»Keine andere Zeile eines Liedes begeisterte die Arbeiter um die Jahrhundertwende stärker als die Zeile ›Mit uns zieht die neue Zeit‹; die Alten und Jungen marschierten unter ihr, die Ärmsten und Ausgemergeltsten und die sich schon etwas von der Zivilisation erkämpft hatten; sie schienen sich alle jung.« Bertolt Brecht schrieb diese Zeilen um 1938 in seinen Anmerkungen zum »Leben des Galilei«. Er bewunderte »die unerhörte Verführungskraft dieser Worte« aus dem 1913 gedichteten und bald vertonten Lied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’«. Ihre Unbestimmtheit sei ihre Stärke. Denn: »Die neue Zeit, das war etwas und ist etwas, was alles betrifft, nichts unverändert lässt, aber doch eben ihren Charakter erst entfalten wird.«
Rasch wurde aus dem ursprünglichen Wanderlied ein politisches Lied: der Sozialdemokraten, der Jugendgruppe »Die Falken«, der Gewerkschaften, der Wandervogel- und Naturfreundebewegung, der Arbeiterjugendbewegung ganz allgemein. Aber schon Ende der 1920er Jahre zeigte sich, dass die von Brecht beschriebene »Unbestimmtheit« nicht nur die Stärke, sondern auch die Schwäche des Textes ausmacht. Viele Gruppierungen, welcher Ideologie oder Weltanschauung auch immer, eigneten sich das Lied an und füllten die Begrifflichkeit nach eigenem Dafürhalten. Katholiken sangen im Refrain »Christus, Herr der Neuen Zeit«, die KPD ließ Ernst Thälmanns Geist mitziehen, die SA nahm das Lied in ihre Liederbücher auf: »Mit uns zieht das Dritte Reich«.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte das Lied seine Karriere fort, einige Takte auch als Zeitzeichen im DDR-Rundfunk. Es steht in dem vom Zentralrat der FDJ 1979 herausgegebenen Liederbuch, in der Nachbarschaft der »Internationalen« sowie von »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« und »Bandiera rossa«, allerdings ohne die vierte Strophe (»Mann und Weib und Weib und Mann …«). Im selben Jahr nahmen die Sanges- und Zwillingsbrüder Hein und Oss aus dem pfälzischen Pirmasens das Lied in das von ihnen zusammengestellte »Liederbuch für Europa« auf, in der ursprünglichen Fassung, auch hier wie in dem FDJ-Liederbuch prominent platziert im Umfeld von »Bet’ und Arbeit«, dem Bundeslied, von »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« und »Vorwärts, und nie vergessen«, dem Solidaritätslied von Brecht und Eisler. Herausgeber des Gesangbuches: der Vorstand der SPD, Bonn. Hein und Oss hatten schon 1975 das Stück zusammen mit zwölf anderen »Arbeiterliedern« auf ihrer gleichnamigen Schallplatte aufgenommen, die in der gewerkschaftsnahen »Büchergilde« erschien.
Gesungen wurde das Lied in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur bei Zusammenkünften oder Umzügen wie den »Ostermärschen«, sondern regelmäßig am Ende von Gewerkschaftstagen, besonders der IG Metall, und offiziell seit Jahrzehnten, mit kurzer Pause zwischen 1998 und 2003, als Schlusslied auf den Bundesparteitagen der SPD, zeitweise in Konkurrenz zu »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«. Jetzt hat die SPD damit Schluss gemacht. Aus und vorbei.
Im Dezember 2021 erschien im Vorwärts eine nur 17 Zeilen lange einspaltige Meldung unter der Überschrift »Nicht mehr dieses Lied«. Dort steht zu lesen: »Auf Empfehlung des SPD-Geschichtsforums hat der Parteivorstand (…) entschieden, dass das Lied nicht mehr gesungen werden soll. Das Geschichtsforum empfiehlt, ein Lied zu suchen, ›das keine problematische Vorgeschichte besitzt‹ und die ›Grundhaltung der SPD im 21. Jahrhundert‹ trifft«. Ausgangspunkt des Beschlusses war ein entsprechender Antrag der Jusos aus Hessen-Nord zum Juso-Bundeskongress im Dezember 2018.
Nun hat aber nicht das Lied eine »problematische Vorgeschichte«, sondern sein Verfasser, den wir bisher noch nicht erwähnt haben. Hand aufs Herz, kennen Sie seinen Namen? In der Regel wird er zusammen mit dem des Komponisten bei der Veröffentlichung angegeben: Text Hermann Claudius; Musik Michael Englert.
Hermann Claudius, Lyriker, Autor und Urenkel von Matthias Claudius (»Der Wandsbeker Bote«, »Der Mond ist aufgegangen«), wurde am 19. Oktober 1878 in Langenfelde bei Altona – heute ein quirliger Hamburger Stadtteil – als Sohn eines Bahnmeisters geboren. Hier ist nicht der Platz, Biografie und Wirken von Claudius auszubreiten oder kritisch zu hinterfragen, deshalb seien nur die ihn in den Augen der Kritiker diskriminierenden Punkte genannt. Sie betreffen vor allem die Rolle des Literaten im NS-Staat.
Am 26. Oktober 1933 erschien in deutschen und etwas später auch in schweizerischen Zeitungen eine »Treuekundgebung deutscher Schriftsteller«, die »durch ihre Unterschrift dem Reichskanzler Adolf Hitler« ein »Treuegelöbnis« ablegten. Einer von 88 war Hermann Claudius, der noch bis zum Verbot der Partei am 22. Juni 1933 Mitglied der SPD gewesen war. 1939 erhält Hitler zum 50. Geburtstag einen Band mit 100 Namen und Gedichten, mit dabei: Hermann Claudius, der als beliebter Poet vom »Amt Rosenberg«, einer NS-Dienststelle für Kultur- und Überwachungspolitik, zur Beteiligung aufgefordert worden war.
Auf dieser zweimaligen Lobhudelei gründet das Nazi-Image, das Claudius nach dem Zweiten Weltkrieg nicht loswurde. Aber es verblasste schon bald im allgemeinen Bewusstsein. An dem Lied war der Missbrauch sowieso schadlos vorbeigegangen. Von seinem Verfasser hatte sich der Text schon längst emanzipiert.
Auch die Sozialdemokraten fanden schon bald wieder zu Claudius: »Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘« gehörte zum Generationengedächtnis der Partei. Zum 95. Geburtstag 1973 schickte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands »herzliche Grüße und Glückwünsche«. In dem Telegramm heißt es: »Ihr umfangreiches dichterisches Werk gehört zum besten literarischen Besitz unseres Volkes. Der Arbeiterjugend hat Ihr Schaffen viele geistige Impulse gegeben.« Absender der Gratulation: Bundeskanzler Willy Brandt, Finanzminister Helmut Schmidt und NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn, der sich bei der Gelegenheit – auf dem Telegramm steht’s zu lesen – zu seiner Beerdigung das Claudius-Lied wünschte. Wunschgemäß wurde es rund zwanzig Jahre später, 1992, bei der Trauerfeier gespielt.
Zum 100. Geburtstag von Claudius veröffentlichte das Bulletin der Bundesregierung am 26. Oktober 1978 die Glückwünsche des Bundespräsidenten Walter Scheel. SPD-Parteivorsitzender Willy Brandt schickte erneut ein Glückwunschtelegramm: »Meine Anerkennung und mein Dank gelten dem Dichter der niederdeutschen Heimat, vor allem aber dem Dichter der Deutschen Arbeiterbewegung.« Und auch Bundeskanzler Helmut Schmidt war mit einer Grußadresse dabei, seine Loki verlas die Botschaft in der Feierstunde im Festsaal der Patriotischen Gesellschaft Hamburg. Peter Struck wünschte sich 2005 zu seiner Verabschiedung als Bundesverteidigungsminister für den Großen Zapfenstreich ebenfalls »Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘«.
Hermann Claudius starb im September 1980. 40 Jahre später zieht mit einem neuen Vorstand eine neue Zeit ein und mit ihr die »Grundhaltung der SPD im 21. Jahrhundert«. Glück auf bei der Suche nach der Kopfgeburt.
Postskriptum: Trotz des Stimmenanteils von 25,7 Prozent bei der Bundestagswahl, das sind gerade mal ein Viertel der abgegebenen gültigen Stimmen, gelang der Überraschungscoup mit der Wahl von Olaf Scholz zum Bundeskanzler. Ein Erfolg, der dem neuen Generalsekretär Kevin Kühnert wohl etwas zum Kopf gestiegen war, als er am 31. Dezember seine Jahresbilanz 2021 vollmundig mit den ersten beiden Zeilen der dritten Strophe der »Internationalen« garnierte: »In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Parteien.« Von Berlin bis Moskau, von Hanoi bis Havanna gesungen, dürfte dieses Lied ebenfalls eine »problematische Vorgeschichte« besitzen. Und Kevin dürfte im Übrigen mit seiner Einschätzung ziemlich allein zu Hause sein.
Für einige historische Angaben diente die Webseite hermann-claudius.de als Quelle, betreut von Dr. Gerd Katthage, Aachen; die Angaben zur Treuebekundung deutscher Schriftsteller im Jahr 1933 entnahm ich den Materialien zu »Heinrich Mann: Der Haß«, Fischer Taschenbuch 1987; Brechts Anmerkungen zitierte ich nach der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 24, Schriften 4, S. 235, Suhrkamp/Aufbau 1991.