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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Liniengerechte Begradigung

Die gera­de Linie steht in deut­schen Lan­den seit Men­schen­ge­den­ken hoch im Kurs. Hori­zont hat plan zu sein und deut­sche Eiche ker­zen­ge­ra­de. Der Blick ist stets gera­de­aus gerich­tet. Was schief liegt, wird gera­de­ge­rückt. »Schief­lie­gen« als Jam­mer­wort des Ver­sa­gens. »Gerad­li­nig« gilt für immer und ewig als Leit­vo­ka­bel für das Muster eines vor­bild­li­chen Cha­rak­ters. Im nur noch gele­gent­lich von so etwas wie Künst­ler­hand auf musi­sche Pfa­de gelenk­ten Bau­we­sen ist das von streng gera­den Leit­li­ni­en bestimm­te Raster-und-Qua­der-Den­ken maß­ge­bend. Man braucht kein Line­al mehr und kei­nen Zir­kel, um die Qua­dra­tur des Lebens­krei­ses zu bewerk­stel­li­gen. Wer ver­hin­dert eigent­lich flä­chen­deckend Anmut und Fan­ta­sie in der Archi­tek­tur? Jeg­li­cher musi­sche Über­schwang, den Frie­dens­reich Hun­dert­was­ser (falls den Wie­ner Fan­ta­sten noch jemand kennt) uns brach­te, ist doch auf Luft­num­mern a la Dani­el Libes­kind reduziert.

Unser bester Freund, der Com­pu­ter, schafft das. Ohne uns lan­ge danach zu fra­gen, tritt er die Herr­schaft an. Er baut ohne unser nör­geln­des Wenn und Aber in Win­des­ei­le Häu­ser­fluch­ten en mas­se. Dar­in fin­den wir uns als Men­schen vor lau­ter Gerad­li­nig­keit gar nicht mehr wie­der. Es gibt Gegen­den, da ist ein Höchst­stand der Begra­di­gung zu ver­zeich­nen. Da wer­den gan­ze Flüs­se und Ber­ge auf das Gera­de­aus getrimmt. Da fragt man unwill­kür­lich: Woher kommt das bloß? Na klar – die neben dem Geld hei­lig­ge­spro­che­ne Tech­nik schafft das erfin­dungs­reich und mühe­los. Algo­rith­men über­neh­men das Kom­man­do. Lebe­we­sen haben zu parieren.

Nun muss man ja zuge­ben: Mit­un­ter geht es ganz schön tur­bu­lent zu. Ein ein­zi­ges Drun­ter und Drü­ber ver­un­si­chert Wer­te, auf die man einst ver­trau­te. Da ist es kein Wun­der, wenn die Leu­te kla­re Anhalts­punk­te suchen. Auf dem kür­ze­sten Weg ist halt immer gera­de­aus. Wie sie dabei unbe­merkt auf Linie gebracht wer­den, das spü­ren sie gar nicht.

Das alles ist ein recht wei­tes Feld. Sol­che Area­le muss deut­sches Wesen, an dem ja immer irgend­et­was gene­sen muss, ein­gren­zen. Ent­ge­gen allen gegen­tei­li­gen Bekun­dun­gen ist das Gren­zen­lo­se immer suspekt. Wo fängt etwas an? Wo hört es auf? Das allein ist wich­tig. Was ver­meint­li­chem Recht und Gesetz ent­spricht, muss klar wie Kloß­brü­he im Licht der rei­nen Erkennt­nis schim­mern. Über­schau­bar soll es sein. Vor allem bere­chen­bar. Das näm­lich ist eine Lieb­lings­vo­ka­bel der einer Linie gerecht Werdenden.

Bekannt­lich wird die­se Spe­zi­es als lini­en­treu bezeich­net. Den »Lini­en­treu­en« gab es offen­bar aus­schließ­lich zu Zei­ten des eta­blier­ten Sozia­lis­mus. Bezeich­nend ist übri­gens, dass er nur in die­ser männ­li­chen Form über­lie­fert ist. Des­sen Akti­ve sind mit die­sem qua­si Schimpf­wort a prio­ri ins Abseits gestellt. Es ist ein Muster­bei­spiel aus dem Füll­horn der mit Häme gesät­tig­ten Spra­che der Abfäl­lig­kei­ten. Abfall wie der wöchent­lich gefäl­ligst zu ent­sor­gen­de Müll sind somit auch mensch­li­che Ver­hal­tens­wei­sen wie Treue zu etwas oder zu jeman­dem. Zu einer immer als suspekt ange­se­he­nen, weil erzwun­ge­nen »Par­tei­li­nie« offen­bar sowieso.

»Lini­en­rich­ter« wie­der­um kön­nen über die von ihnen beauf­sich­tig­ten Fuß­ball­fel­der und ange­mahn­ten Kicker-Regeln hin­aus kei­ner­lei Gel­tung bean­spru­chen. Dafür sind als Ken­ner aus­ge­wie­se­ne Men­schen gefragt, die uns sagen, wo es lang geht. Und bit­te sehr nicht immer mit die­sen unge­wis­sen Zick­zack-Kur­sen! Und bit­te sehr ver­scho­nen Sie uns mit ris­kan­ten Wen­de­ma­nö­vern! Und bit­te sehr ver­mei­den Sie jeg­li­chen Auf­ent­halt, falls ein Hin­der­nis auf­tau­chen soll­te! Und bit­te sehr – sagen Sie uns klar und deut­lich, wen wir als unse­ren Feind anzu­se­hen haben. Hier gibt es kein zuläs­si­ges Femi­ni­num. Es gibt nur »den« Feind. Oder »das« Feind­li­che, das an all unse­rem Unge­mach schuld hat.

Also: Immer gera­de­her­aus? Wenn die Linie stets so klar ist, wer­den wir ihr dann auch gerecht? Es wäre doch gelacht, wenn es uns nicht gelän­ge, ihr zu fol­gen. Ja, wenn da nicht ein ande­rer Umstand dazwi­schen­kä­me. Das all­ge­mei­ne über­mäch­ti­ge Bedürf­nis, auf den ver­schlun­ge­nen Haupt­bah­nen und Neben­we­gen der Markt­wirt­schaft krum­me Tou­ren zu bevor­zu­gen. Um des eige­nen Vor­teils wegen sind da die Mit­tel äußerst viel­ge­stal­tig. Die Chan­cen, sich zu berei­chern, lie­gen nun mal nicht schnur­ge­ra­de­aus vor uns. Win­kel­zü­ge sind ange­bracht. Wie es gera­de kommt, glei­tet Han­deln immer wie­der in Feil­schen über. Wo Bedarf lockt, lau­ern die Risi­ken zuhauf. Da gilt es, Umwe­ge ein­zu­schla­gen und über­ra­schen­de Mög­lich­kei­ten wahrzunehmen.

Der Markt kennt kei­ne Gerad­li­nig­keit. Das Nie­der­kon­kur­rie­ren von Kon­tra­hie­ren­den will mit Ver­ren­kun­gen und Vor­spie­ge­lun­gen erreicht wer­den. Das Rie­sen­ka­pi­tel Wer­bung öff­net sich über­haupt erst beim Ver­las­sen des ebe­nen und gerad­li­nig justier­ten Ter­rains. Ein Über­maß von Ver­spro­che­nem und Zu-Erhof­fen­dem macht die Umwor­be­nen kir­re fürs gro­ße Geschäft. In die hohe Poli­tik ein­ge­drun­gen ist längst der Trick des »Du hast Mil­lio­nen gewon­nen – mel­de dich unter Chif­fre sound­so«. Die ohne Bewusst­sein, also bewusst­los Han­deln­den fal­len dar­auf her­ein – und dann ab die Post in die gege­be­ne Richtung.

Kenn­zeich­nend, also maß­ge­bend sind Abneh­mer und Ver­brau­cher sowie vor allem die dazu­ge­hö­ri­gen ton­an­ge­ben­den Ver­brau­che­rIn­nen. Das Pas­siv regiert Abneh­mer und Ver­brau­cher plus -Innen. Aktiv ist allein der Vor­gang des Bezah­lens. Selbst die Vor­spie­ge­lun­gen von Glück gelan­gen nur umwölkt, wel­len­för­mig oder blitz­ar­tig über die Men­schen. Die Lie­be darf sich nur so gebär­den. Flir­ten hat nur auf Umwe­gen Erfolg. Und wie ist es mit der Geschich­te all die­ser Men­schen und ihrer erleb­ten Gesell­schaft? Auf den ersten Blick ein Cha­os. Und nach län­ge­rem gedank­li­chem Erin­nern kommt letz­ten Endes etwas so Ein­di­men­sio­na­les wie »gut« oder »schlecht« dabei heraus.

Die herr­schen­de oder zumin­dest ange­streb­te Gerad­li­nig­keit also ist der Ret­tungs­an­ker in der Not der Ver­wir­rung. Die sim­pel­ste Erklä­rung erscheint als das beste All­heil­mit­tel gegen die immer wie­der kol­por­tier­ten Ver­schwö­rungs­theo­rien. Wozu eine lan­ge erst ein­mal zu üben­de Schreib­schrift? Das pri­mi­ti­ve Notie­ren von Wor­ten tut es doch auch. War­um alle Vor­gän­ge so kom­pli­ziert erst kom­men­tie­ren, wenn es doch ohne Wor­te viel schnel­ler geht? Wer kennt sich heu­te noch mit diver­sen Denk­vor­gän­gen wie »Woher und wie­so ist das gekom­men« aus? Bit­te sehr: Was soll der Mensch tun, der nur aufs Gera­de­aus-Den­ken trai­niert ist? Ein­mal um die Ecke gedacht – und schon hat er total die Ori­en­tie­rung verloren.

Ehe die Zeit­ge­nos­sen und innen das ris­kie­ren, blei­ben sie lie­ber auf der vor­ge­ge­be­nen Linie. Und erwei­sen sich der Mit­glied­schaft in einem geord­ne­ten Staats­we­sen würdig.