Mit Gedichten, überhaupt mit Literatur kann man keine Panzer aufhalten. Wer das sagt, hat vordergründig Recht und liegt in einem tieferen Sinne doch völlig daneben. In der Tat, das Lesen eines Gedichts, selbst das laute Vorlesen wird keinen Panzer stoppen. Aber darum geht es gar nicht, sondern es geht um die Frage: Was kann Literatur dazu beitragen, dass Panzer erst gar nicht losfahren, geschweige denn schießen? Wie müssen wir Literatur, im weiteren Sinne Kunst, verstehen, welche Rolle können wir ihr in der Gesellschaft, in unserem Zusammenleben beimessen?
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, an das Böckenförde-Diktum zu erinnern, jenen prägenden Satz zur Staatslehre des ehemaligen Verfassungsrichters, der geurteilt hat, dass der moderne, säkularisierte Staat die Voraussetzungen, von denen er lebt, selber nicht garantieren kann. Toleranz zum Beispiel, wichtig für jedes friedfertige Zusammenleben, kann ja nicht gesetzlich verordnet werden. Der Staat gibt einen Rahmen vor, inhaltlich gefüllt werden muss er von anderen Kräften. Weshalb Böckenförde seinen katholischen Glauben sehr ernst nahm. Religion, speziell Christentum kann den vorgegebenen Rahmen inhaltlich füllen, meinte er.
Und genau von dieser Leerstelle her sollten wir Kunst und speziell Literatur denken. Sprache, also Literatur, ist immer an Inhalte gebunden, und über sie werden Werte vermittelt, die auf Leserinnen und Leser tiefer einwirken als Sachtexte oder Verlautbarungen, einfach deshalb, weil sie nicht nur die Ratio ansprechen, sondern auch Emotionen, die tiefer und deshalb langfristiger wirken. Wie sehr haben uns Antikriegsromane bewegt, wie sehr Liebesgedichte, die den Wert von Zuneigung, Partnerschaft, Eingehen auf den anderen geprägt haben. Immer werden wir für unsere Umwelt, für Schöpfung und Natur sensibilisiert, auch da, wo es scheinbar nur um Ästhetik geht. Ja, auch Ästhetik, auch der schön geformte Satz, das fließende Gedicht mit seinen überraschenden, noch nie gedachten Bildern wirken in uns nach und helfen, die Welt differenzierter und damit verständnisvoller zu sehen. Und ein tieferes Weltverständnis macht uns offen für den anderen, für sein Anliegen und seine Sorgen.
Gerade in einer Zeit wie dieser, gerade weil dieser schreckliche Krieg in der Ukraine läuft, sind literarische Texte wichtig, sie geben Orientierung, vielleicht sogar Halt. Sie können auch über die Fronten hinweg Schriftstellerinnen und Schriftsteller zusammenführen zu einer gemeinsamen Stimme, die dann auf ihre stille Weise für Verständigung sorgt.
Es ist auffällig, dass in unserem Alltag Literatur eine viel zu geringe Rolle spielt, man könnte sagen, von dieser schwachen Kraft her kann der leere Rahmen Gesellschaft nicht gefüllt werden. Aber auch das ist nur eine vordergründige Sichtweise, wie die Zeit des Lockdowns zeigt. Da war das vorherrschende konsumistische Weltbild einfach abgeschaltet worden, die Leute waren auf sich selbst zurückgeworfen. Es war beängstigend, an den geschlossenen Läden und Cafés vorbeizulaufen, es ließ einen frösteln. Und plötzlich tauchte im Internet, wie aus dem Nichts, Literatur auf, stärker als vorher. Lyrikseiten wurden geschaltet: »Mit Poesie durch Pandemie«, »Ein Plätzchen für Literatur« hieß eine Reihe, die der PEN veranstaltete. Die Seiten wurden gelesen, es gab ein Bedürfnis nach Anregung und vor allem Orientierung. Die Not brachte zutage, was wirklich Halt gab. Literatur eben, Kunst also.
Und genau hier müssen wir ansetzen. Literatur und Kunst müssen gestärkt werden. Hier ist der Ort, wenn ich es etwas poetisch formulieren darf, der Seelenbildung.
Und genau da, müssen wir konstatieren, liegt gleichzeitig ein Problem. Die Lesekultur erleidet Abbrüche. Ein großer Prozentsatz junger Leute, internetsozialisiert, liest wenig bis nichts mehr. In einem kleinen Büchlein habe ich dieses Problem mal entfaltet: »Ich lese nichts«. Diesen Satz sagten mir Schüler mit großem Selbstbewusstsein, ohne dass sie es als Manko empfanden.
Die bekannte Hamburger Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie hat einen Aufruf gestartet, die Lesekultur bei jungen Leuten wieder zu entwickeln, denn einerseits verhindern die Defizite Wertevermittlung und Orientierung, andererseits stellen sie auch eine Gefahr für die Demokratie dar, denn eine differenzierte Informationsbeschaffung läuft immer noch über das Lesen.
Meine schönsten Unterrichtstunden hatte ich, wenn wir in Ruhe in einem Buch lasen. Einer laut, die anderen lasen mit. Und man spürte, wie sie mit den literarischen Personen litten, sich mit ihnen freuten, wie sich ihnen eine ganz neue Welt erschloss, die sie lange gefangen nahm und die, wer weiß wie lange, nachwirkte.
Was können wir den Panzern entgegensetzen? Nicht das laute Vorlesen von Gedichten, das ist dümmlich. Aber an der Einstellung der Menschen zu arbeiten, an ihrem Mitgefühl, ihrer Sehnsucht nach Frieden. Wer kann helfen, so etwas zu entwickeln? Literatur, davon bin ich überzeugt, kann das. Wir müssen sie noch viel stärker in Szene setzen.