Der deutsche Zeichner, Schauspieler und Regisseur Vicco von Bülow wurde am 12. November 1923 in Brandenburg an der Havel geboren (er starb am 22. August 2011 im oberbayerischen Münsing). Der Künstlername Loriot ist das französische Wort für Pirol. Der Vogel ist das Wappentier der Familie von Bülow. Loriot entstammte einer alten preußischen Adelsfamilie und gilt als einer der vielseitigsten deutschsprachigen Humoristen. Er karikierte gern skurrile Charaktere und die Tücken des Alltags: wenn er zum Beispiel tollpatschig die komplette Einrichtung einer Wohnung in einer Kettenreaktion regelrecht verwüstet, nur um ein kleines Wandbild – »Das Bild hängt schief« – gerade aufzuhängen. Auch an seinem 100. Geburtstag bleiben Loriots Sketche und Karikaturen in Erinnerung.
Der Diogenes Verlag überrascht zum Jubiläum mit einer Neuerscheinung, die Loriots Prosawerk, das vornehmlich aus Sketchen und Reden besteht, nun mit ein paar Briefen bereichert. Keine gewöhnlichen Briefe. In den Jahren 1957 bis 1961 schrieb Loriot im wöchentlichen Wechsel mit seinem Kollegen Manfred Schmidt – dem in jenen Tagen berühmtesten deutschen Karikaturisten – über hundert redaktionelle Leserbriefe für die Zeitschrift Quick. Zuvor hatte es für den mittellosen Zeichner zahlreiche Absagen, etwa von Weltbild und Stern gegeben, oder die Veröffentlichungen wurden nach empörten Leserbriefen eingestellt.
Erst nach der erfolgreichen Buchveröffentlichung mit einer Auswahl von Zeichnungen war Loriot plötzlich gefragt. Die Quick-Redaktion suchte für die Umgestaltung ihrer Zeitschrift auch humorvolle Beiträge. Und so ersann Loriot, der in die Umgestaltung eingebunden war, fingierte witzige, kommentierende Leserbriefe an die Redaktion. Am 28. September 1957, in Quick Nr. 39, erschien »Der erste ganz offene Brief«, in dem er über seine Probleme bei der Einhaltung von Höchstgeschwindigkeiten mit dem Auto berichtete.
Die Briefe beider Autoren beschäftigten sich mit dem aktuellen Zeitgeschehen, kuriosen Nachrichten oder privaten Ärgernissen. Ob der »Interzonenhandel« zwischen der DDR und der BRD, die Hündin Laika an Bord des russischen Sputnik 2 oder die Neufassung des Lebensmittelgesetzes, die Mückenplage im Garten, die Gewinnlisten staatlicher Lotterien oder der frühzeitige Abbau des Weihnachtsbaumes in den Morgenstunden des 25.12. – alles wurde auf die sprichwörtliche Schippe genommen. Loriots Spott richtete sich vor allem gegen eine kleine elitäre Schicht, sodass die Mehrheit der Leser darüber lachen konnte. Insgesamt 102 »ganz offene Briefe« hatte Loriot bis zum 17. September 1961 verfasst, darüber hinaus einige unpublizierte Briefe, die in dem Kapitel »Nachschlag« veröffentlicht werden.
Zu den gesellschaftlichen Mitteilungen – vom Wirtschaftswunder bis zum Verordnungsdschungel – gibt es kurze erläuternde Fußnoten. Außerdem wird die Neuerscheinung durch zahlreiche passende Loriot-Zeichnungen ergänzt. Ein Buch, das in keinem Schrank eines passionierten Loriot-Fans fehlen sollt
Susanne von Bülow/Peter Geyer/OA Krimmel (Hg.): Loriot – Der ganz offene Brief – 115 ungewöhnliche Mitteilungen, Diogenes Verlag, Zürich 2023, 280 S., 25 €.