Vierzig Jahre lang habe ich als Arzt gearbeitet und in dieser Zeit viel erlebt: Oft konnte ich helfen, immer wieder war ich auch machtlos. Ungezählte Patienten haben mein Leben bereichert, einige wurden Freunde.
In diesen vier Jahrzehnten hat die Medizin gewaltige Fortschritte gemacht. Das Wissen in den Arzt- und Heilberufen hat sich um ein Vielfaches vermehrt. Wir können immer mehr Krankheiten immer besser bekämpfen. Doch dies ist nur die eine Seite des Fortschritts. Die andere Seite gibt weit weniger Anlass zu Euphorie. Das Medizinsystem steht unter ökonomischem und bürokratischem und zeitlichem Druck. Mit der Erfindung der Fallpauschalen ist die Marktwirtschaft in die Krankenhäuser eingezogen.
Die Fallpauschale ist die Vergütung einer definierten Erkrankung und deren Behandlung in einer fest kalkulierten Zeit. Gilt sie zum Beispiel bei der Krankheit X für fünf Tage und der Patient braucht aber sieben Tage, um gesund oder guten Gewissens nach Hause entlassen zu werden, bedeutet das für ein Krankenhaus ab dem sechsten Tag rote Zahlen. Weswegen der Patient möglichst schon am fünften Tag wieder gehen muss. Oder ein anderer schon am dritten, damit sich die Kosten ausgleichen. Alle Patienten werden also nur noch nach der für sie vorhandenen Fallpauschale betrachtet. Weswegen es zum Beispiel anders als früher auch nicht mehr möglich ist, einen alten Menschen mit verschiedenen Erkrankungen zu einer Gesamtuntersuchung ins Krankenhaus einzuweisen. Was bei gehbehinderten oder bettlägerigen Patienten die einzige Möglichkeit wäre, diverse Arztbesuche mit Krankentransporten zu vermeiden. Ein Verfahren, das nicht nur aufwändige (und ungewisse) Genehmigungen der Krankenkassen voraussetzt, sondern auch extrem belastend für den Patienten ist und zudem eine Gesamtbetrachtung des Kranken und den Austausch zwischen den Fachrichtungen unmöglich macht. Auch wegen der Fallpauschalen erhalten gesetzlich versicherte alte oder schwerkranke Menschen kaum noch eine richtige ärztliche Versorgung. Das lässt sich nur noch für Privatpatienten regeln – wenn sie mehr haben als eine private Zusatzversicherung.
Private und öffentliche Krankenhäuser konkurrieren mit gefährlichen Einsparungen am Patienten um Gewinne. Und die Pflicht zu ausufernden Dokumentationen über die Einhaltung der kalten Regeln der Zahlen zwingt Ärzte und Pflegepersonal, selbst zu Bürokraten zu werden. Pflegende und Ärzte haben immer weniger Zeit für die Patienten, denn Zeit schmälert den Profit und wird deshalb nicht honoriert. Zeit heißt Zuhören und Verstehen. Zeit bedeutet, Nähe zu signalisieren und Aufgehobenheit zu vermitteln. Immer mehr Menschen klagen über den Verlust dieser gelebten Menschlichkeit im gesamten Gesundheitswesen. Denn bei allen Fortschritten im Kampf gegen die Krankheit haben wir den kranken Menschen selbst vergessen. Dabei steht außer Zweifel: Heilung ist ohne Gespräche, ohne Empathie, ohne Wärme kaum möglich.
Das Ungleichgewicht könnte nicht größer sein. Während die Medizintechnologie in einem atemberaubenden Tempo revolutionäre Fortschritte macht, schwindet die Menschlichkeit, die sprechende Medizin. Dabei ist es kein Geheimnis, dass es nicht die Medizintechnologie allein ist, die die Menschen gesund macht. Auch menschliche Zuwendung ist ein wichtiger Faktor im Heilungsprozess. Beide Komponenten sollten zueinander in richtiger Beziehung stehen.
Wenn wir uns die Situation in den Krankenhäusern und Arztpraxen mit Hilfe einer Waage verdeutlichen, so ist die eine Waagschale, sagen wir die rechte, voll beladen. Es handelt sich um die Fortschritte in Forschung, Wissenschaft, Technologie, Pharmazie, kurz: um die »moderne Medizintechnologie«. Dieser Seite haben wir viel zu verdanken. Aber hier steht allein der mechanische Kampf gegen die Krankheit im Vordergrund.
So sehr sich die rechte Waagschale füllt, so wenig findet sich in der linken. Zwischen Hochleistungsmedizin und der sogenannten Wirtschaftlichkeit wurde der kranke Mensch selbst, wurde seine Seele vergessen. Während sich die Technik auf die Krankheit konzentriert, hat sich das System von den Patienten entfernt und sie immer mehr vernachlässigt. Die Kranken wurden zu Kunden gemacht, deren Versorgung sich eben meist nach der Höhe der Fallpauschalen richtet. Und nicht nach ihren Vorgeschichten, Lebenssituationen oder Gefühlslagen. Doch wenn wir den kranken Menschen wirklich helfen wollen, müssen wir auch wieder die linke Waagschale beachten. Ihre Gewichte aus medizinischer Sicht heißen: Verständnis, Respekt, Zeit, Kommunikation, Hilfsbereitschaft, kurz: Menschlichkeit. Wenn die rechte Waagschale zu schwer wird und es an Menschlichkeit mangelt, kommt es zu Fehlbehandlungen, der Heilerfolg wird gefährdet.
Aber ist Menschlichkeit in der Medizin noch zeitgemäß? Die Antwort lautet eindeutig: Ja! Sie ist so unverzichtbar wie eh und je. Wenn wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen, werden wir erfolgreicher und nachhaltiger heilen. Menschlichkeit rechnet sich übrigens auch bei strenger ökonomischer Betrachtung: Wenn wir den ganzen Menschen behandeln, haben wir am Ende nicht Zeit verloren, sondern gesunde Lebenszeit gewonnen. Wir haben nicht mehr Geld ausgegeben, sondern Geld gespart. Langfristige Heilung ist mit Menschlichkeit viel eher möglich. Und die setzt mehr Personal voraus. Eine Unterbesetzung im Pflegedienet von Krankenhäusern erhöht das Risiko schwerer Komplikationen. Zahlreiche internationale Studien zeigen, dass Pflegekräfte im Krankenhaus Symptome und Komplikationen bei Patienten eher übersehen, wenn sie überlastet seien. Was im Extremfall zum Tod des Patienten führen kann.
Doch ungerührt von allen Fakten werden kleine Allgemeinkrankenhäuser in der Fläche geschlossen (was auch für die Armen, die Hilflosen eine Katastrophe ist) und die anderen (Groß)Krankenhäuser für Profite und Einsparungen umgekrempelt. Übernächtigte Ärzte, die wie Maschinen am Laufband operieren müssen, überlastete Schwestern und Pfleger, überfordertes externes Hilfspersonal – wer soll sich da Zeit nehmen für ein Gespräch? Für den Menschen hinter der Krankheit? Durch den Management-Gedanken verschwindet das nicht direkt Messbare der Menschlichkeit. Und damit ein wesentlicher Teil unseres Sozialstaates.
Walter Möbius ist Arzt, Hochschulprofessor und Buchautor und war u. a. 24 Jahre lang Chefarzt der Inneren Abteilung am Bonner Johanniter-Krankenhaus.