»Jude allein ist auch nicht abendfüllend«, soll der scharfzüngige, unvergessliche Fritz Kortner einst zu einem jungen Schauspieler gesagt haben – doch gibt es erfreuliche Gegenbeispiele. Gregor Gysi wäre zu nennen, von dem es heißt, dass er wieder aktiver im Bundestag mitwirken will, vor allem aber ein vor Jahren nach Berlin zugewanderter, in Moskau geborener Jude: Wladimir Kaminer – der könnte allein wochenlange Fernsehabende füllen, er spricht so beschleunigt, wie er schreibt. Für ein kürzlich erschienenes Werk nahm er sich aber wohl solide etwas mehr Zeit, Titel: »Tolstois Bart und Tschechows Schuhe«. Das klingt sehr familiär, ist jedoch hieb- und stichfest, da war ein Kenner am Werk. Selbst wer das gewiss anspruchsvolle Buch »Der Idiot« aufmerksam gelesen hat, erfährt aus dem Dostojewski-Eingangsessay viel Überraschendes, das gilt auch für den Tolstoi-Text. Eine besondere Bindung bestand zwischen dem Schüler Kaminer und dem 1930 im Selbstmord geendeten Majakowski; der Junge schrieb Gedichte im Sound seines geliebten Dichters und merkt an: »Majak bedeutet Leuchtturm auf Russisch, er wurde zur Werbetafel des jungen sozialistischen Staates.« Das hat ihm dieser Stalin-Staat schlecht gedankt. Gerhard Zwerenz, der den Revolutions-Poeten ebenfalls schätzte, zitierte 1961 dessen bereits 1916 publizierte Zeilen: »Immer öfter denke ich:/Wär’s nicht gescheiter,/auf die Stirn einen Schlusspunkt mit Blei zu setzen?« Dem Leuchtturm Wladimir M. wurde die Politik zum Verhängnis, dem von Kaminer sorgsam porträtierten Anton Tschechow die angeborene schwache Gesundheit, Tuberkel zerstörten beide Lungen, sein Husten belästigte die Mitmenschen, zudem schien dem vielseitigen Theater-Autor, dass er »obendrein auch immer dasselbe schrieb«, notiert Kaminer. Bei den verschiedenen deutschen Fernseh-Aufführungen, meist sorgfältig inszeniert, hatte ich nie den Eindruck, dass der Bühnen-Profi in Menschen und Szenen Dubletten lieferte. Diesen deliziösen Tschechow-Satz habe ich im Internet genassauert: »Eine Erzählung ohne Frau ist eine Maschine ohne Dampf.« Frühe Schritte zur Gleichberechtigung von einem berühmten Mann, und diesem Autor waren wegen der damals unheilbaren Tuberkulose gerade mal 44 Lebensjahre gegönnt.
Man muss nicht über jeden Schriftsteller im Kaminer-Buch-Karussell in Hosianna ausbrechen. »Der Meister und Margarita«, erst Jahrzehnte nach Bul-gakows Tod publiziert, war eine Weltsensation, auf einem niedrigeren Level später Nabokovs »Lolita«, beide Herren – leider begabt – doch in der Wolle gefärbte Reaktionäre – davon gibt es genug, das muss man sich nicht antun.
Man kann wie Brecht oder Tucholsky das eine oder andere gegen Thomas Mann einwenden, doch ein hochgeborener arroganter Lümmel wie Nabokov überzieht gewaltig, wenn er Thomas Mann einen »Vollidioten« nennt. Dem einst wohlhabenden, später verarmten, dann wieder vermögenden Schmetterlingsschwärmer ging, wie Kaminer treffend formuliert »das Schicksal der Menschheit an der Feder vorbei«. Halt, nur Schelten kann peinlich sein, vor vielen Jahren war ich mal fasziniert vom Nabokov-Roman »Ada oder das Verlangen«, später hatte sich das verloren. Ein Kabinett-Stück liefert Kaminer liebe- und kenntnisvoll mit der ziselierten Biographie von Daniil Charms – was für eine Wahnwitz-Figur – bitte selbst nachlesen.
Wladimir Kaminer: »Tolstois Bart und Tschechows Schuhe«, Wunderraum, 320 Seiten, 20 €