Wer Lenins Gedanken über die Wirtschaft Sowjetrusslands und ihre Umgestaltung kennenlernen will, ohne über zehn Bände mit den von ihm nach Oktober 1917 verfassten Schriften und Briefen zu studieren, findet in dem Büchlein des italienischen Ökonomen und Finanzfachmanns Vladimiro Giacché ein ziemlich umfassendes Kompendium über »Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution« vor. Es besteht wohl schätzungsweise zu achtzig Prozent aus Zitaten, darunter einigen wenigen, die in den deutschsprachigen Leninausgaben nicht enthalten sind. Die die Zitate verbindenden Sätze geben die zu ihrem näheren Verständnis notwendigen Hinweise über ideologische Anlässe und historische Rahmenbedingungen. All das geschieht ohne jede Hagiographie und ohne die heutzutage übliche, Lenin als »Vorgänger Stalins« denunzierende Sicht. Auch gegenüber jenen, die sich nach Lenins Tod beständig auf ihn beriefen und vorgaben, in seinem Sinne zu handeln, ist Giacché von geradezu vornehmer Zurückhaltung: Die Entwicklung der Sowjetunion nach Lenins Tod »entsprach jedenfalls nicht den letzten Empfehlungen des Gründers des Sowjetstaates«.
Was die Zitatkollagen besonders anregend macht, ist die Tatsache, dass Lenin vor allem seine eigene, aber auch die Politik seiner Mitstreiter beständig kritisiert hat. In seinen Reden und Schriften fehlte völlig der »Triumphalismus« seiner amtlich bestallten Nachfolger. Das enthob den Verfasser zu einem Gutteil der Aufgabe, eine eingehende analytische Kritik der Leninschen Wirtschaftspolitik zu liefern. Wer bedauert, dass der Verfasser diese nicht selber weitergetrieben habe, hat sicher recht, sollte aber zweierlei bedenken: Zum einen setzt eine solche an die Substanz gehende, nicht an bloßen Erscheinungen orientierte Kritik eine umfassende Kenntnis der originalsprachigen Quellen voraus (die dem Verfasser mangels Sprachkenntnis fehlt), zum anderen hatte der Verfasser ein sehr viel bescheideneres Resultat vor Augen, nämlich »eine Entdeckungsreise zu einem ökonomischen Aufbauprozess, der vor hundert Jahren auf unerforschtem Gebiet stattfand«. Wer ihm auf die »Entdeckungsreise« folgt, wird vielleicht auch einmal bei Lenin selbst nachlesen wollen.
Wer Geschichte und Gegenwart zusammendenkt, wird nicht verwundert sein, wie aktuell sich manche Überlegungen Lenins ausnehmen – sicherlich nicht für das in den Schoß des Kapitals zurückgekehrte Osteuropa, wohl aber angesichts der andauernden Diskussionen über die chinesische Wirtschaft und ihren Charakter. Die dort vorhandene »neuartige Kombination von Planwirtschaft und Marktwirtschaft« ist nach Giacchés Auffassung »nicht weniger verblüffend, als es einmal der Übergang zur NÖP unter Lenin war. Und auch die Reaktion darauf ähnelt der vieler Zeitgenossen Lenins: Es handle sich um eine simple Rückkehr zum Kapitalismus. Die chinesische Führung spricht ihrerseits von einem ›Sozialismus mit chinesischen Merkmalen‹…«
Schließlich sei auf ein Zitat in dem Buch hingewiesen, das nicht von Lenin stammt, sondern vom ehemaligen Führer der französischen Sozialisten (und späteren Präsidenten) François Mitterrand, und das jeder Wirtschaftspolitiker, gleich welcher politischen Couleur, beherzigen sollte: »In der Wirtschaft gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder Sie sind Leninist. Oder Sie ändern nichts.« Mitterrand war kein Leninist, er änderte nichts.
Vladimiro Giacché: »Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution«, übersetzt von Hermann Kopp, Edition Marxistische Blätter 115, Neue Impulse Verlag, 143 Seiten, 9,80 €