Weihnachten hat immer etwas Besonderes. Warum das so ist, müssen wir uns nicht aus allgemeiner oder religiöser oder folkloristischer Sicht gegenseitig vorbeten. Die schwierigen Umstände der Geburt Christi sind allgemein bekannt und werden alljährlich zelebriert: Die behördliche Erfassung der Obdachlosenzahlen verlangte seinerzeit lange Wege bei eingeschränktem Öffentlichen Nahverkehr, die Klimabedingungen komplizierten schon damals den Ortswechsel, die Heiligen Drei Könige waren unterschiedlich über das Event informiert, die Hotels waren langfristig ausgebucht, die hygienischen Bedingungen in den Notunterkünften und unter Bahnbrücken ließen zu wünschen übrig, Parkplätze standen auf Grund neuerlicher Vorgaben des Ordnungsamtes kaum zur Verfügung, das in der Scheune umherflatternde Geflügel erschwerte den Missbrauch einer Strohschütte, Maria und Josef waren sich uneins über das Zustandekommen der Schwangerschaft, aus Personalgründen war es schwer, eine Hebamme zu chartern, die Fakten über die Niederkunft waren auf Grund der Zustellungsprobleme bei den damaligen Post-Nachauftragsnehmern sowie digitaler Ausfälle lückenhaft.
Weihnachten im Jahre 1944, vor 77 Jahren also, hatte für mich eine sehr individuelle Prägung. Wolfgang, mein Ego also, geboren am 08.08.35, zählte damals 9 Jahre, war geschwisterlos sowie Volksschüler, besuchte die 4. Klasse der Bergschule Greiz mit Herrn Rektor NSDAP-Pg. Otto Kunst an der Spitze und hatte im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen das Glück, trotz des fünften Kriegsjahres sämtliche Elternteile in der Nähe zu wissen. Meine Mutter arbeitete als Knopfmacherin im traditionellen Textilladen der Fa. Marcus Schneider in Greiz, und mein Vater, der einst den Beruf eines Tapezierers und Dekorateurs erlernt hatte, war bei der Fa. Georg Schleber, Färberei und Appreturanstalten GmbH, tätig. Er war anfangs des II. Weltkrieges gegen den französischen Erbfeind in Marsch gesetzt, dann aber wieder für die Rüstungs-Industrie freigestellt worden. Als sich der Endsieg dann doch noch etwas verzögerte, wurde er in den letzten Kriegsmonaten nochmals einberufen, verließ aber unter mir nicht bekannten Umständen die Front, setzte sich mit einem Fahrrad vom Rheinland aus in die Heimat ab, tauchte wenige Wochen vor dem sog. »Feindalarm«, den ich jetzt noch akustisch im Ohr habe, wieder in der ostthüringischen »Perle des Vogtlandes« auf und wurde in seiner Firma weiter beschäftigt. Kurzum, er stand zur Verfügung, als der Eiltransport meiner Mutter in die Geburtsklinik von Dr. Salzwedel gegenüber dem Greizer Hauptbahnhof anstand, und punktgenau auf den 1. Feiertag kam Ulrich Heinrich, genannt Uli, auf die schon mächtig vom Krieg zerzauste Welt. Am Nachmittag fand die erste Besichtigung des Neubürgers der 1000-jährigen Nebenstelle der älteren reußischen Linie statt. Kurz vorher waren die jungen Mütter, die ihrem Führer in schweren Zeiten noch ein Kind »geschenkt« hatten, aus dem Luftschutzkeller der Klinik in die Krankenzimmer rückbefördert worden, was für den Chefarzt und seine Mitarbeiter eine äußerst schweißtreibende körperliche Anforderung war. Daran hatte sich unsere Mutter noch oft erinnert und mindestens ebenso oft davon erzählt.
Die dem Hause gegenüberliegende Eisenbahnstrecke nahm unter dem Motto »Räder müssen rollen für den Sieg« unmittelbar nach der Entwarnung wieder den Betrieb auf. Und durch die »Luftschutzwarte« wurde streng kontrolliert, ob vielleicht ein verräterischer Lichtschein durch die abgedunkelten Fensterspalten zur »Feindbegünstigung« nach außen dringen konnte. Am späten Feiertag machten wir uns wieder auf den Heimweg durch die verdunkelte Reußenstadt, deren »Oberes Schloss« eine finstere Kulisse abgab. Diese Stimmung erstreckte sich auch auf den trübseligen Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz, dessen Kerzen man 1944 nicht zum ersten Mal inklusive der Stanniolfäden ausgespart hatte. Ich erinnere mich auch daran, dass sich der Heimweg durch einen Fliegeralarm verzögerte, der zum zwischenzeitlichen und stichflammenartigen Aufsuchen von Luftschutzräumen, mit den Großbuchstaben »LSR« kenntlich gemacht, verpflichtete. Diese Abkürzung wurde von Mutigen – sie mussten nicht unbedingt Kommunisten sein – mit »Lasst Stalin rein« oder »Lernt schnell russisch« frei übersetzt. Und manch einer, der diese Definition aufgegriffen und weitergegeben hatte, verschwand plötzlich spurlos und für immer aus der ansonsten reizvollen thüringischen Landschaft.
Die letzten Wochen vor dem »Feindalarm« verliefen regional glimpflich, wenn man von zwei Bombardierungen der Stadt und der Erschießung des Greizer Kommandanten Hptm. v. Westernhagen durch die SS absieht. Er hatte sich gegen die Sprengung der Elsterbrücken und für die kampflose Übergabe der Stadt an die Alliierten eingesetzt und damit Verrat am III. Reich geübt. Während des dann folgenden zweitägigen »Feindalarms« hielt sich die Bevölkerung in den Hauskellern auf. Als der Gefahrenzustand entwarnt wurde, bot sich folgendes Bild dar: Die umliegenden Firmen standen zum großen Teil lichterloh in Flammen, der Himmel über der Nachbarstadt Plauen stellte ein weit über das Vogtland leuchtendes Feuerspektakulum dar, und auf den Straßen lagen Fensterkreuze, durch Luftdruck aus den Häusern gedrückte Eingangstüren und dazwischen ab und zu Tote und Verletzte.
Jungbruder Uli und die Familie durchstanden die darauffolgende Mangelzeit vergleichsweise gut, wozu das Organisationstalent meines Vaters und gelegentliche Lebensmittel-Zuwendungen des väterlichen Neffen Helmut, der in der US-Army diente, beitrugen. Uli und ich hatten die Nächte in Aluminium-Badewannen überstanden, die zu provisorischen Liegestätten umfunktioniert worden waren. Wie die Lage sonst noch war, lässt sich auch anhand folgender Episoden beispielhaft illustrieren: Als der knapp zweijährige Uli 1946 kurz vor dem Fest gefragt wurde, was er sich vom Weihnachtsmann wünsche, antwortete er schlicht und ergreifend: »Ein’n Dannenbaum un ein’ Schdigg Leberwurschdbrod!« Die Greizer Straßen durchzog damals ein kannibalischer Gestank, der von einem undefinierbaren Öl stammte, das Einwohner illegal aus Tankwagen gezapft hatten. Dieselben standen seit Wochen auf dem Güterbahnhof herum. Es hatte sich herumgesprochen, dass man mit dem Sud braten konnte, wenn man sämtliche Wohnungsfenster öffnete, sich die Nase zuhielt und das Gesottene ohne Rücksicht auf die möglichen gesundheitlichen Folgen hinunterwürgte.
Die Nachkriegszeit einschließlich des Wechsels der Besatzungsmächte haben wir inklusive der Wiederaufnahme des Schulbetriebes, knapper Lebensmittelzuteilungen, dünner Suppen, der zwangsweisen Einquartierung Vertriebener aus ehemaligen »deutschen Ostgebieten«, Stromsperren etc. überstanden. Was unsere Eltern und Verwandten, so die Oma mütterlicherseits und die Schwestern unseres Vaters, zu unserer Unterstützung getan haben, lässt sich gar nicht genügend würdigen. Was sie allerdings nicht verhindern konnten, war eine Krankheit, die sich infolge der allgemeinen Mangellage überraschend ausbreiten konnte: die »Poliomyelitis«, volkstümlich Kinderlähmung genannt. Sie erwischte sowohl meinen damals 3-jährigen Bruder als auch mich als 12-jährigen, und wir hätten nicht überlebt, wären nicht starke Eltern und gute Ärzte an unserer Seite gewesen. Die Schluckimpfung war damals noch nicht bekannt.
Weihnachten 1944 verdient auch wegen eines weiteren Faktums eine besondere Erinnerung. Bereits am Heiligabend 1944, also einen Tag vor Uli, war meine spätere Frau im damaligen ostpreußischen Ort Schwerin an der Warthe geboren worden, was ich natürlich nicht wissen konnte. Mein späterer Schwiegervater, den ich nie kennenlernen sollte, war dort stationiert, nachdem der 19-jährige nach einer Steckschuss-Verwundung angeblich wieder in einen kampffähigen Soldaten verwandelt worden war. Seine Frau durfte ihn in der dortigen Garnison über die Feiertage besuchen, und justament am 1. Feiertag kam dort Tochter Marlis Christel vorzeitig zur Welt. Danach überschlugen sich die Ereignisse: Die Front rückte näher, und alle Zivilisten mussten den Ort sofort verlassen. Im konkreten Falle vollzog sich das so, dass Marlis’ Vater seine Tochter bei grimmiger Kälte in Decken verpackte, seiner Frau eintrichterte, das lebende Paket unter keinen Umständen unterwegs zu öffnen, und es mitsamt seiner Frau auf dem letzten LKW verstaute, der die Gegend in Richtung Berlin verließ. Der Abschied an der Ladefläche des LKW war die letzte Begegnung des Ehepaares und der einzige und letzte Kontakt des Vaters mit seiner Tochter und seiner Frau. Unmittelbar danach wurde die Front überrollt, und es wurden weder Tote noch Vermisste aufgefunden.
Das Fahrzeug erreichte Berlin, die Insassen blieben am Leben und bezogen wieder ihre Wohnung in der Persiusstraße im heutigen Stadtbezirk Friedrichshain. An einem der nächsten Tage mussten sie den Luftschutzkeller des Hauses beziehen. Danach folgte die Bombardierung und Vernichtung des Hauses, und vom Hausmeister, der eben noch mit den Kindern herumgeschäkert hatte, fehlt seitdem jede Spur.
Diese an die Weihnachtstage 1944 geknüpften Ereignisse fielen mir ein, weil meine Frau am Heiligen Abend und mein Bruder einen Tag danach ihre Geburtstage begehen. Dass nur wenige Tage zuvor in der Presse berichtet worden war, die Waffenexporte unseres Landes hätten im Vorjahreszeitraum einen neuen Rekord erreicht, ist ein zufälliges Zusammentreffen von Fakten, das mit meiner unvollständigen Würdigung zweier halbrunder Geburtstage in keinerlei konditionaler Verbindung steht.