Quo vadis? In allen auch nur halbwegs seriösen Medien kommt es in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen immer wieder zu Diskussionen über die »Ausrichtung« oder auch »nur« über die »richtige« Position zu konkreten Fragen und Entwicklungen. Das ist für »Profile«, gar »Alleinstellungsmerkmale« sicher nicht unwesentlich. Es kann sogar hilfreich sein, sofern es die Verbundenheit stärkt. Leider entfalten solche Selbstvergewisserungsprozesse aber stets eine gefährliche Eigendynamik, die dazu verführt, weit über das Ziel hinauszuschießen und nicht mehr nur Richtung zu bestätigen, sondern »Linien« zu suchen und im Zweifel sogar zu formulieren, die fortan – gewissermaßen »hausverbindlich« – einzuhalten sind. Mit solchen Linien werden also im Grunde Tabuzonen markiert.
Ein nur kursorischer Blick in die Geschichte (nicht nur die Geschichte der Pressefreiheit) sollte dabei zu großer Vorsicht mahnen. Fast immer – das lehren auch eigene Erfahrungen des Verfassers – enden solche Versuche und die daraus entstehenden »Regelungen« nicht lediglich in einem Niveauverlust, wie er etwa bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten zu beklagen ist, sondern in einer Art innerbetrieblichen Bürgerkrieg, der das Medium selbst und alle daran Mitarbeitenden beschädigt. Man befindet sich anschließend sofort akut entweder im Angriffs- oder im Verteidigungsmodus, darüber hinaus in einem chronischen Beobachtungs- und Kontrollzustand. Werden die Vorgaben auch wirklich befolgt? Das Nichteinhalten solcher »Linien« gilt den Einen von nun an als »Verrat«, den Anderen als »mutige Verteidigung von Meinungs- und Pressefreiheit«. Das eine wie das andere ist Unsinn, und die sich daran zwangsläufig entzündenden Scharmützel sind jeder Art von Journalismus abträglich.
Es braucht keine klar vorgezeichneten, abgrenzenden und ausgrenzenden »Linien«. Andersdenkende – auch und gerade in den »eigenen Reihen« –, solange sie einen intersubjektiven Geltungsanspruch hegen und argumentieren, statt nur apodiktisch behaupten, dürfen und sollen sich äußern. Ein allgemeiner Konsens über die politische, kulturelle oder gesellschaftliche Ausrichtung genügt vollkommen. Auf dieser Grundlage kann und soll dann auch gestritten werden. Es ist doch klar, dass beispielsweise eine Zeitung wie die junge Welt oder eine Zeitschrift wie Ossietzky keine AfD-Aufrufe veröffentlichen, dass dort weder fremdenfeindliche Handlungen oder Äußerungen begünstigt noch vermehrte Rüstungsanstrengungen gefordert werden – so wenig wie Welt oder FAZ in absehbarer Zeit dem Finanzkapitalismus den Krieg erklären dürften oder einen Systemwechsel herbeizuschreiben versuchen (obwohl die FAZ unter Schirrmacher manches Mal nah dran war; es hat ihr gutgetan).
Nein, »Linientreue«, in Wörterbüchern der deutschen Sprache stets – und völlig zurecht – mit den Attributen »angepasst«, »unkritisch«, »stramm« oder »konformistisch« versehen, ist der Tod jeder politischen Publizistik. Das haben Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky ebenso gewusst wie der Gründer dieser Zeitschrift, Eckart Spoo. Besser: Nie wieder! Denn was aus vorgegebenen, klar eingrenzbaren Linien und der Verpflichtung auf sie entstehen kann, ist nicht zuletzt auch historisch verbrieft: Ab 1935 übernahm die Reichspresseschule ganz offiziell die zentrale Ausbildung »linientreuer« Journalisten. Und etwa in derselben Zeit erreichten auch die »Stalinschen Säuberungen« gegen alle »Abweichler« von der »reinen Lehre« ihren Höhepunkt. Das Ergebnis beider Linienkämpfe sollte für sich sprechen – und gegen jedwedes Linien-Diktat.