Wir können nicht ruhig zu Hause sitzen. Das liegt scheinbar in unserer Natur. Reisen verspricht neue Erfahrungen, pures Erleben. Seit Tausenden von Jahren haben wir Menschen die Welt erkundet. Wir wollen und müssen wohl reisen – manchmal auch nur in Gedanken. Daher sind Reiseberichte, die uns in die entlegensten Winkel der Erde entführen, stets eine willkommene Lektüre.
Eines der abenteuerlichsten und fantastischsten Reisebücher, das vor genau 150 Jahren erschien, ist die Reise um die Welt in 80 Tagen des französischen Schriftstellers Jules Verne (1828-1905). Am 2. Oktober 1872 begibt sich der englische Gentleman Phileas Fogg wie jeden Tag in den vornehmen Reform-Club, wo er sich bei seinem geliebten Whist-Kartenspiel die Zeit vertreibt. In der Herrenrunde wettet er, dass er es schafft, die Welt in 80 Tagen zu umrunden (d. h. in 1920 Stunden oder 115.200 Minuten). Ein Ding der Unmöglichkeit, das ihm keiner der Clubmitglieder zutraut. Doch ein englischer Gentleman macht keinen Spaß. Fogg, der seit Jahren London nicht verlassen hat, beharrt auf der Wette und setzt stolze 20.000 Pfund ein – immerhin die Hälfte seines Vermögens. Die andere Hälfte benötigt er für die Durchführung der Weltreise. Sollte er die Wette verlieren, wäre das sein finanzieller Ruin. Um die Wette aber zu gewinnen, muss er am 21. Dezember 1872 spätestens um 20.45 Uhr wieder im Club sein.
Ehe sich Phileas Fogg auf den gewagten Wettlauf gegen die Zeit quer über den Globus begibt, führt der Gentleman selbstverständlich das Kartenspiel zu Ende. Daheim packt er in Windeseile eine Reisetasche mit dem Allernötigsten und besteigt noch am Abend mit seinem französischen Diener Jean Passepartout, den er erst vor ein paar Stunden eingestellt hat, den Zug nach Dover. Von dort setzen die beiden mit der Fähre nach Frankreich über, dann geht es mit dem Zug über Paris nach Brindisi, wo sie das Dampfschiff über Aden nach Bombay durch den Suezkanal besteigen. Die weiteren Stationen sind Allahabad, Kalkutta, Singapur, Hongkong, Shanghai, Yokohama, San Francisco, New York, Queenstown, Dublin und Liverpool.
Da es sich um einen Abenteuerroman handelt, gibt es natürlich jede Menge Komplikationen. Ab Suez heftet sich der Geheimagent (Inspektor von Scotland-Yard) Fix an ihre Fersen. Durch seine überstürzte Abreise in London und mit einem Reisesack voller Bargeld gerät Fogg in den Verdacht, der gesuchte Bankräuber zu sein, der die Bank of England um 55.000 Pfund erleichtert hat. Der diensteifrige Fix hält Foggs Wette für ein geschicktes Ablenkungsmanöver. Da aber an den einzelnen Reisestationen kein Haftbefehl aus London eintrifft, kann er die Weiterreise von Fogg und seinem Diener nie verhindern. Also reist er ihnen weiter heimlich nach.
In Indien stellt sich dann heraus, dass an der brandneuen Eisenbahnbrücke, die Fogg in seiner Reiseroute hatte, trotz Fertigmeldung in den Gazetten immer noch gebaut wird. (Auch damals gab es schon Fake News.) Kurzentschlossen sattelt er auf einen Elefantenrücken um und rettet nebenbei mit seinem Diener die junge Prinzessin Aouda, die Witwe eines Rajahs, vor dem Scheiterhaufen. Fogg lädt die indische Schönheit ein, ihn auf dem Rest der Weltreise zu begleiten. Während sich die Pazifik-Überfahrt mit einem Postschiff ohne nennenswerten Zwischenfall gestaltet (der Stille Ozean rechtfertigt seinen Namen), bringt die Durchquerung des amerikanischen Kontinents immer wieder Zeitverzug, denn die Pacific-Bahn wird entweder von Büffelherden oder von bewaffneten Sioux-Indianern aufgehalten. Als schließlich New York erreicht ist, das nächste Malheur: Das Postschiff nach Liverpool ist bereits vor 45 Minuten abgefahren. Für viel Geld bucht Fogg einen kleinen Dampfer, und als mitten im Atlantik die Kohle knapp wird, lässt er das hölzerne Oberdeck verfeuern. Angekommen in Liverpool schlägt jedoch Fixens Stunde: Der vollstreckbare Haftbefehl ist endlich eingetroffen, und Fogg sitzt im Gefängnis. Erst nach Stunden stellt sich heraus, dass der gesuchte Bankräuber bereits verhaftet ist. Trotz Charterns eines Sonderzuges erreicht Fogg London nur mit Verspätung. Fünf Minuten fehlen. Doch am nächsten Tag stellt sich heraus, sie hatten bei der Erdumrundung in östlicher Richtung einen Tag hinzugewonnen. Das hatte der sonst so akribische Fogg einfach übersehen. Die Wette ist doch noch gewonnen, und am Ende heiraten Phileas Fogg und Aouda, die sich während der Reise verliebt haben.
Die Reise um die Welt in 80 Tagen gehört zu Vernes populärsten Romanen. Er erschien im Herbst 1872 unter dem Titel Le tour du monde en quatre-vingts jours als Fortsetzungsreihe in der Tageszeitung Le Temps. Das Erscheinungsdatum der einzelnen Folgen war dabei weitgehend identisch mit den Reiseetappen der fiktiven Reisegruppe. Als vollständiges Buch wurde die Geschichte am 30. Januar 1873 im Pariser Verlag von Pierre-Jules Hetzel herausgegeben, der auch Victor Hugo, Honoré de Balzac und Émile Zola publizierte. Zu Lebzeiten Vernes erreichte der Roman immerhin eine Auflage von über 100.000 Exemplaren. Zwei Jahre später erschien dann die erste deutschsprachige Ausgabe. Realistisch wurde die spektakuläre Reise erst dank der Öffnung des Suezkanals im November 1869, was eine Umrundung des afrikanischen Kontinents ersparte, und neuer Eisenbahnlinien in den USA, die die Reisezeit erheblich verkürzten. In seinem Frühwerk, u.a. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde (1865) oder Reise zum Mond (1870), verarbeitete Verne den wissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben seiner Zeit. In seiner zweiten Schaffensperiode, zu der auch Reise um die Welt in 80 Tagen gehört, tauchen dagegen auch soziale und gesellschaftskritische Aspekte auf.
Laut der UNESCO-Datenbank »Index Translationum« ist der technikbegeisterte Jules Verne der am zweithäufigsten übersetzte Schriftsteller der Welt. Bei seinem Roman bezog er sich auf den US-amerikanischen Kaufmann und Autor Francis Train (1829-1904), der es bereits 1870 geschafft hatte, die Erde in 80 Tagen zu umrunden. Er soll übrigens darüber sehr verärgert gewesen sein, dass Verne seinen Romanhelden nicht nach ihm benannt hat. Trotzdem (oder gerade deswegen) hat er die Erde später noch dreimal umrundet; 1892 sogar in sechzig Tagen. Die amüsante und satirisch-humoristische Beschreibung des Utopisten Jules Verne hat auch später viele Reisende zur Nachahmung der Phileas Fogg-Reiseroute inspiriert.
Neben den zahllosen Übersetzungen wurde der Roman auch mehrfach verfilmt (u. a. 1956 mit David Niven, immerhin fünf Oscars). 2021 erschien eine moderne französisch-deutsch-italienische Serienadaption in acht Folgen, die auch die patriarchalen, europäischen und kolonialen Ansichten der Epoche sichtbar macht und damit den Klassiker dem Zeitgeist anpasst. Neben der Gesellschaftskritik ist auch das Thema Rassismus ständig präsent; ihm begegnet der schwarze und selbstbewusste Diener Passepartout (Ibrahim Koma) auf Schritt und Tritt. Er nimmt eine Schlüsselrolle in der Neuverfilmung ein. Weniger selbstbewusst dagegen ist Phileas Fogg (David Tennant), vielmehr ein Gentleman, der anfangs von Selbstzweifeln geplagt wird, aber im Laufe der wagemutigen Reise über sich hinauswächst. Die wohl stärkste Änderung zu Jules Vernes Literaturklassiker aber ist die Figur der jungen und frühemanzipierten Journalistin Abigail Fix (dargestellt von der deutschen Filmschauspielerin Leonie Benesch), die als Frau die Reisegruppe bereichert und an der Weltreise teilnimmt.