romantik« – wie ist das zu verstehen? Handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der »Realpolitiker«, Revolutionäre seien naiv-ahnungslose Romantiker? Oder wird hier mit einer Denkweise abgerechnet, wonach die Revolution ein romantisches Relikt sei, ungeeignet in Zeiten wie den unsrigen, in denen eine auf Reformen gegründete gesellschaftliche Transformation angesagt sei?
Weder noch, nichts dergleichen. »Romantik« ist hier als ein literaturwissenschaftlicher Epochenbegriff zu verstehen. Er bezeichnet die Zeit des ausgehenden Absolutismus vom Ende des 18. bis weit hinein in das 19. Jahrhundert – eine Zeit enormer Umwälzungen: einerseits von der mittelalterlichen, feudalen zur modernen bürgerlichen Welt, zur kapitalistischen Gesellschaft, andererseits, als konterrevolutionärer Wendepunkt, von einem bürgerlich-revolutionären zu einem repressiven Regime. In dieser Zeitenwende tritt die englische und schottische Romantik in der Literatur das Erbe der radikalen Aufklärung und der bürgerlichen Revolution an.
Die Schriftsteller in der Periode der Romantik drückten den Widerstand gegen das feudale Ancien-Regime und die absolutistische Diktatur aus. Sie unterstützten die erste Sozialbewegung der Arbeiterklasse, die Chartisten in England. »Die Romantik ist die künstlerische Avantgarde, der vorausschauendste, kritischste und radikalste Ausdruck dieses Zeitalters«, schreibt Jenny Farrell: Die Romantik »bezeugt und reflektiert ästhetisch, in der Sprache der Kunst, diese Epoche der bürgerlichen Revolution. Sie setzt sich für Menschenrechte, Freiheit, Brüderlichkeit und Selbstbestimmung ein. Sie ist internationalistisch. Sie ist die ästhetische Verwirklichung der Ideale der bürgerlichen Revolution.«
Farrell belegt dies mustergültig und auf beeindruckende Weise am Beispiel des Dichters John Keats (1795-1821), von dem sie fünf seiner berühmten Oden im englischen Original ausgewählt und in deutscher Übersetzung interpretiert hat. Niemand ist zu dieser Einführung in das Werk von John Keats als eines Vertreters der englischen literarischen Romantik besser geeignet als Farrell. In der DDR wuchs sie als Kind einer deutsch-schottisch-irischen Familie auf, besuchte die Humboldt-Universität und lebt seit 1985 in Irland, wo sie am Galway-Mayo Institute of Technology irische Literatur unterrichtet. Sie veröffentlicht Bücher (etwa eines über »Shakespeares Tragödien«) und schreibt für progressive Zeitschriften und Zeitungen.
Sie versteht es, am Beispiel von Keats’ Oden aufzuzeigen, dass sich die Lyrik in der Epoche der Romantik als eine literarische Gattung bewährt hat, um in jener Zeit der Repression radikale Ideen auszudrücken. Die Oden, deren Tradition bis in die Antike zurückreicht, sind Gedichte zur Lobpreisung eines Ereignisses, einer Person oder eines Gegenstandes. Bei den im vorliegenden Band vertretenen Oden handelt es sich hinsichtlich des Gegenstandes der Bewunderung um sehr Verschiedenes, etwa die menschliche Psyche, den Gesang der Nachtigall, eine antike Amphore, die Melancholie und den Herbst.
Die beiden besonderen Themen, die allen Oden von Keats zu Grunde liegen, sind das Wesen der Schönheit sowie die Beziehung zwischen Kunst, Künstler und Leben. In seinen Oden zeigt der Dichter auf, dass Wahrheit und Schönheit im natürlichen Leben existieren, aber in der bisherigen Gesellschaft unterdrückt werden. Doch verfüge die Menschheit über die Fähigkeit, »mit allen Sinnen die Schönheit einer humanisierten Welt zumindest geistig zu erleben und somit vorwegzunehmen«.
Keats antizipiere »poetisch eine Welt, in der Mensch und Natur in Harmonie miteinander bestehen, in der die Schönheit dynamisch, wandelbar ist und ihre Erfüllung einschließt. Schönheit ist das Leben im Einklang mit sich selbst. Sie ist dialektisch, natürlich und nährend. Schönheit wird zu Keats’ Inbegriff für wahre Humanität und damit Lebenssinn. Keats entdeckt diese Wahrheit in seiner Poesie.« Das mache seine Dichtung für uns noch heute so wichtig.
Jenny Farrell, die in ihrer Schrift durch erhellende Textinterpretationen sorgfältig und auf überzeugende Weise zu dieser Einsicht hinführt, spricht damit ein zentrales Element von Literatur, Musik und Bildender Kunst an: ihre besondere Wirkkraft als revolutionärer Kompass und als Movens kritisch-schöpferischer Energie in Theorie und Praxis. Noch zu Lebzeiten von John Keats wurde Karl Marx geboren. Auch er betrachtete die volle Entwicklung der menschlichen Wesenskräfte als notwendigen Aspekt einer zukünftigen, emanzipierten Menschheit.
Jenny Farrell: Revolutionäre Romantik. Die Oden des John Keats, Mangroven Verlag, Kassel 2021, 128 S., 17 €.