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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Löwen, geführt von Eseln

Drei Ver­spre­chun­gen hat­ten die füh­ren­den Brexi­te­ers bis zum 29. März 2019 unbe­dingt ein­lö­sen wol­len: kei­ne Zah­lun­gen mehr an die EU, kei­ne Unter­wer­fung mehr unter EU-Recht und -Recht­spre­chung, statt­des­sen Ein­däm­mung der Zuwan­de­rung. April, April, lau­te­te der hämi­sche Kom­men­tar am Ersten des Monats, weil der Brexit aus­ge­fal­len war, und »Ver­rat« zehn Tage spä­ter, als Pre­mier­mi­ni­ste­rin May beim EU-Son­der­gip­fel die Ver­schie­bung des Brexit-Ter­mins bis zum 31. Okto­ber 2019 aus­ge­han­delt hat­te. Wel­che Fol­gen ihr vom Tory-Abge­ord­ne­ten Sir Wil­liam Nigel Paul Cash als »unter­wür­fi­ge Kapi­tu­la­ti­on« bezeich­ne­tes Ver­hand­lungs­er­geb­nis haben wird, bleibt abzu­war­ten. (Cash mach­te sich früh­zei­tig einen Namen als »Maas­tricht-Rebell«; 1991 ver­öf­fent­lich­te er das Buch »Against a Fede­ral Euro­pe: The Batt­le for Bri­tain«.) Bei den neu aus­ge­stell­ten bri­ti­schen Rei­se­päs­sen ist der Brexit frei­lich schon voll­zo­gen. Seit dem 30. März fehlt auf ihnen die Bezeich­nung »Euro­pean Union«.

Die in den ver­gan­ge­nen Mona­ten immer tie­fer gewor­de­ne Spal­tung der kon­ser­va­ti­ven Par­tei wird sie zwangs­läu­fig über kurz oder lang zer­rei­ßen. Auch die sich – nein, nicht blind, son­dern sto­isch – an die Macht klam­mern­de The­re­sa May dürf­te dem wach­sen­den Druck der von ihrem Wider­sa­cher Jacob Rees-Mogg ange­führ­ten Euro­pean Rese­arch Group, in der die har­ten Brexi­te­ers ver­sam­melt sind, wohl nicht mehr lan­ge stand­hal­ten. Schon weil die EU das mit der bri­ti­schen Regie­rung aus­ge­han­del­te Aus­tritts­ab­kom­men, das bereits drei­mal vom Unter­haus abge­lehnt wur­de, nicht wie­der auf­schnü­ren will, muss der Druck auf The­re­sa May nach­ge­ra­de täg­lich stei­gen, denn wie sie es ohne die Stim­men der oppo­si­tio­nel­len Labour Par­ty bis Ende Okto­ber vom Par­la­ment abge­seg­net bekom­men will, weiß nie­mand. Oppo­si­ti­ons­chef Jere­my Cor­byn erweckt trotz der inzwi­schen erfolg­ten Gesprä­che mit May jeden­falls nicht den Ein­druck, er wer­de mit aus­rei­chend vie­len ande­ren Labour-Abge­ord­ne­ten dem Abkom­men beim vier­ten Anlauf zustim­men. Ganz im Gegen­teil. Er hofft nach wie vor auf Neu­wah­len und bezeich­net die Ter­min­ver­schie­bung als »Mei­len­stein des fal­schen Han­delns der Regie­rung im gan­zen Brexit-Pro­zess« (BBC, 11.4.2019). In der Nacht vom 31. Okto­ber zum 1. Novem­ber wer­den jeden­falls vie­ler­orts aus­ge­höhl­te Kür­bis­la­ter­nen als typi­sches Sym­bol für Hal­lo­ween leuch­ten – fehlt nur noch, dass der bereits zwei­mal dro­hend an die Wand gemal­te unge­ord­ne­te Aus­tritt dann man­gels poli­ti­scher Ein­sicht erfolgt. Die Brexit-ver­ses­se­ne Dai­ly Mail titel­te vor­aus­schau­end: »May’s Hal­lo­ween Horror«.

Übri­gens braucht das Aus­tritts­ab­kom­men auch die Zustim­mung des EU-Par­la­ments, und das wie­der­um hat die­sen Abstim­mungs­schritt noch gar nicht voll­zo­gen. Womög­lich wird es ihn noch vor dem 22. Mai durch­füh­ren, denn am 23. Mai beginnt die Wahl zum Euro­päi­schen Par­la­ment, und die könn­te durch­aus für so man­che Über­ra­schung gut sein. Das Ver­ei­nig­te König­reich, das bis zum end­gül­ti­gen Aus­tritt – wenn er denn über­haupt kommt – »kon­struk­tiv« und »ver­ant­wor­tungs­voll« in der EU mit­ar­bei­ten soll, hat im Augen­blick drei Ver­hal­tens­mög­lich­kei­ten. Bis zum end­gül­ti­gen Abschluss eines Aus­tritts­ab­kom­mens kann es erstens den Brexit stop­pen, indem es den am 29. März 2017 ein­ge­reich­ten Antrag zum Aus­tritt aus der EU zurück­zieht. Eine – ein­stim­mi­ge – Zustim­mung der ande­ren 27 EU-Mit­glied­staa­ten ist dafür nicht erfor­der­lich. Es kann zwei­tens mit dem bis zum 22. Mai im Par­la­ment wun­der­sam abge­seg­ne­ten Aus­tritts­ab­kom­men den Brexit haar­scharf vor dem Beginn der EU-Wah­len voll­zie­hen oder drit­tens bis Hal­lo­ween eine, wie EU-Rats­chef Tusk merk­wür­dig schwam­mig hofft, »gute Lösung fin­den«. In min­de­stens einem die­ser drei Fäl­le wird das Ver­ei­nig­te König­reich an der Wahl zum EU-Par­la­ment teil­neh­men – sie wird gegen­wär­tig auch vor­be­rei­tet – und dann dort 73 Sit­ze ein­neh­men. Da nun die gute oder knap­pe Hälf­te der wahl­be­rech­tig­ten Bri­ten alles ande­re als der Uni­on gewo­gen ist, scheint die Wahr­schein­lich­keit ziem­lich hoch, dass sie genau die Volks­ver­tre­ter wählt, die dem euro­päi­schen Gedan­ken mög­lichst fern ste­hen. Die Kan­di­da­ten von Ukip und der Brexit Par­ty erei­fern sich bereits gezielt über den »Betrug am Wäh­ler« und Nigel Fara­ge trumpf­te mit der Tira­de auf: »Wir sind Löwen, geführt von Eseln« (Guar­di­an, 12.4.2019). Nun müs­sen die bri­ti­schen Man­dats­trä­ger das Par­la­ment zwar am Tag des Brexits – also even­tu­ell am 31. Okto­ber – wie­der ver­las­sen. Bis dahin haben sie jedoch zum Bei­spiel über den EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­ten und die Kom­mis­si­on mit­be­stimmt und sind womög­lich das Züng­lein an der Waa­ge bei der Ent­ste­hung der stärk­sten Par­tei­en­fa­mi­lie gewesen.

Apro­pos Euro­päi­sches Par­la­ment. Wir kön­nen es zwar wäh­len, aber da es nicht über die Regie­rung ent­schei­det, wäh­len wir beim Urnen­gang weder eine Macht ab, noch eine neue – und damit eine ent­schie­den sozia­le­re – Poli­tik ins Amt. Denn eine euro­päi­sche Regie­rung gibt es ja nicht. Der Euro­päi­sche Rat wie­der­um, das Gre­mi­um der Staats- und Regie­rungs­chefs, ist sich in diver­sen Fra­gen und nicht zuletzt in Sachen Brexit offen­bar alles ande­re als uni­ons­för­der­lich einig. Aus ihm kön­nen wir bei der Wahl im Mai nicht ein­mal die Mit­glie­der abwäh­len, die – wie etwa Vik­tor Orbán (Ungarn) – die Demo­kra­tie mit Füßen tre­ten oder die – wie etwa Mateu­sz Mora­wi­ecki (Polen) – ein föde­ra­les Euro­pa strikt ableh­nen. Stärkt die Brexit-Hän­ge­par­tie den uni­ons­eu­ro­päi­schen Zusam­men­halt und die Demo­kra­tie? Ich habe da so mei­ne Zweifel.

Vor drei­hun­dert Jah­ren, im Mai 1719, war von EU-Par­la­ments­wah­len noch längst kei­ne Rede. Aber von einem Buch. Damals ver­öf­fent­lich­te Dani­el Defoe (1660 – 1731) sei­nen ersten und bald dar­auf welt­be­rühm­ten Roman »The Life and Stran­ge Sur­pri­zing Adven­tures of Robin­son Crusoe«. Sei­nen ersten lite­ra­ri­schen Erfolg hat­te der Autor, der sich zuvor recht erfolg­los als Kauf­mann ver­sucht hat­te, 1701 mit dem sati­ri­schen Gedicht »The True-Born Eng­lish­man« (Der wasch­ech­te Eng­län­der) gefei­ert, in dem er für Tole­ranz gegen­über den vie­len Zuwan­de­rern ein­trat. 1709, also vor drei­hun­dert­zehn Jah­ren, ver­fass­te Defoe zusätz­lich den – anonym publi­zier­ten – Trak­tat »A Brief Histo­ry of the Poor Pala­ti­ne Refu­gees« (Kur­ze Geschich­te der pfäl­zi­schen Flücht­lin­ge). Zum Hin­ter­grund: Nach dem har­ten Win­ter 1708/​09 ent­schie­den sich immer mehr aus­wan­de­rungs­wil­li­ge Men­schen in West- und Süd­west­deutsch­land, den – fal­schen – Ver­spre­chun­gen von Zeit­ge­nos­sen zu glau­ben, die bri­ti­sche Kro­ne wür­de sie dabei unter­stüt­zen, über den Atlan­tik in die eng­li­schen Kolo­nien in Nord­ame­ri­ka zu gelan­gen. Um die 13.000 von ihnen ström­ten bis 1711 aus der Pfalz auf die bri­ti­sche Insel, um eine Über­fahrt und eine Ansied­lungs­er­laub­nis in der Neu­en Welt zu ergat­tern. Die soge­nann­ten Pala­ti­nes waren in Eng­land alles ande­re als will­kom­men. Sie wur­den in der Nähe Lon­dons pro­vi­so­risch unter­ge­bracht und nur äußerst not­dürf­tig ver­sorgt. Immer­hin betrach­te­ten die damals regie­ren­den Whigs die Zuwan­de­rung durch­aus als akzep­ta­bel, wäh­rend die Tories sie ablehn­ten. (Im tra­di­tio­nel­len Zwei­par­tei­en­sy­stem tra­ten damals die eher tole­rant gesinn­ten Whigs für die Macht des Par­la­men­tes, die strikt kon­ser­va­ti­ven Tories für die Rech­te der ange­stamm­ten Mon­ar­chie ein.)

Weil nun die – heut­zu­ta­ge im Lager der Brexi­te­ers erneut unüber­hör­ba­ren – Rufe nach Zuwan­de­rungs-Ober­gren­zen und -Kon­tin­gen­ten immer mas­si­ver erschall­ten, ver­schaff­te sich der mit den Whigs sym­pa­thi­sie­ren­de Dani­el Defoe Zugang zu offi­zi­el­len Doku­men­ten und führ­te Inter­views, um der frem­den­feind­li­chen Het­ze argu­men­ta­tiv gegen­steu­ern zu kön­nen: »Eini­ge wer­den behaup­ten, die Ver­kö­sti­gung und künf­ti­ge Ver­sor­gung der Pfäl­zer, in ihrem gegen­wär­ti­gen elen­den Zustand, bis sie so unter­ge­bracht wer­den kön­nen, um durch Fleiß und ehr­li­che Arbeit für sich selbst auf­zu­kom­men, sei nicht nur ein gro­ßer Akt christ­li­cher Näch­sten­lie­be, son­dern eine Ehre und ein beträcht­li­cher Gewinn für die gesam­te bri­ti­sche Nati­on, da sie deren Macht und Herr­lich­keit ver­grö­ßert, den Han­del för­dert und den Reich­tum des König­rei­ches mehrt«, for­mu­liert Defoe, um dann fort­zu­fah­ren: »Wäh­rend ande­re gegen die­se Mei­nung hef­tig wet­tern und sagen, zu die­sem Zeit­punkt eine sol­che Men­ge von Aus­län­dern her­ein­brin­gen hei­ße die Lebens­mit­tel noch mehr ver­teu­ern; unse­re ein­hei­mi­schen Hand­wer­ker und Arbeits­leu­te brot­los machen und die Zahl unse­rer eige­nen Armen erhö­hen, die bereits zu vie­le sind und der Nati­on all­zu­sehr zur Last fal­len.« (Dani­el Defoe: »Kur­ze Geschich­te der pfäl­zi­schen Flücht­lin­ge …«, aus dem Eng­li­schen von Hei­de Lipecky, dtv, Mün­chen 2017)

Die die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit der EU strikt ableh­nen­den Brexi­te­ers soll­ten rot vor Scham wer­den. Und Dani­el Defoe lesen, der sei­ne Lands­leu­te wun­der­bar tref­fend als »rhap­so­dy of nati­ons« bezeich­ne­te und die Auf­fas­sung ver­trat, das Land hät­te schon immer aus den vie­len Zuwan­de­rern Vor­tei­le gezo­gen. Des­sen For­de­rung, die Pfäl­zer in Eng­land will­kom­men zu hei­ßen und anzu­sie­deln, erfüll­te sich übri­gens nicht. Die mei­sten von ihnen wur­den – soweit sie die eng­li­schen Lager über­lebt hat­ten – nach Nord­ame­ri­ka verfrachtet.