Von kommunaler Kulturpolitik hört man meistens dann, wenn eine Stadt wieder ein Theater, eine Oper oder ein Museum schließen will, weil sie sich angesichts ihrer defizitären Haushaltslage dazu gezwungen sieht. Was dann folgt, ist bekannt. Bildungsbürger kämpfen mit allen Mitteln dagegen an, versuchen Öffentlichkeit herzustellen, oft ohne Unterstützung breiter Teile der Bevölkerung, die das alles gar nicht interessiert. Und die Schicht der Bildungsbürger, da können Statistiker behaupten, was sie wollen, wird schmaler, weil die neuen Geldeliten sich längst abgekoppelt haben von der Kultur- und Bildungselite, genauso wie von der politischen Schicht. Nicht mehr Kultur, egal ob bildende Kunst oder Literatur, spielt bei ihnen eine herausragende Rolle, sondern Statussymbole sind wichtig. Musik? Bestenfalls bei Feierstunden. Literatur? Ein Unterhaltungsroman im Urlaub auf den Bermudas. Ein Soziologe nannte diesen Prozess die »Verproletarisierung der Geldeliten«. Ein Begriff, dem man einiges abgewinnen kann, wenn man ihn nicht als Beleidigung der Proletarier begreift. Die zukünftigen Kämpfe der Bildungsbürger um den Erhalt der Standards werden also schwieriger, weil ihre Anzahl geringer wird und ihr Einfluss somit schwindet.
Das alles verdeckt aber ein anderes Problem, das viel zu wenig Beachtung findet. Im Schatten etablierter Kultur gerät zunehmend eine andere unter Druck, die alternative Kultur nämlich, zu der im weitesten Sinne auch die Literatur gehört. Freie Theatergruppen, innovative Musik, Literaturprojekte – ihre Förderung wird weitgehend lautlos aus den öffentlichen Etats gestrichen. Wenn Kommunen etwas retten wollen, dann jene Kultur, die nach außen hin strahlt und eine Stadt werbewirksam aufstellt (sogenannter weicher Standortfaktor). Mit dem »Schmuddelkind« der alternativen Kultur handelt man sich vielleicht sogar Ärger ein, weil ihre Künstler mal wieder den etablierten Geschmack beleidigen. Warum also diese Leute bei sinkenden Etats auch noch fördern?
Dabei kann man bei freien Theatergruppen oft die innovativsten Inszenierungen erleben, die das zukünftige Theaterleben bereichern. Bei Lesungen treten nicht im Mainstream befindliche Autoren auf, die inhaltlich und formal etwas zu sagen haben, nachdenkliche Stunden jenseits der üblichen Oberflächlichkeit sind möglich. Dasselbe gilt für junge Kunst. Die alternative Kulturszene ist das Experimentierfeld für die Kunst und Kultur der Zukunft.
Als Autor merkt man den Prozess schleichend. Angebote zu Lesungen oder anderweitigen Literaturprojekten von Kulturämtern kommen seit Jahren immer seltener, bis man plötzlich feststellt, dass viele Städte in dem Bereich gar nichts mehr anbieten. Leuchttürme etablierter Kunst bleiben noch bestehen, aber drum herum wird jeder Wildwuchs weggeschnitten.
An die Stelle der Kulturämter treten Bürgervereine, die Autoren anrufen und um Lesungen oder Texte für irgendwelche Anlässe bitten. Fragt man nach Honoraren, beginnt das Herumdrucksen. Man macht die Arbeit doch auch ehrenamtlich für die Bürger, wie kann ein Künstler da Geld verlangen? Macht der Kulturamtsleiter in der Stadt, den es ja immer noch gibt und für den diese Vereine einen Teil seiner Arbeit übernehmen, seine Arbeit auch kostenlos?
Der Bürgermeister einer kleinen Stadt am östlichen Rand des Ruhrgebiets erklärte neulich, in der städtischen Kulturszene könnten nur noch Künstler mitarbeiten, die zwar professionell, aber nicht professional seien. Absehen davon, dass es das Wort im Deutschen gar nicht gibt, meinte er genau das, was die Vereine auch meinen. Ein Künstler darf für seine Werke kein Geld verlangen, also die Kunst nicht als Beruf ausüben. Aber welche Künstler machen so etwas mit? Es sind die Hobbykünstler, manche darunter wirklich nicht schlecht und als mögliche Talente auch zu fördern, aber durchgängige Förderung und Auseinandersetzung mit Kunst ergibt das nicht.
Der Umgang mit dem Problem treibt die tollsten Blüten. Um den Haushaltsetat des Kreises Unna zu retten, schlug vor ein paar Jahren der damalige Regierungspräsident allen Ernstes die vollständige Auflösung des Kulturetats vor. Der beträgt aber schon unter einem Prozent, das Streichen hätte also nichts, aber auch gar nichts an dem Problem gelöst. Inzwischen ist der Mann abgelöst und auch vergessen. Manchmal ist die Geschichte doch gerecht.
Alles, was anstrengend ist, was den Zuhörer herausfordert, hat es schwer und wird weitgehend abgeschafft. Private Sponsoren, die immer öfter in die Bresche springen, wo öffentliche Förderung fehlt, gleichen da nichts aus, denn wenn ein Unternehmen Geld für Kunst ausgibt, muss die Sache Erfolg haben. Also orientiert es sich an der etablierten Kunst und meidet jedes Risiko.
Genauso handeln auch viele Städte. Warum Kunst für Minderheiten, noch dazu solche, die provoziert? Dann doch eher eine Bühne auf dem Marktplatz, flankiert von ein paar Bierständen, auf denen Coverbands Oldies singen. Man kann die Veranstaltungen wahlweise Frühlings-, Sommer- oder Altstadtfeste nennen. Und die Leute sind zufrieden. Soll da noch jemand kommen und meckern!
Eine Szene droht zu verschwinden und mit ihr viele überraschende Ideen und Gedanken. Gedanken, die nicht unbedingt Profite bringen oder Firmen anlocken und damit Arbeitsplätze schaffen, sondern einfach nur unser Leben bereichern. Die unsere Sichtweise auf die Welt verändern und Anstöße geben, sogar welche, die schmerzhaft sein können. Ist das etwa nichts?
Selbstverständlich wäre es falsch, die Schuld dafür den Städten zuzuschieben. Wer all das will, muss sie in den Stand setzen, dass sie ihre Aufgaben erfüllen können, im Sozialen genauso wie im Kulturellen. Die Geldeliten haben sich längst aus ihrer sozialen Verantwortung verabschiedet und drücken sich vor dem Steuerzahlen, wo sie nur können. Hier ist Bundes-, besser noch Europapolitik gefragt. Politik insgesamt wird erfahrbar im direkten Umfeld. Wenn Kommunen kein Geld mehr haben, können sie nichts politisch gestalten, fällt also politisch erfahrbares Leben weg. Mit der Kunst ist es genauso. Wenn sie im direkten Umfeld nicht mehr erfahrbar ist, schwindet das Interesse an ihr, droht Verflachung und Ödnis. Und die, das ist ganz sicher, wird sich irgendwann ökonomisch niederschlagen. Mit Verblödung kann man keinen Staat entwickeln!
Der Schriftsteller und ehemalige Lehrer Heinrich Peuckmann, der am 15. Juli seinen 70. Geburtstag feiert, ist seit Mai 2019 Generalsekretär des deutschen PEN-Zentrums. Die Redaktion Ossietzky gratuliert doppelt.