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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Letzter Flug

Der Him­mel war blau wie die Früh­lings­blu­men, die sich der Son­ne ent­ge­gen­reck­ten. Die Vögel in den noch kah­len Bäu­men über­tön­ten mit ihrem Gesang das von der Stadt­au­to­bahn her­über­drin­gen­de Rau­schen. Vor der Kapel­le schoss eine Fon­tä­ne in die Höhe und plät­scher­te gleich­mä­ßig zurück zu Boden. Wir stan­den auf dem Lui­sen­fried­hof in West­end, also im West­teil Ber­lins, in dem der Ver­stor­be­ne seit 1984 gewohnt hat­te. In jenem Jahr war Lutz Brandt von Ost nach West gegan­gen, abge­hau­en, wie man damals sag­te, von sei­ner Arbeit in Kreuz­berg nicht zurück­kehrt. Vor­her hat­te er Wich­ti­ges, Mal für Mal, mit über die Gren­ze genom­men und bei Freun­den hinterlegt.

Nur sei­nen Sozi­al­ver­si­che­rungs­aus­weis ver­gaß er. Das soll­te sich spä­ter, bei der Berech­nung sei­ner Ren­te – er war Jahr­gang 1938 –, als sehr nach­tei­lig erwei­sen. Im SV-Aus­weis waren näm­lich alle sei­ne Aus­bil­dungs- und Arbeits­sta­tio­nen inklu­si­ve Ver­dien­ste minu­ti­ös auf­ge­li­stet. Nach einer Mau­rer­leh­re hat Brandt von 1964 bis 1970 an der Kunst­hoch­schu­le in Ber­lin-Wei­ßen­see Archi­tek­tur stu­diert, spä­ter war er Assi­stent und Mei­ster­schü­ler von Wal­ter Womacka, wes­halb er auch an der künst­le­ri­schen Gestal­tung der Welt­fest­spie­le der Jugend und Stu­den­ten in Ber­lin 1973 aktiv mit­wirk­te. Für sie hat­te Hoch­schul­rek­tor Womacka den Hut auf.

Brandt war ein Mul­ti­ta­lent. Er war Gebrauchs­gra­fi­ker, Büh­nen­bild­ner und Maler, hat rie­si­ge Gie­bel­flä­chen ver­schönt, Pla­ka­te und Pro­gramm­hef­te gestal­tet und Das Maga­zin, die NBI und das Jugend­ma­ga­zin Neu­es Leben mit ori­gi­nel­len Illu­stra­tio­nen berei­chert. In Dres­den stell­te er 1982/​83 auf der IX. Kunst­aus­stel­lung der DDR aus. In Ber­lin lei­te­te Brandt eine Arbeits­grup­pe, die für die künst­le­ri­sche Gestal­tung der U- und S-Bahn­hö­fe der DDR-Haupt­stadt ver­ant­wort­lich war. Und er saß im Bei­rat für Stadt­ge­stal­tung beim haupt­städ­ti­schen Chef­ar­chi­tek­ten. Er war dort nicht nur zustän­dig für archi­tek­tur­ge­bun­de­ne Wand­ma­le­rei, son­dern kre­ierte selbst eine Viel­zahl Bil­der in Ber­lins Mit­te und in Marzahn.

Das inter­es­san­te­ste und am mei­sten gerühm­te Wand­bild befand sich seit 1979 in der War­schau­er Stra­ße: Brandt hat­te die Fas­sa­de eines Neu­baus per­spek­ti­visch auf die vor­ste­hen­de Brand­mau­er eines Nach­bar­hau­ses ver­län­gert. Fuhr man die Ber­sarin­stra­ße her­un­ter – die seit 1991 Peters­bur­ger Stra­ße heißt – gewann man den Ein­druck, als zögen sich die­se Lini­en ins Unend­li­che. Nach der »Wen­de« wur­de das Wand­bild zunächst respekt­los beschmiert, dann ließ es »ein tum­ber Inve­stor« ver­schwin­den, wie die Ber­li­ner Zei­tung schrieb.

Mit Wer­ken wie die­sen wur­de Brandt auch im West­teil der Stadt bemerkt und zur Ver­schö­ne­rung von Fas­sa­den und U-Bahn­hö­fen ein­ge­la­den. Lutz Brandt fiel nicht in jenes tie­fe Loch, in das vie­le DDR-Künst­ler nach ihrem Sei­ten­wech­sel stürz­ten. Er hat­te Auf­trä­ge genug, war wei­ter im öffent­li­chen Raum tätig, stat­te­te Thea­ter­büh­nen und Fil­me mit Kulis­sen aus, arbei­te­te für die Expo in Sevil­la, Lis­sa­bon und Han­no­ver, für Duss­mann und mit dem zwei­fa­chen Oscar-Preis­trä­ger Ken Adam, der – neben vie­len ande­ren Pro­duk­tio­nen – auch für eine Rei­he von James-Bond-Fil­me legen­dä­re Sze­nen­bil­der schuf.

In den letz­ten Lebens­jah­ren ging es Brandt gesund­heit­lich nicht gut, sei­ne Krea­ti­vi­tät jedoch war unge­bro­chen. Gün­ter Höh­ne und des­sen Frau Clau­dia aus dem Osten Ber­lins sorg­ten sich um ihn und umsorg­ten ihn, die bei­den Kin­der Brandts leb­ten sehr weit weg. Höh­ne war in den acht­zi­ger Jah­ren Chef­re­dak­teur von form+zweck, der DDR-Fach­zeit­schrift für indu­stri­el­le Form­ge­stal­tung, und ist heu­te der wohl kun­dig­ste Ken­ner des DDR-Designs und sei­ner Ver­tre­ter. Er sam­melt und publi­ziert, ver­sorgt Muse­en mit Expo­na­ten ost­deut­scher Form­ge­stal­ter und sichert ihre Nach­läs­se. So nun auch den von Lutz Brandt, der Ende Janu­ar starb.

Ende der neun­zi­ger Jah­re hat­ten Höh­ne und Brandt an des­sen Erin­ne­run­gen gear­bei­tet, doch der Ver­lag, dem sie den Text anbo­ten, woll­te nicht nur das Manu­skript, son­dern auch drei­ßig­tau­send D-Mark, wes­halb sich damals die Sache erle­dig­te. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter nah­men bei­de die Arbeit wie­der auf. Es war ein Ren­nen gegen die Uhr, wie Höh­ne in sei­nem Nach­ruf auf Brandt sag­te. Weni­ge Stun­den, nach­dem der letz­te Punkt gesetzt und das Manu­skript an den Ver­lag über­mit­telt wor­den war, kam die Nach­richt aus dem Hos­pi­tal, dass der 85-Jäh­ri­ge gestor­ben sei.

Gün­ter Höh­ne war sich nicht sicher, ob jemand zur Bei­set­zung sei­nes Freun­des kom­men wür­de. Ja, der Sohn Andre­as und die Toch­ter Lui­se, gewiss. Als Brandt noch Stamm­gast war im »Die­ner«, in der berühm­ten Künst­ler­knei­pe am Savi­gny­platz, kann­te ihn Hinz und Kunz und such­ten sei­ne Nähe. Aber Anhäng­lich­keit schwin­det schnell, wenn man öffent­lich nicht mehr prä­sent ist. Höh­nes Sor­ge erwies sich als unbe­grün­det. Weit über hun­dert Men­schen ver­sam­mel­ten sich in der Kapel­le: ­ein­sti­ge Stu­di­en­freun­de und Kol­le­gen aus Ost- und West­ber­lin, Schau­spie­ler, Gra­fi­ker, Foto­gra­fen, Künst­ler. In der Trau­er­ge­sell­schaft erkann­te ich Frie­da von Wild, Toch­ter von Arno Fischer und des­sen Frau Sybil­le Ber­ge­mann, berühm­te und inzwi­schen auch schon ver­stor­be­ne DDR-Foto­gra­fen. Lutz Gel­bert war da, Kom­mi­li­to­ne Brandts in Wei­ßen­see und lang­jäh­ri­ger Chef­de­si­gner des LEW Hen­nigs­dorf, die deutsch-ira­ni­sche bil­den­de Künst­le­rin Maryam Motal­lebzadeh, der Foto­graf Armin Herr­mann vom Werk­bund­ar­chiv – Muse­um der Din­ge, der Mode-Desi­gner Rai­ner Gra­bo­witz aus dem Osten, Brandts Mana­ge­rin und Ver­le­ge­rin Ulri­ke Oppelt, Schau­spie­ler wie Ger­hard Haa­se-Hin­den­berg und Her­mann Treusch, der nach Gün­ter Höh­ne und Andre­as Brandt das Wort ergriff und spä­ter am Grab auf der Mund­har­mo­ni­ka spiel­te, die der Ver­stor­be­ne ihm einst geschenkt hatte.

Die Gemein­de zog zu den Klän­gen des »Fri­end­less Blues« und unter Glocken­ge­läut in den »Ita­lie­ni­schen Hain«. Sie folg­te der Urne, die einen klei­nen Drei­decker trug. Denn sei­ne Memoi­ren, so hat Brandt ver­fügt, soll »Kunst-Flü­ge« hei­ßen. Das erste Kapi­tel ist über­schrie­ben mit: Ich kann flie­gen. »Ich bin damals drei oder vier Jah­re alt. Und ich träu­me immer von oben, über Stra­ßen und Häu­sern. Manch­mal flie­ge ich sehr hoch und kann gan­ze Städ­te sehen und dann wie­der nur einen Meter über der Erde. Ein­mal flie­ge ich über einen Kirsch­baum, und es gelingt mir – ich weiß noch, wie ich mich anstren­gen muss­te – über dem Baum zu schwe­ben, und zwar so, dass ich die Kir­schen von der Baum­kro­ne pflücken kann.«

Die Gemein­de zer­streu­te sich nach einer Wei­le, um sich noch ein­mal im »Die­ner«, Brandts erklär­tem Fei­er­abend­heim, zu ver­sam­meln, um sich eines bedeu­ten­den Künst­lers zu erin­nern, des­sen Wer­ke die mei­sten Ber­li­ner ken­nen, ohne sei­nen Namen zu wis­sen. In den Memoi­ren, die dem­nächst mit vie­len Abbil­dun­gen erschei­nen wer­den, zeigt sich Lutz Brandt als begna­de­ter Erzäh­ler, der auch über sein eige­nes Ende nach­dach­te, hei­ter, wie er zeit­le­bens war. »Was ist mit der Beer­di­gung, vor allem: wo fin­det sie statt? Und, Fra­ge, Feu­er- oder Erd­be­stat­tung? Im Gei­ste gehe ich die letz­ten Beer­di­gun­gen durch, denen ich bei­gewohnt habe. Das Wet­ter spielt eine Rol­le und die Jah­res­zeit, was haben die Trau­ern­den an? Ich habe gut gebau­te Damen gese­hen, in schwar­zen, figur­be­ton­ten Klei­dern, klei­ner, wei­ßer Kra­gen, viel­leicht schwar­ze Strümp­fe (mit Naht) und Pumps dazu … Was pas­siert in der Kapel­le, wel­che Musik? Wer spricht? Gute Stim­me, laut genug, ein Freund oder eine Freun­din, nicht zu viel Haha, Fak­ten, etwas Bewun­de­rung und Lie­be. So lie­ge ich im Sarg, mager gepol­ster­tes, weiß­sei­de­nes Inte­ri­eur, ich wür­de mich ger­ne auf die Sei­te dre­hen, mei­ner Lieb­lings­schlaf­po­si­ti­on, ein Kis­sen zwi­schen den Knien, um die Becken­beu­gung aus­zu­glei­chen. Die Hose scheu­ert im Schritt, sie haben die Unter­wä­sche ein­ge­spart, die Kra­wat­te würgt mich, der Anzug ist zu klein und daher die Hose zu kurz, und jetzt mer­ke ich es: sie haben mir kei­ne Socken ange­zo­gen, die Schu­he drücken, wie lan­ge soll ich das aushalten?«