Lkw-Fahrer zu sein, hat schon lange nichts mehr mit dem Trucker-Mythos »König der Landstraße« zu tun. Spätestens mit dem Streik von Fahrern aus Georgien, Usbekistan und Tadschikistan auf der südhessischen Raststätte Gräfenhausen, denen man den Lohn von insgesamt über 300.000 Euro seit Monaten vorenthalten hatte, ist weiten Teilen der Öffentlichkeit bewusst geworden, unter welchen menschenverachteten und ausbeuterischen Verhältnissen hier gearbeitet wird. Nicht nur der Lohnklau ist empörend, die verantwortliche Spedition engagierte zudem eine polnische Sicherheitsfirma, die mit Bodyguards und Panzerwagen vorfuhr, um die Lkws zu kapern, die Fahrer einzuschüchtern und den Streik zu brechen. Auch auf anderen Rastplätzen Europas ist es zu Streiks gekommen. Insider wissen seit langem, dass Lkw-Fahrende ein unwürdiges Dasein fristen, ausgebeutet werden und oft um eine ordentliche Bezahlung betrogen werden. Das geschieht massenhaft und jeden Tag. Logistik-Unternehmen profitieren hierbei auf Kosten von Fahrern und machen Milliardengewinne.
Die gesamte Problematik wird erst klar, wenn man sich vor Augen hält, von welchen Dimensionen gesprochen werden muss. Allein in Deutschland rollen jedes Jahr mehr als 400 Millionen Lkw-Fahrten, mehr als eine Million Fahrten pro Tag, über die Straßen. Die beförderte Gütermenge bei Lkws in den Jahren von 2010 bis 2020 ist um 35 Prozent auf eine Gesamtmenge von 3.662 Mio. Tonnen angestiegen, im Verhältnis zu einer lediglich einprozentigen Zuwachsrate beim Bahntransport und einem Rückgang von 18 Prozent bei der Binnenschifffahrt im gleichen Zeitraum.
Die Arbeitsbedingungen im internationalen Straßentransport sind durchweg schlecht; es ist gewissermaßen Standard, gegen geltendes Recht zu verstoßen und Gesetzeslücken zu Ungunsten von Fahrern auszunutzen. Hierbei geht es nicht nur um Bezahlung und Lohn. Circa die Hälfte aller Fahrten in Deutschland wird von Fahrern geleistet, die einen Arbeitsvertrag in einem anderen EU-Land oder einem Land außerhalb der EU haben. Obwohl sie häufig deutsche Straßen nutzen, erfolgt die Entlohnung nicht nach deutschem Tarifgehalt. Somit wird ihnen deutscher Mindestlohn vorenthalten. Sozialdumping und Subunternehmerunwesen sind weit verbreitet. Häufig fahren sie als Scheinselbstständige auf eigenes Risiko. Für viele Fahrende existieren intensive Abhängigkeitsverhältnisse zu ihren Speditionen, und die Folgen dieser Bedingungen spüren sie deutlich.
Auch deutsche Logistikunternehmen haben in der Vergangenheit Filialen und Tochterunternehmen z. B. in Rumänien oder Litauen eröffnet, um Fahrende zu geringeren Löhnen einzustellen. Mittlerweile ist es in Mittel- und Osteuropa einfacher als in Deutschland, Arbeitserlaubnisse für Drittstaatenangehörige zu bekommen und somit Fahrende aus noch ärmeren Ländern zu beschäftigen. Die Konkurrenz aus Osteuropa hat den Markt und die Arbeitsbedingungen deutlich verschärft.
Der internationale Konkurrenzdruck ist enorm und wird an die Fahrer direkt weitergegeben. Lkw-Fahrer sind nicht selten bis zu 60 Std. hinter dem Lenkrad und erleben permanenten Zeitdruck, die Ware termingerecht anzuliefern. Das verleitet zu unvorsichtiger Fahrweise, was häufig zu Unfällen führt. Das erhöhte Transportaufkommen und die kilometerlangen Lkw-Schlangen führen zu Staus und intensivieren das Problem zusätzlich. Gesetzlich vorgeschriebene Lenk- und Ruhezeiten können nicht eingehalten werden bei der Suche nach überfüllten Rastplätzen. Es fehlen hunderte Lkw-Parkplätze. Übermüdeten Fahrern bleibt schließlich nichts anderes übrig, als die Lkws an gefährlichen Stellen wild zu parken.
Früher waren Fahrende ausschließlich für den Transport zuständig. Heute kommen be- und entladen der Fracht als Aufgabe hinzu, weil das Be- und Entladepersonal vor Ort abgeschafft wurde.
Einmal in der Woche sind längere Ruhezeiten vorgeschrieben. Dann darf der Lkw 45 Std. nicht bewegt werden. Obwohl gesetzlich verboten, schlafen die Kraftfahrer in ihren Schlafkabinen auf Rastplätzen. Die auftraggebenden Speditionen hätten eigentlich für eine Hotelunterkunft zu sorgen (Kabinenschlafverbot). Im Fall einer polnischen Firma berichten die Fahrer, dass sie nur im Lkw schlafen und dies teilweise über Zeiträume von mehr als einem Jahr.
Da die Verantwortung für Lkw und Ladung bei den Fahrenden selbst liegt, wagen sie kaum, ihr Fahrzeug unbeaufsichtigt zu lassen. Dieselklau, Planenschlitzerei und Ladungsdiebstahl sind an der Tagesordnung.
Zudem sind die Fahrenden jederzeit kontrollierbar. Mittels Fahrtenschreiber, GPS und Telematik ist immer ersichtlich, wo sich der Lkw gerade befindet. Selbst der Fahrstil des Fahrers wird vom Büro der Spedition aus protokolliert und überwacht. Ein Berufskraftfahrer drückt es so aus: »Es gibt in Deutschland mehr Siegel für fair gehandelten Kaffee als für einen fairen Transport.«
Dass der Beruf des Lastkraftwagenfahrers mehr als unattraktiv ist und ein schlechtes Image hat, muss, so gesehen, nicht weiter erklärt werden. Fern von Familie und Freunden unter derartigen Belastungen fehlt seit Jahren der Nachwuchs. Schlechte Bezahlung, Dauerstress und schlechtes Image, führen dazu, dass immer mehr Fahrende früh den Beruf wechseln und das Handtuch werfen. Die Transportbranche versucht gegenzusteuern. Gegenseitig versucht man, sich die Fahrer abzuwerben, es wird mit vollmundigen Anzeigen bei Online-Stellenbörsen um geeignetes Fahrerpersonal geworben. Vor allem sind ausländische Fahrer aus Osteuropa im Visier, die für deutlich weniger Geld als ihre deutschen Kollegen arbeiten.
Bei Wegfall der Vorrangprüfung und der Abschaffung gesetzlicher Hürden wäre es einfacher, qualifizierte Fahrer aus Nicht-EU-Ländern einzustellen, so die Arbeitgeberseite. Das Stichwort hier ist Entbürokratisierung. Dabei ist der Fachkräftemangel seit circa 20 Jahren bekannt, ohne dass sich etwas Entscheidendes geändert hat. Der wirtschaftliche Konkurrenzdruck lässt kaum Spielräume. Laut Angaben des Bundesverbandes Spedition und Logistik fehlen aktuell 80.000 bis 100.000 Fahrer. Hohe Krankenstände in Folge von häufigen Muskel- und Skeletterkrankungen verschärfen die Situation zusätzlich. Der Bundesverband Güterverkehr Logistik und Entsorgung geht zudem davon aus, dass in den nächsten Jahren über 25.000 Fahrer in den Ruhestand gehen werden. Der Trend geht ungebremst in Richtung der Probleme, die England nach dem Brexit erlebte. Hier fehlten 100.000 Lkw-Fahrer. Leere Regale im Supermarkt, England erlebte den Versorgungskollaps.
Um solchen Zuständen zu begegnen, werden verschiedene Verbesserungen diskutiert. Von der Politik wird gefordert, die Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer zu verkürzen und zu vereinfachen. Eine Kurzausbildung für eine Grundqualifikation soll es auch tun, um möglichst schnell Berufskraftfahrer in den Führerraum zu bekommen. Die Bundesagentur für Arbeit und einige Jobcenter finanzieren zusammen mit Fahrschulen speziell auf Migranten ausgerichtete Kurse, um innerhalb von sechs Monaten Fahrer auszubilden.
Die Politik will einen grundlegenden Imagewechsel fördern, um das Bild der Trucker im öffentlichen Bewusstsein zu verbessern. Die Berufsorganisationen der Transport- und Logistikbranche fordern, Raststätten auszubauen und bei den sanitären Verhältnissen mehr zu tun. Ist die geringe Bezahlung der wesentlichste Faktor für den massiven Fahrerengpass, locken Logistikunternehmen mit Sonderprämien, Massagen, Fitnessräumen, PKWs und Handys zur privaten Nutzung, um die Attraktivität des Berufs zu steigern.
Um Wettbewerbsverzerrungen auszuschließen, dürfen ausländische Speditionen nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur unter einem begrenzten Zeitraum von wenigen Tagen ihre Touren innerhalb Deutschlands fahren, eine gesetzliche Vorgabe, um deutsche Speditionen im Konkurrenzkampf zu schützen. Im Fachjargon »Kabotage« genannt, zeigt sich diese Regelung oft als wirkungslos, da es viel zu wenige Kontrollen gibt. Doch die bisherigen Lösungsversuche erweisen sich bestenfalls als kurzfristige Erfolge und als ein Tropfen auf den heißen Stein.
So lange es im ruinösen Preiskampf und dem hohen Wettbewerbsdruck Lohndumping, zu viele Schlupflöcher, mangelhafte Kontrollen bei Arbeitsrechten und kaum Schutzregelungen für Fahrer/-innen gibt, bleibt ihnen nur der Widerstand durch Fahrerstreik übrig. Der erfolgreiche Streik von Gräfenhausen hat hierbei ein wertvolles Zeichen gesetzt. Der Erfolg war nur durch die Solidarität über alle nationalen Grenzen hinaus möglich. Dass die Streikenden nicht allein waren, zeigte die engagierte Unterstützung von Verantwortlichen aus der Gewerkschaft, aber auch von Anwohnern, die den Truckern Essen und Geldspenden zur Verfügung stellten, ein Lehrbeispiel, das Schule machen sollte. Selbst vom anderen Ende der Welt, aus Seoul, sendeten südkoreanische Kollegen der Gewerkschaft Trucksol Solidaritätsgrüße und wünschten den Lkw-Fahrern in Gräfenhausen viel Kraft, um gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu kämpfen.