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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lehren aus Auschwitz?

Ende Janu­ar sorg­ten Äuße­run­gen des Bun­des­tags­prä­si­den­ten Wolf­gang Schäub­le in einem Inter­view mit der Fun­ke Medi­en­grup­pe und der fran­zö­si­schen Zei­tung Ouest-France für Auf­merk­sam­keit, vor allem im Aus­land. Schäub­le hat­te wie­der ein­mal ein stär­ke­res mili­tä­ri­sches Enga­ge­ment gefor­dert: Man kön­ne sich nicht »weg­ducken« und »nicht alles den Fran­zo­sen und den Ame­ri­ka­nern über­las­sen«. Was hell­hö­rig mach­te und befrem­dend wirk­te, war der Bezug zu Ausch­witz, das vor 75 Jah­ren befreit wur­de. »Die Leh­re aus Ausch­witz« kön­ne, so Schäub­le etwas unge­schickt, kein Argu­ment dafür sein, »dau­er­haft kein Enga­ge­ment zu über­neh­men«. Auf­rü­stungs­po­li­tik und Kriegs­be­tei­li­gung sei­en wei­ter­hin zu for­cie­ren. Kon­kret geht es Schäub­le um den Auf­bau einer euro­päi­schen Armee und die direk­te Betei­li­gung an Krie­gen, zum Bei­spiel in Mali. Bei Ein­sät­zen die­ser Art müs­se man mit­wir­ken, auch dann, wenn die fran­zö­si­sche Regie­rung nicht gera­de in Begei­ste­rungs­stür­me gera­te, wenn die deut­sche ihre Vor­stel­lun­gen und Bedin­gun­gen ent­wick­le. Zum Schluss ein kryp­ti­scher Hin­weis auf die »mora­li­schen Kosten«, die sol­che Ein­sät­ze mit sich brin­gen. Gemeint sind damit offen­sicht­lich die Todes­op­fer, die Fol­gen mili­tä­ri­scher Macht­de­mon­stra­ti­on. Sol­che »Kosten« kön­ne man nicht ein­fach den Ver­bün­de­ten auf­bür­den. Deut­sche müss­ten sie über­neh­men, wenn sie ihre Macht demon­strie­ren wol­len. Die Leh­re aus Ausch­witz sol­le – so viel ist klar – kein Hin­der­nis sein.

Man kann sich natür­lich fra­gen, wor­in denn die Leh­re aus Ausch­witz bestehen soll. In einer Rede, die Schäub­le am 29. Janu­ar, nur weni­ge Stun­den vor dem erwähn­ten Zei­tungs­in­ter­view gehal­ten hat, fin­den sich Hin­wei­se. Ein heil­sa­mes Schwei­gen gebe es nicht, heißt es hier. Die Ver­gan­gen­heit müs­se stets aus­ge­han­delt wer­den, nur so bil­de sich – wie er Jan Ass­mann zitiert – ein Gedächt­nis. Schäub­le erwähnt die Befrei­ung durch Sol­da­ten der Roten Armee, und er ver­zich­tet auch nicht dar­auf, auf das Aus­maß der Ver­bre­chen ein­zu­ge­hen und die ver­schie­de­nen Grup­pen auf­zu­li­sten, deren syste­ma­ti­sche Aus­rot­tung geplant und weit­ge­hend aus­ge­führt wur­de. Schäub­le stellt auch her­aus, dass man sich zwar – zöger­lich – zur Schuld an den Ver­bre­chen bekannt, sich der Ver­gan­gen­heit aber nicht wirk­lich gestellt habe. Aber gera­de hier bleibt er vage. Die Ursa­chen für Ausch­witz wer­den nicht benannt – Wor­te wie Faschis­mus, Erobe­rungs­krieg, impe­ria­li­sti­sche Lebens­raum­po­li­tik, Her­ren­men­schen­tum, Anti­kom­mu­nis­mus fal­len nicht. Ausch­witz dient Schäub­le als War­nung vor Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus, doch den Kon­text zu deren Ent­ste­hung, Aus­brei­tung und Funk­ti­on lässt er aus. So rich­tig der Ver­weis auf das Pro­zess­haf­te des Erin­nerns ist, so abstrakt bleibt bei ihm das Gan­ze, wenn man den histo­ri­schen und gesell­schaft­li­chen Kon­text nicht benennt. Die Leh­re aus Ausch­witz hängt somit wie in so vie­len Sonn­tags­re­den in der Luft. Wirk­li­che Aus­wir­kun­gen auf die Gegen­wart hat sie nicht, kann sie und soll sie wohl auch nicht haben. Über einen Appell, die Wür­de des Men­schen zu ach­ten und gegen ras­si­sti­sche Über­grif­fe ein­zu­schrei­ten, geht sie nicht hin­aus. Das System, das Ausch­witz mög­lich mach­te, kommt nicht vor. Statt­des­sen wird höchst vage davon gespro­chen, »wie ver­führ­bar wir Men­schen« sind und wie »zer­brech­lich unse­re Zivi­li­sa­ti­on« ist. Wor­in soll die Leh­re aus Ausch­witz bestehen, wenn sie auf sol­chen satt­sam bekann­ten Plat­ti­tü­den beruht?

Wie Schäub­le die Nach­kriegs­ge­schich­te sieht, kann man anson­sten an einer Rede stu­die­ren, die er im Okto­ber 2019 zum Geden­ken an Ade­nau­er gehal­ten hat. Es geht frei­lich nicht nur um den ersten Bun­des­kanz­ler der west­deut­schen Teil­re­pu­blik, son­dern – ganz aktu­ell – um »Deutsch­lands Rol­le in der glo­ba­li­sier­ten Welt«. Ade­nau­er wird als Archi­tekt von »Frie­den, Frei­heit, Demo­kra­tie und Wohl­stand« gefei­ert, sei­ne Ent­schei­dung, die deut­sche Ein­heit zu opfern, wird ver­tei­digt. 1945 wird hier unver­blümt als »Kata­stro­phe« bezeich­net – ohne wei­ter dar­auf ein­zu­ge­hen, was mit der reak­tio­nä­ren Voka­bel impli­ziert ist. Die Nach­kriegs­jah­re sind für Schäub­le wohl die Jah­re eines vor­über­ge­hen­den Cha­os, aus dem Ade­nau­er zu neu­em Wohl­stand her­aus­ge­führt habe. Doch die erreich­te Sta­bi­li­tät gel­te es nun zu ver­tei­di­gen. Nach 1990 müs­se man bereit sein, auch »unse­re Macht« ein­zu­set­zen, »um zu schüt­zen und zu för­dern, was die Grund­la­ge unse­res Lebens­mo­dells aus­macht«. Der Ver­weis auf die Macht fin­det sich also hier bereits, eben­so der omi­nös-kryp­ti­sche Hin­weis auf den »Preis« die­ser Macht. Die »Zurück­hal­tung« der Deut­schen führt er auf die »Kata­stro­phe« von 1945 zurück, sie sei dafür ver­ant­wort­lich, dass wir unse­re Macht nicht demon­strie­ren woll­ten. »Aber unse­re Geschich­te«, so ruft er aus, »darf kein Fei­gen­blatt sein.« Im Jahr 2019 ist die­se Ein­schät­zung umso ver­wun­der­li­cher, als die Ber­li­ner Repu­blik bereits jah­re­lang ihre öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Hege­mo­nie­stel­lung in der EU unter Beweis gestellt hat. Län­der wie das drang­sa­lier­te, sei­ner Sou­ve­rä­ni­tät weit­ge­hend beraub­te Grie­chen­land kön­nen ein Lied davon sin­gen. Schäub­le ver­schanzt sich hin­ter einem angeb­li­chen demo­kra­ti­schen Kon­struk­ti­ons­prin­zip der EU, deren »Regel­werk« eine Hege­mo­nie Deutsch­lands gar nicht zulas­se. Euro­pa wird also gebraucht, um die Sou­ve­rä­ni­tät in der Welt zu sichern. Dazu gehört dann auch die EU-Armee, für die sich die »Schwar­ze Null« der Austeri­täts­po­li­tik stets stark mach­te. Wie unde­mo­kra­tisch Schäub­le dabei denkt, wird deut­lich, wenn er sich am Schluss sei­ner Rede auf Ade­nau­ers Remi­li­ta­ri­sie­rungs­kurs in den 1950er Jah­ren bezieht. Die­sen gegen den Wider­stand von 75 Pro­zent der Bevöl­ke­rung durch­zu­set­zen, habe Ade­nau­er kei­ner­lei Kopf­schmer­zen berei­tet. Für ihn – wie für Schäub­le – war allein ent­schei­dend, das ein­mal »als rich­tig Erkann­te« durch­zu­set­zen, auch gegen demo­kra­ti­schen Wider­stand. Die Bot­schaft ist klar: Die »Wohl­stands­si­che­rung« kann nur mit ent­spre­chen­der Macht­ent­fal­tung, auch der mili­tä­ri­schen, gelin­gen. Von irgend­ei­ner Leh­re aus Ausch­witz kann man sich da nicht beir­ren las­sen – 75 Jah­re nach Kriegsende.