Wenn man die Gedichte Henning Kreitels liest, fühlt man sich an Franz Biberkopf erinnert, den seltsamen Helden in Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz«. Auf Franz stürzt auch die Großstadt ein, wo es »kolossal viele Menschen« gibt und wo es laut ist; wo der Einzelne wenig zu gelten scheint, frei und eingesperrt zugleich ist. Freilich führt Döblin eine Wandlung vor, mithin Hoffnungsvolles, während in den Gedichten Kreitels der Optimismus sich zu verflüchtigen scheint. Am Anfang des Bandes: »bis zum äußersten / mit hoffnung gefüllt …« Und am Ende: »gewicht des lebens / nicht mehr stemmbar …« Das Seltsame geschieht auch hier: Wer im Kaff sitzt, sehnt sich nach dem Trubel der Großstadt, der Großstädter nach der Ruhe. Dem Buch wurden Cyanotypien aus der Serie »Auf Ruhesuche« beigegeben. Die Eisenblaudrucke – dargestellt sind Berliner Parklandschaften – sind von hohem ästhetischem Reiz und wundersamem Kontrast zu den Wortgebilden. So kann man alle paar Seiten rasten: im Treptower Park, im Volkspark Friedrichshain und so weiter. Wenn aber der Stadtgang wieder aufgenommen wird, dann prasselt es auf den Passanten ein, den man sich vielleicht doch als Flaneur vorzustellen hat: »blaulichtfanfaren«, »kopfsteinrassel«, »behornter lkw«, »wildes laserlichtspiel«. In einigen der Texte wähnt man sich im expressionistischen Großstadtgedicht, bei Georg Heym und Alfred Wolfenstein. Aber während die Großstadt dort als Moloch, als Ort der Isolation und Gewalt erscheint, gibt es bei Kreitel Soziologisches: »gentrifizierungsanzeiger«, der »mietanstieg macht sich breit«, und »platzkämpfe mit statussymbolen« werden ausgefochten. Und noch ein Unterschied zu vielen anderen Großstadtgedichten: Mitunter leuchtet Ironie auf, wenn zum Beispiel eine »internetfleischschau« in »verzweifeltes taschentuchschwängern« mündet oder maliziös zugesehen wird: »vor die türgelieferte bequemlichkeit / fingerschnell geklickt / aber zeitfensterungenau / bricht unmut auf / entlädt sich und stolpert davon / zur nächsten wunschauslieferung / schon parkt ein weiterer giergesandter.« Das sind genau beobachtete und pointiert formulierte Szenen aus der Großstadt, die wie nebenher Lebensgefühl widerzuspiegeln vermögen, das vielen verlockend erscheinen muss, bedenkt man den starken Drang zur Urbanität, besonders bei jungen Menschen. Doch ob der Stadtrhythmus, der sich jedem aufzwingt, immer »mit joint und lieblingsmusik« zu bewältigen ist? Tut sich da nicht doch die Leere, Hohlheit, Brutalität auf, von der die Expressionisten schon ein Lied zu singen wussten?
Kreitel verwendet sehr häufig Partizipien, gewiss, um Zustände genau abzubilden. Das gelingt ihm manchmal so treffend, dass es den Leser wie ein Lichtstrahl (Laserstrahl?) trifft. Freilich bringt nicht jeder »gedichterzeugende« Gang bedeutende Entdeckungen. Es gibt ein paar Texte, die über den Befund des Selbstverständlichen nicht hinausgehen, etwa »nichts bleibt, wie es war«. Oder: »in erinnerungsfetzen / verewigt eingewebt / nochmaliges betrachten /gelebter stunden«. Doch vielleicht schafft gerade Erkennen des bereits Gedachten beim Leser die Nähe, welche diese Gedichte brauchen. Es ist gut, wenn man sich in Gedichten finden kann – und das ist hier möglich.
Henning Kreitel: »im stadtgehege«, Gedichte, Mitteldeutscher Verlag, 112 Seiten, 12 €