Die Frage, was heute unter linken Organisationsstrukturen in der Friedensbewegung verstanden werden kann, lässt sich nur mit Hilfe historischer Betrachtungen beantworten.
Die Ursprünge der Friedensbewegung liegen im bürgerlichen Pazifismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Bertha von Suttner entwickelt und geprägt wurde, und im Antimilitarismus der revolutionären Arbeiterbewegung. Von einer linken Friedensbewegung kann man erst seit den Massenprotesten der Arbeiterbewegung gegen die drohende Kriegsgefahr vor 1914 sprechen. Der französische Sozialist Jean Jaurés wird in diesem Zusammenhang oft mit dem Satz zitiert: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Über sein Verhältnis zu Bertha von Suttner ist folgendes Zitat überliefert: »Aber gerade so muss man sein wie sie (Bertha von Suttner), hartnäckig und zäh im Idealismus.« Dies zeugt von einer außerordentlichen Wertschätzung über weltanschauliche Unterschiede hinweg. Der Kampf für den Frieden als universelle Menschheitsaufgabe ist deshalb auch aus einem linken Selbstverständnis heraus immer ein Kampf um breite gesellschaftliche Bündnisse gewesen.
Neben der direkten Kapitalismuskritik ist aus linker Sicht der Internationalismus eine tragende Säule. Häufig zitiert wird dazu Che Guevara: »Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker«. Dieses kann man auch heute noch als linkes Identifikationsmerkmal und eindeutige Abgrenzung zu rechten Parolen wie »Deutschland zuerst« verstehen. Allerdings: »Solidarität der Völker« war bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Kernforderung der damaligen Weltfriedenskongresse und hatte damit auch eine feste Verankerung bei den bürgerlichen Friedenskräften. Und sie war ebenfalls Ausdruck des Antikolonialismus der Friedensbewegung und ihres Verständnisses als Befreiungsbewegung von Kolonialismus und Unterdrückung.
Der Kampf für Frieden und Abrüstung entwickelte sich vor dem ersten Weltkrieg massenhaft vor allem innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Linken in der SPD um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin machten den Militarismus zu einem Schwerpunkt der parlamentarischen und außerparlamentarischen Arbeit. Bereits 1907 definierte Karl Liebknecht in seiner Schrift »Militarismus und Antimilitarismus« den Militarismus als wesentliches Machtinstrument des herrschenden Systems, das alle Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens durchdringt. Diese Beschreibung trifft auch auf die aktuellen Entwicklungen in Deutschland zu.
Im Manifest des Baseler Kongresses der II. Internationale (1912) hieß es: »Die Proletarier empfinden es als ein Verbrechen, aufeinander zu schießen zum Vorteil des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien oder zu höherer Ehre diplomatischer Geheimverträge.«
Massive Proteste gegen den drohenden Weltkrieg im Juli 1914 konnten diesen nicht verhindern, zumal sich SPD und Gewerkschaftsführung (entgegen allen vorherigen Beschlüssen) auf einen »Burgfrieden« einließen und in der Folge auch die SPD-Reichstagsfraktion. Interessant sind die erkennbaren Parallelen zur heutigen Situation. Im Juli 1914 erfolgte bekanntlich nach dem Attentat von Sarajewo die Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien, mit voller Rückendeckung aus Berlin. Serbiens Verbündeter Russland beschloss daraufhin eine Generalmobilmachung. Dieses war – wie historisch belegt ist – der willkommene Anlass für die deutsche Politik, um Russland als Aggressor darzustellen und von der eigenen imperialistischen Kriegswilligkeit abzulenken. Damit konnte die Kriegserklärung an Russland als Verteidigungskrieg gegen das tyrannische russische Zarenreich dargestellt werden. Schließlich hatte die deutsche Sozialdemokratie von jeher im zaristischen Russland eine Gefährdung der demokratischen Entwicklung Westeuropas gesehen. Der zuvor propagierte Klassenstandpunkt »Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter« konnte vor allem durch dieses äußere Feindbild gekippt werden, um sich der Kriegspolitik der herrschenden Klasse nicht in den Weg zu stellen. Zunächst nur Karl Liebknecht stellte sich diesem politischen Opportunismus als Einzelner in der SPD-Reichstagsfraktion entgegen, nicht allein mit seiner Ablehnung der Kriegskredite, sondern vor allem mit dem Titel eines 1915 verfassten Flugblatts: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land.«
Ein weiteres wesentliches Element der Friedensbewegung ist der Antifaschismus, dessen Verständnis bis heute mehreren Wandlungen unterworfen war. Bereits 1924 definierte Georgi Dimitroff (zu jener Zeit Komintern-Vertreter in der Kommunistischen Partei Österreichs) den Faschismus als »terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Damit einhergehend wurde bereits 1931 durch eine Schrift Leo Trotzkis formuliert: »Ein Sieg Hitlers bedeutet: Krieg gegen die UdSSR.«. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine Erinnerungskultur basierend auf dem Schwur von Buchenwald mit »Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg«. Diese wurde auch prägend für die deutsche Friedensbewegung und ihre Kampagnen, angefangen vom Kampf gegen die Wiederbewaffnung über den »Kampf dem Atomtod« in den 50er Jahren sowie den Ostermärschen in den 60er Jahren. Diese Zeit war geprägt durch den Kalten Krieg und durch die sehr aktive, aber teilweise auch marginalisierte Rolle der Linken in der Friedensbewegung, wobei das 1956 erfolgte KPD-Verbot von zentraler Bedeutung war. Bemerkenswert ist zu diesem Zeitraum aber, dass damit fast nie ideologische Distanzierung und Ausgrenzung von Kommunisten innerhalb der Friedensbewegung verbunden waren. Ein Beispiel dafür ist, dass der aus bürgerlichen Kreisen kommende Martin Niemöller als führender Zeitzeuge des antifaschistischen Widerstandes 1966 in Moskau den »Internationalen Leninpreis für die Festigung des Friedens zwischen den Völkern« entgegennahm, trotz heftiger Kritik aus der deutschen Politik und Presse.
Damit kommen wir zur eigentlichen Frage: Warum sind diese historischen Bezüge für heutige Sichtweisen von besonderer Relevanz?
Verglichen mit früheren Aktivitäten und einstiger politischer Breite – wie insbesondere in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts – ist die Friedensbewegung eine aktive Kraft, aber keine gesellschaftliche Massenbewegung. Zum Verständnis der Ursachen kann man auf die Thesen von Prof. Rainer Mausfeld verweisen, wie z. B: in seinem früheren Buch »Warum schweigen die Lämmer?«. Eine Kernthese von ihm ist, dass soziale Bewegungen marginalisiert werden können, indem man sie von ihren historischen Wurzeln abtrennt bzw. entkernt und damit leicht manipulierbar macht. Dieses zeigt sich aktuell vor allem anhand der gesellschaftlichen Debatte »gegen rechts« mit Fixierung auf die AfD. Diese positioniert sich derzeit im Bundestag als Oppositionspartei gegen die Kriegspolitik der Nato in der Ukraine, ist aber programmatisch stark militaristisch geprägt. Mit Protagonisten dieser Partei gibt es daher kaum Berührungspunkte für die Friedensbewegung – mit AfD-Wählern aber sehr wohl.
Wenn die Hauptaufgabe der Friedensbewegung darin besteht, Menschen zu überzeugen und zu öffentlichem Protest gegen die eskalierenden Kriegsvorbereitungen zu motivieren, dann müssen besonders all jene Menschen angesprochen werden, die die Gesamtzusammenhänge noch nicht erkannt haben. Auch die, die aus falsch verstandener Friedenssehnsucht und emotional durchaus nachvollziehbaren Gründen AfD wählen und unterstützen bzw. für eine Zusammenarbeit mit dieser militaristischen Partei eintreten. Der »Hauptfeind im eigenen Land« ist nicht die AfD, sondern die militaristische Regierungspolitik, die kriegstreibende sogenannte Mitte der Gesellschaft und die sie tragenden ökonomisch Mächtigen. Der Kampf gegen Rassismus in seinen alltäglichen Erscheinungsformen darf nicht den Blick auf den strukturellen Rassismus des deutschen Imperialismus verstellen, dem bereits Ende des 19. Jahrhunderts – wie oben erwähnt – eine »Solidarität der Völker« entgegengesetzt wurde. Wer vorgeblich gegen einen drohenden Faschismus kämpft, muss auch dessen historische Funktion kennen und auf seine Klassendimension verweisen. Ein moralisierender »Nazis raus«-Ruf hilft nicht weiter, verkennt diese Prozesse, den Kampf um kulturelle Hegemonie und stärkt letztlich die autoritären Kräfte in der Gesellschaft. Deshalb braucht die Friedensbewegung keine ritualisierte »Abgrenzung gegen Rechts«.
Notwendig sind daher Strukturen in der Friedensbewegung, die sich von ihren historischen Wurzeln und Aktivitäten her explizit als linker, antimilitaristischer und antikapitalistischer Block verstehen. Antikapitalismus heißt, die Eigentumsfrage zu stellen. Diese ist vor dem Hintergrund eines immer stärker werdenden militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland aktueller denn je, wie das Beispiel des Rüstungskonzerns Rheinmetall zeigt.
Die konzeptionell klaren Bekenntnisse müssen ergänzt werden durch eine Bündnispolitik, die von einem respektvollen, nicht ausgrenzenden Umgang geprägt ist. Linke Friedensbewegte treten für die sozialen Interessen der großen Mehrheit der Menschen – national und international – ein, wollen die Emanzipation der Unterdrückten und Ausgebeuteten und halten es mit Karl Marx: »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.
In Zeiten des kulturellen Niedergangs hat deshalb »links« einen hohen aufklärerischen Wert, den es gegen die identitäre Verballhornung des Begriffs zu verteidigen gilt und der den oben beschriebenen Kern eines linken Selbstverständnisses enthält, ein Angebot zum Verstehen und Verändern der Welt, das die Erkenntnis einschließt, dass Menschen Geschichte machen.