»Bücher haben ihre eigenen Schicksale«, sagten die alten Römer. Dasselbe könnte man über Lieder sagen. Aus aktuellem Anlass will ich einige Beispiele geben, die den Krieg betreffen. Das erste Lied stammt von Adalbert von Chamisso, und kein Geringerer als Robert Schumann hat den Text kongenial vertont. Das Gedicht hat den schlichten Titel »Der Soldat«.
Es geht bei gedämpfter Trommel Klang,
Wie weit noch die Stätte, der Weg wie lang.
O wär er zur Ruh und alles vorbei,
Ich glaub´, es bricht mir das Herz entzwei.
Ich hab´ in der Welt nur ihn geliebt,
Nur ihn, dem jetzt man den Tod doch gibt!
Bei klingendem Spiele wird paradiert,
Dazu bin auch ich kommandiert.
Nun schaut er auf zum letzten Mal
In Gottes Sonne freudigen Strahl;
Nun binden sie ihm die Augen zu,
Dir schenke Gott die ewige Ruh!
Es haben die Neun wohl angelegt;
Acht Kugeln haben vorbeigefegt.
Sie zittern alle vor Jammer und Schmerz.
Ich aber, ich traf ihn mitten in das Herz.
Die volkstümlich gewordene Melodie von Friedrich Silcher habe ich als Kind schon gehört, und natürlich den Text dazu, aber dessen wirkliche Aussage wurde mir erst Jahrzehnte später klar. Chamisso hat einen Text von Hans Christian Andersen ins Deutsche gebracht, was ich nicht verschweigen will, weil es wieder einmal den Einfluss des dänischen Dichters auf die deutsche Seele belegt. Was mich wundert und schockiert, ist, dass sich dieses Lied auch in einer »Sammlung der beliebtesten Vaterlands-, Volks- und Studentenlieder« findet (im »Freiburger Liederalbum« von 1907; es gibt sicherlich Dutzende Sammlungen dieser Art), die vornehmlich feucht-fröhliches und »patriotisches« Liedgut im schlechtesten Sinne umfasst. Ist es möglich, dass man dieses Lied einfach so runtergesungen hat, wie alles andere, ohne sich über seinen Inhalt wirklich Gedanken zu machen? Offenbar! Es musste sich also einreihen in sentimentale Lieder wie »Goldne Abendsonne/ wie bist du so schön« oder auch »Ich hatt’ einen Kameraden«. Der Kamerad wird dem Soldaten von einer feindlichen Kugel weggeschossen, er gerät allenfalls in den Konflikt, dass er sich nicht mehr um den Toten oder Verletzten kümmern kann, »dieweil ich eben lad«.
Chamissos Gedicht hingegen ist eine todtraurige Anklage gegen die Regeln des Militärs: Ein Soldat ist desertiert, und er wird von seinen eigenen Kameraden auf Befehl erschossen. Allerdings wird der Grund für diese Strafe nicht ausdrücklich genannt. Das ist ein Element der Verschleierung, das später vielleicht zum Anlass wurde, nicht mehr genau danach zu fragen, was eigentlich passiert war. Wonach auch nicht wirklich gefragt wurde, das ist die Aussage: »Ich hab in der Welt nur ihn geliebt«. Es ist klar, dass Robert Schumann, dessen ins Erotische spielende Neigung zu Männern bekannt ist, dieses Lied mit besonderer Emphase vertont hat: »Ich aber, ich traf ihn mitten ins Herz«. Schockierend ist auch, dass der Befehl zur Exekution widerstandslos hingenommen wird. Dabei gibt es Beweise dafür, selbst aus der NS-Zeit, dass Soldaten, die sich an einer Exekution nicht beteiligen wollten, keine schwerwiegenden Konsequenzen zu fürchten hatten. Aber Andersen und Chamisso kannten eben die Mechanismen von Befehl und Gehorsam sehr gut.
Es gibt (in derselben Sammlung von Studentenliedern) noch ein anderes, ebenso populär gewordenes Lied über Desertion, das handelt von einem Schweizer Burschen, den die Sehnsucht nach der Heimat von der Truppe weggetrieben hat (»Zu Straßburg auf der Schanz«, aus der Sammlung »Des Knaben Wunderhorn« von Brentano/Armin, vertont von Friedrich Silcher). Also eine völlig unpolitische Motivation, die immerhin gegen die Behauptung der Herrschenden steht, nur Feiglinge oder Verräter würden desertieren. Es ist in der Ich-Form geschrieben:
Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an; das Alphorn hört’ ich drüben wohl anstimmen, ins Vaterland musst ich hinüberschwimmen, das ging nicht an.
Ein’ Stund wohl in der Nacht sie haben mich gebracht; sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Haus, ach Gott, sie fischten mich im Strome auf, mit mir ist’s aus!
Frühmorgens um zehn Uhr stellt man mich vor das Regiment; ich soll da bitten um Pardon, und ich bekomm gewiss doch meinen Lohn, das weiß ich schon.
(…)
Ihr Brüder alle drei, was ich euch bitt’, erschießt mich gleich; verschont mein junges Leben nicht, schießt zu, dass das rote Blut rausspritzt, das bitt ich euch.
Hier sind die Aussagen sehr deutlich, und man fragt sich ebenso wie bei Chamissos Lied, wie es zuging, dass solche Lieder bei Festen und Saufereien gesungen werden konnten. Ein jammervolles Beispiel für den Umstand, dass kein Lied, und sei es auch noch so kritisch, davor gefeit ist, ins Triviale, ja ins Reaktionäre abzurutschen.
Und wer hätte gedacht, dass Heintjes Lied »Mama!« von 1967 einen militärischen Hintergrund hat? Es findet sich schon in der Sammlung »Musik für dich. Die neuesten Film-, Operetten- und Tanzlieder« von 1941 unter der Überschrift »Mutter!« als »Lied und Serenade aus dem Beniamino-Gigli-Film der Itala«. Die deutsche Fassung stammt von Bruno Balz, dem begnadeten Texter, der auch Zarah Leanders Durchhaltelieder geschrieben hat. »Mutter, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen!« – es ist ein junger Soldat, der das sagt. Der Sänger Beniamino Gigli (1890-1957) galt als würdiger Nachfolger von Enrico Caruso und hatte seine große Zeit zwischen den Weltkriegen. Im Film tritt er zwar nicht als Soldat auf, sondern als ein Sänger, der seinen italienischen Landsleuten in der 3. Klasse eines Schiffes Mut machen will. Aber die Botschaft ist trotzdem unüberhörbar, besonders in der Zeit, da der Film gedreht wurde.
Auch Luciano Pavarotti hat dieses Lied 1991 gesungen, und bei ihm dachte garantiert niemand an einen kleinen Jungen wie bei Heintje. Diese Informationen über das Lied sind heute leicht im Internet zu finden, aber in all den Jahrzehnten, in denen das Lied in Deutschland populär war, hat niemand darauf aufmerksam gemacht. Immerhin wurden Heintje und sein Lied zu Ikonen der Schwulenbewegung, und das ist ja auch nicht schlecht.