Während der Covid-19-Pandemie ist die Armut bis zur Mitte der Gesellschaft vorgedrungen und die sozioökonomische Ungleichheit auf Rekordniveau gestiegen. Einerseits war die Zahl der einkommensarmen Personen mit 13,8 Millionen und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung mit 16,6 Prozent im Jahr 2021 größer als jemals zuvor, andererseits konzentrierte sich das Vermögen stärker in wenigen Händen als jemals zuvor. Arme wurden eher von einer Corona-Infektion getroffen und erkrankten schwerer als Wohlhabende, die aufgrund besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht bloß finanz-, sondern auch immunstärker waren. Auch von der anwachsenden Inflation, die übrigens nicht erst mit der Ukraine-Invasion und den folgenden westlichen Sanktionen begann, sind die Einkommensschwachen hier stärker getroffen als die reichen Oligarchen in Russland.
Hierzulande sind die meisten Reichen zuletzt noch reicher, aber auch – wie die Armen – zahlreicher geworden. Sehr viele Deutsche haben ihr Vermögen während der Pandemie vermehrt, die Zahl der Millionäre ist 2021 um rund 100.000 gewachsen, wie die französische Unternehmensberatung Capgemini feststellte. Vermutlich besitzen die reichsten 45 Familien des Landes inzwischen sehr viel mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung – über 40 Millionen Menschen, die laut dem Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht nur 0,5 Prozent des Nettogesamtvermögens ihr Eigen nennen.
Kaum hatte das als SARS-CoV-2 bezeichnete Virus im Frühjahr 2020 die Bundesrepublik erreicht, ertönten die Rufe nach dem Sozialstaat. Seit der Jahrtausendwende im Rahmen der »Agenda 2010« und der sogenannten Hartz-Gesetze mittels neoliberaler Reformen um- bzw. abgebaut, hielt man seine Leistungen für unverzichtbar, als zahlreiche Menschen durch die Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gerieten. Plötzlich sollte der oft beschimpfte Sozialstaat die Einnahmeausfälle und Gehaltseinbußen möglichst zu 100 Prozent kompensieren, welche seinen Bürgern durch die Pandemie selbst, durch Infektionsschutzmaßnahmen wie den Lockdown und durch die davon mit ausgelöste Wirtschaftskrise entstanden waren. Selbst von einem »Unternehmerlohn« war plötzlich die Rede, den übrigens auch die FDP forderte –, vielleicht deshalb, um zu verhindern, dass ihre Klientel beim Jobcenter um Arbeitslosengeld II nachsuchen musste und mit den vielfach als »Drückeberger«, »Faulpelze« oder »Sozialschmarotzer« diffamierten Hartz-IV-Beziehern in einen Topf geworfen werden konnte.
In der Coronakrise haben viele Angehörige der Mittelschicht, die bislang nie armutsgefährdet waren, erstmals Bekanntschaft mit dem System der sozialen Sicherung gemacht. Obwohl die Koalition von CDU, CSU und SPD den Zugang zu Hartz-IV-Leistungen für Soloselbstständige, Freiberufler und Kleinunternehmer erleichterte, wurden diese in den Jobcentern vielleicht erstmals mit einer wenig großzügigen und voreilig Missbrauch unterstellenden Sozialbürokratie konfrontiert. Daraus könnten Lerneffekte resultieren, die Vorurteile gegenüber Transferleistungsbezieher abbauen helfen.
Die schlimmsten Auswüchse des pandemiebedingten Wirtschaftsrückgangs, etwa Firmenzusammenbrüche und Massenarbeitslosigkeit, konnte der Staat mittels seiner Hilfsprogramme und Unterstützungsleistungen verhindern. Gleichwohl wurde die seit der Jahrtausendwende im Gefolge der neoliberalen Hegemonie durch Begriffe wie »Eigenverantwortung«, »Selbstvorsorge« und »Privatinitiative« abgelöste Solidarität nie ähnlich häufig beschworen wie in der pandemischen Ausnahmesituation. Man bezog sie jedoch nicht auf alle Opfer kapitalistischer Ausbeutung, sondern auf die für kurze Zeit als »Helden des Alltags« gefeierten Angehörigen »systemrelevanter« Berufe, etwa Pflegekräfte, Verkäuferinnen und Lkw-Fahrer.
Einrichtungen wie die Lebensmitteltafeln, Kleiderkammern und Sozialkaufhäuser gerieten schon zu Beginn der Covid-19-Pandemie, erst recht aber seit Beginn des Ukraine-Krieges und des von einzelnen Sanktionsmaßnahmen noch verstärkten Preisauftriebs schnell an ihre Grenzen. Viele mussten umgehend schließen, weil ihre meist älteren Ehrenamtler aufgrund der Infektionsgefahr nicht mehr zur Verfügung standen oder schon bald die nötigen Lebensmittelspenden ausblieben. Hier zeigte sich die Ambivalenz karitativen Engagements: Als die Not der von den Tafeln als »Kunden« bezeichneten Menschen am größten war, versagten diese Einrichtungen am meisten.
Nur ein hoch entwickelter, möglichst gut ausgestatteter Wohlfahrtsstaat kann die Versorgung der Bürger selbst in einer pandemischen Ausnahme- und Krisensituation gewährleisten. Tafeln, Sozialkaufhäuser und Kleiderkammern gibt es schließlich nicht immer dort, wo Arme sie benötigen, sondern häufiger dort, wo sich reiche Mäzene, großzügige Spender und freiwillige Helfer konzentrieren. Dies zeigt, dass wir nicht aus einem »Volk der Dichter und Denker« zu einem Volk der Stifter und Schenker werden dürfen. Almosen sind ein mittelalterlicher Weg der Armutsbekämpfung, mehr nicht.
Angesichts der Coronakrise und der höchsten Inflation seit einem halben Jahrhundert lautet die Schlüsselfrage: Wer kommt für die enormen Kosten der Finanzhilfen, »Rettungsschirme« und Entlastungspakete auf und wer trägt die Schuldenberge der öffentlichen Hand ab? Zu befürchten ist, dass nicht die Krisen- und Kriegsgewinnler zur Kasse gebeten werden, sondern vielmehr die sozial Benachteiligten die Zeche zahlen müssen. Statt der von Bundeskanzler Olaf Scholz am 24. Februar 2022 ausgerufenen »Zeitenwende« in außen-, rüstungs- und energiepolitischer Hinsicht sollte es eine Zeitenwende in sozialpolitischer Hinsicht geben.
Nichts ruiniert Umwelt, Natur und Klima mehr als das Militär. Statt den Rüstungshaushalt weiter aufzublähen, sollte die Bundesregierung ihre Bemühungen um Frieden, Entspannung und Abrüstung intensivieren. Nötig ist ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, aber nicht für die Bundeswehr, sondern für den öffentlichen Wohnungsbau, den Ausbau der Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die Alterssicherung von Geringverdienern sowie die Bekämpfung von Kinderarmut, pandemiebedingt gestiegener Langzeitarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit. Und für die Abfederung de rasant steigenden Energiekosten.
Wie die Infektion mit SARS-CoV-2 trifft die Inflation in erster Linie sozial Benachteiligte, verschärft die Einkommens- ebenso wie die Vermögensungleichheit und schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Da die wirtschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart mit steigendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einhergehen, ja geradezu deren Kehrseite bilden, der Staat aber durch ihre Kosten finanziell enorm belastet ist, muss die sozioökonomische Ungleichheit durch konsistente und miteinander kompatible Maßnahmen einer Umverteilung von oben nach unten zurückgedrängt und für zusätzliche Steuereinnahmen gesorgt werden, damit sich die öffentlichen Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden wieder füllen.
Will man die Schäden ähnlicher Katastrophen wie der Covid-19-Pandemie durch präventive Maßnahmen minimieren, führt nichts an der Notwendigkeit vorbei, bestimmte Steuern zu erhöhen oder wieder zu erheben und – vor allem – verstärkt kreditfinanzierte Investitionen zu tätigen. Die im Grundgesetz der Bundesrepublik und auch in mehreren Länderverfassungen enthaltene »Schuldenbremse«, welche als pauschales Kreditaufnahmeverbot für den Staatshaushalt eine expansive öffentliche Investitionstätigkeit praktisch blockiert und die Auflage von Konjunkturprogrammen zumindest erschwert, wenn nicht verhindert, ist durch die Covid-19-Pandemie vollends ad absurdum geführt worden. Genauso kontraproduktiv ist das finanzpolitische Dogma der »Schwarzen Null«, d. h. eines ausgeglichenen Bundeshaushalts, dem Christian Lindner als Finanzminister ebenso folgt wie seine Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble und Olaf Scholz.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch »Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona« veröffentlicht.