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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Libanon: Wie weiter nach der Hafenexplosion?

Als am 4. August im Bei­ru­ter Hafen 2750 Ton­nen Ammo­ni­um­ni­trat explo­dier­ten und tau­send­fa­ches mensch­li­ches Leid sowie gewal­ti­ge mate­ri­el­le Ver­hee­run­gen anrich­te­ten – gera­de­so, als ob dort eine gewal­ti­ge Bom­be ein­ge­schla­gen hät­te –, kam das einer natio­na­len Kata­stro­phe gleich. Inter­es­san­ter­wei­se hat­ten sowohl die israe­li­sche Armee als auch die liba­ne­si­sche His­bol­lah-Füh­rung jede für sich sofort erklärt, nichts damit zu tun zu haben. Nichts­de­sto­we­ni­ger aber wider­spie­gelt sich in dem Desa­ster wie in einem Brenn­glas das gan­ze Dilem­ma des klei­nen, an der Ost­kü­ste des Mit­tel­mee­res gele­ge­nen Staa­tes, des­sen Flä­che nur knapp der Hälf­te der des Bun­des­lan­des Hes­sen ent­spricht. Es beher­bergt neben sei­nen 4,5 Mil­lio­nen Ein­woh­nern noch reich­lich 1,5 Mil­lio­nen syri­sche bezie­hungs­wei­se palä­sti­nen­si­sche Flüchtlinge.

So fol­ge­rich­tig der Rück­tritt der erst seit Anfang 2020 unter Hassan Diab im Amt befind­li­chen Regie­rung war, lässt sich ihr allein aber die Ver­ant­wor­tung für die Schlam­pe­rei beim Umgang mit der gefähr­li­chen Che­mi­ka­lie nicht anla­sten. Viel­mehr erweist sich der durch Kor­rup­ti­on und Miss­ma­nage­ment nahe­zu völ­lig zer­setz­te liba­ne­si­sche Staat schon seit län­ge­rem als unfä­hig, über­haupt noch die ele­men­tar­sten öffent­li­chen Dien­ste – Bil­dung, Gesund­heits­für­sor­ge, Strom- und Was­ser­ver­sor­gung sowie Abwas­ser- und Müll­ent­sor­gung – bereit­zu­stel­len. Wäh­rend sich die an den poli­ti­schen Macht­he­beln befind­li­chen Eli­ten scham­los berei­chern und den Staats­bank­rott in Kauf neh­men, gras­siert unter der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung bis in die Rei­hen der Mit­tel­schicht mehr und mehr die Armut. All das wird durch die Covid-19-Pan­de­mie noch zusätz­lich wei­ter verschärft.

Genau genom­men, sieht sich Liba­non erneut an einem äußerst kri­ti­schen Punkt sei­ner Ent­wick­lung, bei dem es im Wesent­li­chen wie­der­um um sein kon­fes­sio­na­li­stisch gepräg­tes poli­ti­sches System geht. Wie näm­lich schon wäh­rend des Bür­ger­krie­ges zwi­schen 1975 und 1990, als die damals sich als Samm­lungs­be­we­gung der patrio­ti­schen Kräf­te ver­ste­hen­de »Liba­ne­si­sche Natio­nal­be­we­gung« einen neu­en, auf dem Fun­da­ment der Demo­kra­tie beru­hen­den Natio­nal­pakt ein­ge­for­dert hatte.

 

Schick­sal­haf­te kolo­nia­le Erblast

Der aktu­ell wie­der im Fokus ste­hen­de und noch aus der Zeit der fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­herr­schaft her­rüh­ren­de poli­ti­sche Kon­fes­sio­na­lis­mus hat Liba­non nicht nur sein beson­de­res Geprä­ge gege­ben. Viel­mehr wur­de damit die struk­tu­rel­le Basis für des­sen extre­me inne­re Zer­ris­sen­heit und Qua­si-Unre­gier­bar­keit sowie für ver­schie­den­ste äuße­re Ein­fluss­nah­men zugun­sten jewei­li­ger Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen gelegt. So gilt die von der Man­dats­macht Frank­reich im eige­nen Vor­herr­schafts­in­ter­es­se für den von ihr 1920 aus­ge­ru­fe­nen Staat »Grand Liban (Groß-Liba­non)« fest­ge­leg­te und dann in der Ver­fas­sung von 1926 fest­ge­schrie­be­ne kon­fes­sio­na­li­sti­sche Macht­ver­tei­lung im Prin­zip bis heu­te: für die mit Frank­reich schon seit Ende des 11. Jahr­hun­derts eng ver­bun­de­nen maro­ni­ti­schen Chri­sten die Staats­prä­si­dent­schaft, das Ober­kom­man­do der Armee und der Vor­sitz der Zen­tral­bank; für die sun­ni­ti­schen Mus­lims der Mini­ster­prä­si­den­ten­po­sten und für die schii­ti­schen Mus­lims die Parlamentspräsidentschaft.

Zwar war gemäß Art. 95 der 1990 revi­dier­ten 1926er Ver­fas­sung vor­ge­se­hen, »nach einem Etap­pen­plan den poli­ti­schen Kon­fes­sio­na­lis­mus zu über­win­den«. Aber davon blie­ben letzt­lich nur jene Neu­ju­stie­run­gen übrig, die im zuvor unter sau­di­scher Ver­mitt­lung zustan­de gekom­me­nen Taif-Abkom­men zur Been­di­gung des Bür­ger­krie­ges ver­an­kert wor­den waren. Sie betref­fen – als gewis­sen Macht­zu­wachs für die Sun­ni­ten – die Über­tra­gung der allei­ni­gen Exe­ku­tiv­ge­walt auf die Regie­rung sowie die Auf­stockung der Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten­zahl von 99 auf 128 Abge­ord­ne­te – jeweils zur Hälf­te Chri­sten und Mus­lims statt des frü­he­ren christ­li­chen Übergewichts.

Inzwi­schen hat sich aller­dings die­ser der poli­ti­schen Macht­auf­tei­lung zugrun­de lie­gen­de Pro­porz von 1926 deut­lich zugun­sten der Schii­ten ver­scho­ben, so dass ihnen eigent­lich die wich­tig­sten Staats­äm­ter zustün­den. Noch rele­van­ter aber sind indes die von die­sem spal­te­ri­schen System aus­ge­hen­den nach­hal­tig nega­ti­ven Wir­kun­gen auf das bis­he­ri­ge Nati­on Buil­ding. Anstel­le des not­wen­di­gen Stre­bens nach einem gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Kon­sens bei der natio­na­len Selbst­be­stim­mung domi­nie­ren jewei­li­ge spe­zi­el­le Grup­pen­in­ter­es­sen, ein­schließ­lich Kli­en­te­lis­mus, Nepo­tis­mus und ande­rer Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se, die zumeist noch mit äuße­ren Mäch­ten ver­bun­den sind und nicht sel­ten des­halb schon unter­ein­an­der kol­li­die­ren. Aus Furcht vor Macht- oder Patro­na­ge­ver­lust blei­ben die Kom­mu­ni­tä­ten lie­ber unter sich und suchen sich Unter­stüt­zung bei äuße­ren Mäch­ten mit durch­aus wider­strei­ten­den Inter­es­sen, wodurch Liba­non dann immer wie­der auch zu deren Aus­tra­gungs­ort mutiert.

 

Äuße­res Stre­ben nach Einflusssicherung

Nie­mand wird die Not­wen­dig­keit bestrei­ten wol­len, dass west­li­cher­seits die Bereit­stel­lung inter­na­tio­nal zuge­sag­ter Hilfs­gel­der zur Ein­däm­mung der Hafen­schä­den in einer Höhe von immer­hin gut 250 Mil­lio­nen Euro an gewis­se Bedin­gun­gen geknüpft wird, damit die­se nicht auch – wie bereits vie­le ande­re Gel­der zuvor – im Kor­rup­ti­ons­sumpf ver­sickern. Des­sen unge­ach­tet aber bestehen ernst­haf­te Zwei­fel, inwie­weit das tat­säch­lich nur aus Sor­ge um die so leid­ge­prüf­ten Men­schen geschieht. Schon der fran­zö­si­sche Prä­si­dent maßt sich die Rol­le eines spi­ri­tus rec­tor an. Wenn­gleich sich sei­ne Akti­vi­tä­ten nun auch gegen das einst von sei­nem Land selbst imple­men­tier­te poli­ti­sche System zu rich­ten schei­nen und er sich über­dies expres­sis ver­bis dafür aus­spricht, zwi­schen dem mili­tä­ri­schen und dem poli­ti­schen Arm der His­bol­lah zu dif­fe­ren­zie­ren und sie als poli­ti­sche Kraft selbst­ver­ständ­lich in den not­wen­di­gen poli­ti­schen Reform­pro­zess ein­zu­be­zie­hen, löst den­noch sein for­sches Vor­ge­hen ambi­va­len­te Reak­tio­nen aus. Wäh­rend die einen ihn als ein­zi­ge Hoff­nung fei­ern, repli­zie­ren ande­re die Ver­gan­gen­heit Liba­nons gera­de im 100. Jahr von des­sen Pro­kla­mie­rung als ein­sti­ges fran­zö­si­sches Protektorat.

Aber auch ande­re Mäch­te, dar­un­ter vor allem die USA und Isra­el sowie nicht zuletzt Sau­di-Ara­bi­en, ver­fol­gen deut­lich erkenn­bar ihre eige­ne Agen­da. Ihnen geht es erklär­ter­ma­ßen in erster Linie dar­um, mit Blick auf Iran die His­bol­lah als inner­li­ba­ne­si­schen poli­ti­schen Fak­tor aus­zu­schal­ten. Undif­fe­ren­ziert als rei­ne Ter­ror­grup­pie­rung klas­si­fi­ziert, wird für wei­te­re Sank­tio­nen gegen sie und mit ihr Ver­bün­de­te plä­diert oder auch ihre Mit­wir­kung in der Regie­rung ange­pran­gert. Außer Acht blei­ben dabei ihr rea­ler Ein­fluss unter den schii­ti­schen Bevöl­ke­rungs­tei­len sowie alle damit für Liba­non ver­bun­de­nen Risi­ken, zum Aus­tra­gungs­ort anti­ira­ni­scher Attacken zu wer­den – ana­log jenen israe­li­schen Kriegs­hand­lun­gen von 1978, 1982 und 2006, die Liba­non zum blu­ti­gen Schau­platz des unge­lö­sten Palä­sti­na-Isra­el-Kon­flikts wer­den lie­ßen. Aller­dings ist die bis­her immer wie­der gegen His­bol­lah vor­ge­brach­te Anschul­di­gung, gemein­sam mit Syri­en für das töd­li­che Atten­tat 2005 auf den dama­li­gen liba­ne­si­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Rafiq Al-Hari­ri ver­ant­wort­lich zu sein, mit dem Urteil des eigens dafür ein­ge­rich­te­ten UN-Tri­bu­nals vom 18. August 2020 nicht mehr aufrechtzuerhalten.

 

Zivil­ge­sell­schaft­li­cher Pro­test als not­wen­di­ges Druckmittel

Dass die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung nicht län­ger bereit ist, sich mit der Miss­wirt­schaft und Kor­rup­ti­on abzu­fin­den, bezeu­gen allein schon ihre Pro­test­be­kun­dun­gen unmit­tel­bar nach der Hafen­ex­plo­si­on. Die Demon­stran­ten mach­ten dabei nicht nur ihrem Zorn gegen die Regie­ren­den Luft, son­dern schrit­ten zugleich zu akti­ver Selbst­hil­fe beim Weg­räu­men von Schutt und Splittern.

Bereits mit ihrem Auf­stand vom 17. Okto­ber 2019 hat die sich for­mie­ren­de Demo­kra­tie­be­we­gung ihre Ent­schlos­sen­heit bekun­det, eine Ver­än­de­rung der immer untrag­ba­rer wer­den­den Ver­hält­nis­se her­bei­zu­füh­ren. Eine ihrer Haupt­for­de­run­gen damals wie heu­te ist, eine vom kon­fes­sio­na­li­sti­schen Prin­zip unab­hän­gi­ge Exper­tIn­nen-Regie­rung zu bil­den, um die aku­ten sozia­len und Wirt­schafts­pro­ble­me end­lich anzu­ge­hen. Im Herbst ver­gan­ge­nen Jah­res erreich­te sie zunächst ein­mal den Rück­tritt von Mini­ster­prä­si­dent Saad Al-Hariri.

Jedoch sieht sich die in poli­ti­scher wie sozia­ler Hin­sicht hete­ro­ge­ne Bewe­gung nun selbst vor gro­ße Her­aus­for­de­run­gen gestellt: die Klä­rung ihres Cha­rak­ters und die Erar­bei­tung eines Pro­gramms. Inwie­weit sie wil­lens und fähig ist, jene am Okto­ber­auf­stand betei­lig­ten Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen in orga­ni­sier­tem Rah­men zu bün­deln sowie einen mög­li­chen Fahr­plan für den Über­gang zu einem neu­en, demo­kra­tisch ver­fass­ten Liba­non zu unter­brei­ten, ist noch unge­wiss. Ohne »Druck der Stra­ße« wird kaum zu errei­chen sein, dass sich die poli­ti­schen Eli­ten des Lan­des nicht mehr in erster Linie von der Absi­che­rung ihrer Pfrün­de lei­ten las­sen. Bezeich­nend ist, dass eben die sun­ni­ti­sche Zuord­nung des Ex-Bot­schaf­ters in Deutsch­land, Musta­pha Adib, maß­geb­lich für des­sen Beru­fung zum neu­en Regie­rungs­chef war, der auch über 70 Pro­zent der Abge­ord­ne­ten zuge­stimmt haben. Die Demo­kra­tie­be­we­gung hin­ge­gen ver­ur­teil­te das Vor­ge­hen umgehend.

Es wird sich zei­gen müs­sen, inwie­weit es der Demo­kra­tie­be­we­gung gelingt, die not­wen­di­ge demo­kra­ti­sche Erneue­rung zu beför­dern, oder ob letzt­lich die Behar­rungs­kräf­te erneut obsie­gen und damit das Land wei­ter in den Abwärts­stru­del treiben.