Der Himmel war blau wie die Frühlingsblumen, die sich der Sonne entgegenreckten. Die Vögel in den noch kahlen Bäumen übertönten mit ihrem Gesang das von der Stadtautobahn herüberdringende Rauschen. Vor der Kapelle schoss eine Fontäne in die Höhe und plätscherte gleichmäßig zurück zu Boden. Wir standen auf dem Luisenfriedhof in Westend, also im Westteil Berlins, in dem der Verstorbene seit 1984 gewohnt hatte. In jenem Jahr war Lutz Brandt von Ost nach West gegangen, abgehauen, wie man damals sagte, von seiner Arbeit in Kreuzberg nicht zurückkehrt. Vorher hatte er Wichtiges, Mal für Mal, mit über die Grenze genommen und bei Freunden hinterlegt.
Nur seinen Sozialversicherungsausweis vergaß er. Das sollte sich später, bei der Berechnung seiner Rente – er war Jahrgang 1938 –, als sehr nachteilig erweisen. Im SV-Ausweis waren nämlich alle seine Ausbildungs- und Arbeitsstationen inklusive Verdienste minutiös aufgelistet. Nach einer Maurerlehre hat Brandt von 1964 bis 1970 an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee Architektur studiert, später war er Assistent und Meisterschüler von Walter Womacka, weshalb er auch an der künstlerischen Gestaltung der Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin 1973 aktiv mitwirkte. Für sie hatte Hochschulrektor Womacka den Hut auf.
Brandt war ein Multitalent. Er war Gebrauchsgrafiker, Bühnenbildner und Maler, hat riesige Giebelflächen verschönt, Plakate und Programmhefte gestaltet und Das Magazin, die NBI und das Jugendmagazin Neues Leben mit originellen Illustrationen bereichert. In Dresden stellte er 1982/83 auf der IX. Kunstausstellung der DDR aus. In Berlin leitete Brandt eine Arbeitsgruppe, die für die künstlerische Gestaltung der U- und S-Bahnhöfe der DDR-Hauptstadt verantwortlich war. Und er saß im Beirat für Stadtgestaltung beim hauptstädtischen Chefarchitekten. Er war dort nicht nur zuständig für architekturgebundene Wandmalerei, sondern kreierte selbst eine Vielzahl Bilder in Berlins Mitte und in Marzahn.
Das interessanteste und am meisten gerühmte Wandbild befand sich seit 1979 in der Warschauer Straße: Brandt hatte die Fassade eines Neubaus perspektivisch auf die vorstehende Brandmauer eines Nachbarhauses verlängert. Fuhr man die Bersarinstraße herunter – die seit 1991 Petersburger Straße heißt – gewann man den Eindruck, als zögen sich diese Linien ins Unendliche. Nach der »Wende« wurde das Wandbild zunächst respektlos beschmiert, dann ließ es »ein tumber Investor« verschwinden, wie die Berliner Zeitung schrieb.
Mit Werken wie diesen wurde Brandt auch im Westteil der Stadt bemerkt und zur Verschönerung von Fassaden und U-Bahnhöfen eingeladen. Lutz Brandt fiel nicht in jenes tiefe Loch, in das viele DDR-Künstler nach ihrem Seitenwechsel stürzten. Er hatte Aufträge genug, war weiter im öffentlichen Raum tätig, stattete Theaterbühnen und Filme mit Kulissen aus, arbeitete für die Expo in Sevilla, Lissabon und Hannover, für Dussmann und mit dem zweifachen Oscar-Preisträger Ken Adam, der – neben vielen anderen Produktionen – auch für eine Reihe von James-Bond-Filme legendäre Szenenbilder schuf.
In den letzten Lebensjahren ging es Brandt gesundheitlich nicht gut, seine Kreativität jedoch war ungebrochen. Günter Höhne und dessen Frau Claudia aus dem Osten Berlins sorgten sich um ihn und umsorgten ihn, die beiden Kinder Brandts lebten sehr weit weg. Höhne war in den achtziger Jahren Chefredakteur von form+zweck, der DDR-Fachzeitschrift für industrielle Formgestaltung, und ist heute der wohl kundigste Kenner des DDR-Designs und seiner Vertreter. Er sammelt und publiziert, versorgt Museen mit Exponaten ostdeutscher Formgestalter und sichert ihre Nachlässe. So nun auch den von Lutz Brandt, der Ende Januar starb.
Ende der neunziger Jahre hatten Höhne und Brandt an dessen Erinnerungen gearbeitet, doch der Verlag, dem sie den Text anboten, wollte nicht nur das Manuskript, sondern auch dreißigtausend D-Mark, weshalb sich damals die Sache erledigte. Ein Vierteljahrhundert später nahmen beide die Arbeit wieder auf. Es war ein Rennen gegen die Uhr, wie Höhne in seinem Nachruf auf Brandt sagte. Wenige Stunden, nachdem der letzte Punkt gesetzt und das Manuskript an den Verlag übermittelt worden war, kam die Nachricht aus dem Hospital, dass der 85-Jährige gestorben sei.
Günter Höhne war sich nicht sicher, ob jemand zur Beisetzung seines Freundes kommen würde. Ja, der Sohn Andreas und die Tochter Luise, gewiss. Als Brandt noch Stammgast war im »Diener«, in der berühmten Künstlerkneipe am Savignyplatz, kannte ihn Hinz und Kunz und suchten seine Nähe. Aber Anhänglichkeit schwindet schnell, wenn man öffentlich nicht mehr präsent ist. Höhnes Sorge erwies sich als unbegründet. Weit über hundert Menschen versammelten sich in der Kapelle: einstige Studienfreunde und Kollegen aus Ost- und Westberlin, Schauspieler, Grafiker, Fotografen, Künstler. In der Trauergesellschaft erkannte ich Frieda von Wild, Tochter von Arno Fischer und dessen Frau Sybille Bergemann, berühmte und inzwischen auch schon verstorbene DDR-Fotografen. Lutz Gelbert war da, Kommilitone Brandts in Weißensee und langjähriger Chefdesigner des LEW Hennigsdorf, die deutsch-iranische bildende Künstlerin Maryam Motallebzadeh, der Fotograf Armin Herrmann vom Werkbundarchiv – Museum der Dinge, der Mode-Designer Rainer Grabowitz aus dem Osten, Brandts Managerin und Verlegerin Ulrike Oppelt, Schauspieler wie Gerhard Haase-Hindenberg und Hermann Treusch, der nach Günter Höhne und Andreas Brandt das Wort ergriff und später am Grab auf der Mundharmonika spielte, die der Verstorbene ihm einst geschenkt hatte.
Die Gemeinde zog zu den Klängen des »Friendless Blues« und unter Glockengeläut in den »Italienischen Hain«. Sie folgte der Urne, die einen kleinen Dreidecker trug. Denn seine Memoiren, so hat Brandt verfügt, soll »Kunst-Flüge« heißen. Das erste Kapitel ist überschrieben mit: Ich kann fliegen. »Ich bin damals drei oder vier Jahre alt. Und ich träume immer von oben, über Straßen und Häusern. Manchmal fliege ich sehr hoch und kann ganze Städte sehen und dann wieder nur einen Meter über der Erde. Einmal fliege ich über einen Kirschbaum, und es gelingt mir – ich weiß noch, wie ich mich anstrengen musste – über dem Baum zu schweben, und zwar so, dass ich die Kirschen von der Baumkrone pflücken kann.«
Die Gemeinde zerstreute sich nach einer Weile, um sich noch einmal im »Diener«, Brandts erklärtem Feierabendheim, zu versammeln, um sich eines bedeutenden Künstlers zu erinnern, dessen Werke die meisten Berliner kennen, ohne seinen Namen zu wissen. In den Memoiren, die demnächst mit vielen Abbildungen erscheinen werden, zeigt sich Lutz Brandt als begnadeter Erzähler, der auch über sein eigenes Ende nachdachte, heiter, wie er zeitlebens war. »Was ist mit der Beerdigung, vor allem: wo findet sie statt? Und, Frage, Feuer- oder Erdbestattung? Im Geiste gehe ich die letzten Beerdigungen durch, denen ich beigewohnt habe. Das Wetter spielt eine Rolle und die Jahreszeit, was haben die Trauernden an? Ich habe gut gebaute Damen gesehen, in schwarzen, figurbetonten Kleidern, kleiner, weißer Kragen, vielleicht schwarze Strümpfe (mit Naht) und Pumps dazu … Was passiert in der Kapelle, welche Musik? Wer spricht? Gute Stimme, laut genug, ein Freund oder eine Freundin, nicht zu viel Haha, Fakten, etwas Bewunderung und Liebe. So liege ich im Sarg, mager gepolstertes, weißseidenes Interieur, ich würde mich gerne auf die Seite drehen, meiner Lieblingsschlafposition, ein Kissen zwischen den Knien, um die Beckenbeugung auszugleichen. Die Hose scheuert im Schritt, sie haben die Unterwäsche eingespart, die Krawatte würgt mich, der Anzug ist zu klein und daher die Hose zu kurz, und jetzt merke ich es: sie haben mir keine Socken angezogen, die Schuhe drücken, wie lange soll ich das aushalten?«