»Er wird bald heiraten«, schrieb Franz Kafka am 30. November 1911 in sein Tagebuch. »Er«, das war der damals 21-jährige Kurt Tucholsky, den Kafka in Prag durch Vermittlung eines gemeinsamen Bekannten kennengelernt hatte. »Ein ganz einheitlicher Mensch«, schwärmte Kafka, doch dass das auf Tucholskys Beziehung zu Frauen nicht zutraf, ahnte er wohl nicht. Wann genau Tucholsky sich mit seiner Jugendliebe Kitty Frankfurther verlobte, welche Worte er dabei wählte, kann nicht mehr rekonstruiert werden.
Im April 1911 hatte Tucholsky seine Karriere mit einem ersten veröffentlichten Artikel (»Kunst und Zensur«) im SPD-Parteiorgan Vorwärts eingeläutet, außerdem sollte er noch im selben Jahr seine erste eigene Wohnung beziehen. Er hatte sich weitestgehend von seiner Familie abgenabelt, aber nicht vollständig gelöst. Gern beschrieb er sie in seinen satirischen Texten als eine Art lauernde Krake im Hintergrund, der man nicht aus dem Weg gehen konnte. Mit der Medizinstudentin Else Weil verbrachte er in diesem Jahr im August einen Urlaub in Rheinsberg und verarbeitete die wohl glückliche Zeit schließlich literarisch in seiner Novelle »Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte« über das unkonventionelle Paar Wolfgang und Claire. Claire Pimbusch, das war »C. P.«, der Tucholsky das Buch widmete, gemeint war damit Else Weil. Aber da gab es noch eine andere Widmung: »K. F.«, die rätselhafte »Kitty Frankfurther«, die dem jungen Mann zu dem Zeitpunkt auch wichtig gewesen sein muss. Der Erste Weltkrieg beendete das sowieso temporäre Zusammensein von Tucholsky und Frankfurther. 1917 kam es dann zu Tucholskys schicksalhafter Begegnung mit Mary Gerold in Kurland, die nach Else Weil seine zweite Ehefrau werden sollte, zu dieser Zeit war er immer noch mit Kitty Frankfurther verlobt, löste die Verlobung dann aber ein Jahr später.
Bis heute war so gut wie nichts über die mysteriöse Verlobte bekannt. Erwähnt wurde sie stets in den einschlägigen Tucholsky-Biographien, aber auch immer mit dem Zusatz, dass man ihre wahre Identität nicht kenne und man so gut wie nichts über sie wisse. Der Tucholsky-Biograph Michael Hepp gab 1993 den entscheidenden Hinweis: »Da ihr Vater starb, als sie noch nicht ein Jahr alt war, bekam sie den Namen ihres Stiefvaters Frankfurther.« Er zitierte dabei aus einem Brief Kitty Frankfurthers vom 5. Oktober 1961 an die Schriftstellerin Elisabeth Castonier, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird. Kitty, die zu dieser Zeit zur Erholung in Bath weilte, bat darin um Diskretion, so dass Hepp den Namen verschwieg, denn unterschrieben hatte sie mit »Kitty Liefmann«. Nach meiner Auswertung der Berliner Standesamtsregister im Internetportal www.ancestry.de stand dann fest: Der Stiefvater von Kitty Liefmann war der jüdische Kaufmann Adolph Frankfurther aus der Kurfürstenstraße 124, der am 4. Januar 1894 in Charlottenburg die Witwe Agnes Sofie Liefmann geborene Horschitz geheiratet hatte. Das Aufgebot hatte das Brautpaar in Hamburg bestellt, bekanntgegeben wurde es im Öffentlichen Anzeiger des Amtsblatts der Freien und Hansestadt Hamburg. Kittys Mutter stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Vater der Braut war einer der wenigen Juden in Deutschland, die einen Adelstitel trugen. Dabei handelte es sich um ein italienisches Baronat, wobei Horschitz aus unbekannten Gründen in Italien auf Widerstand gegen seine Erhebung in den Adelsstand gestoßen war. Erhalten hatte er den Titel des Barons dann 1875 doch, vor allem aufgrund einer großzügigen Spende für ein zu errichtendes Hospital für Augenleidende in Florenz.
Kitty Frankfurther war somit durch ihren familiären Hintergrund das, was man damals im Allgemeinen als »eine gute Partie« bezeichnete, und auch Tucholskys ansonsten eher kritische Mutter wird die Verlobte ihres Sohnes wohlwollend durch ihre Loignette betrachtet haben. Der ursprünglich aus Kassel stammende Großkaufmann Baron Sally (eigentlich: Salomon) von Horschitz besaß unter anderem ein großes Salzlager in Hamburg und hinterließ in der Stadt bemerkenswerte Spuren. Der Harvestehuder Weg ist bekannt dafür, dass dort die schönsten Villen der Stadt stehen. Zwei davon, die vom Architekten Albert Rosengarten zwischen 1870 und 1872 erbaute Villa Horschitz mit der Hausnummer 8 und das ebenso feudale Gebäude mit der Nummer 7 b, wurden für Kittys Großvater gebaut, der am 18. März 1883 in Hamburg verstarb.
Am 9. Januar 1890 hatte Kurt Tucholsky in Berlin das Licht der Welt erblickt, acht Tage zuvor wurde (Erna Margot) Katharina Liefmann in Hamburg geboren, die später den Kosenamen Kitty bekam. Kitty war erst zwei Jahre alt, als ihr leiblicher Vater, der Kaufmann Rudolf Liefmann, am 7. Dezember 1892 in Hamburg-Rotherbaum starb und seine Witwe mit ihr und ihrer sechs Jahre älteren Schwester Maria Elisabeth, genannt Lilly, zurückblieb. Nach der erneuten Heirat ihrer Mutter lebte die Familie in Berlin. 1911 starb Adolph Frankfurther, und im selben Jahr muss dann schließlich die Verlobung zwischen Kitty und Tucholsky erfolgt sein.
Nach der »Entlobung« im Jahr 1918 verschwand Kitty endgültig aus dem Leben Tucholskys, blieb aber in derselben Wohngegend ansässig. Geheiratet hat sie tatsächlich nie, man weiß nicht, welche seelische Wunde ihr die langjährige amouröse Episode mit Tucholsky zugefügt hatte. 1938 hieß sie im Berliner Adressbuch schließlich auch offiziell »Kitty«, als Kitty Liefmann wohnte sie in der Trautenaustraße 11 und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit »kunstgewerblicher Strickerei«. Aber war sie noch dieselbe Kitty, die mit Tucholsky verlobt gewesen war? Wie hatten diese nicht gerade kurzen sechs Jahre die junge Frau geprägt, in die Tucholsky einmal verliebt gewesen war? Kittys Schwester Lilly hatte ihre erste Verlobung mit Marczell Lássló 1904 bereits nach wenigen Monaten aufgelöst. Noch nicht einmal ein Jahr später heiratete sie den Berliner Kaufmann Paul Heinemann. Das Ehepaar Heinemann emigrierte rechtzeitig nach England. Für Kitty, die in Berlin geblieben war, wurde die Lage nach 1933 zunehmend lebensgefährlich, doch zusammen mit ihrer Mutter, gelang ihr 1937 noch die Flucht nach London. Familiäre und geschäftliche Verbindungen vor Ort – die Horschitz hatten dort im 19. Jahrhundert die Firma Horschitz & Co. gegründet – werden den kompletten Wechsel des Lebensumfelds erleichtert haben. 1943 starb Kittys Mutter in Epsom in der Nähe von London. Lange Jahre wohnte Kitty im noblen Londoner Stadtteil Kensington, da hatte sie die Briefe, die Kurt Tucholsky ihr während ihrer Verlobungszeit schrieb, schon längst vernichtet, und glaubte bis zum Schluss, damit auch im Sinne von Tucholsky gehandelt zu haben. Mit ihrem früheren Leben schien sie abgeschlossen zu haben, sie, die sowieso nicht gern im Rampenlicht stand, und auch Deutschland hat sie nie wieder gesehen, das hatte sie mit Tucholsky gemeinsam. Ihren Alterswohnsitz suchte sich die vermögende Frau, die seit dem 4. Mai 1948 britische Staatsbürgerin war, im hohen Alter im landschaftlich schönen Surrey aus. Clare Park in der Nähe von Farnham, ein opulentes Herrenhaus in riesiger Parklandschaft, das noch heute als Seniorenresidenz dient, war bis zum 3. Juni 1980 Kittys letzte Adresse in England. Dort erinnern sich noch heute zwei Mitarbeiterinnen an die Frau, die einmal sechs lange und ungewisse Jahre Kurt Tucholskys Verlobte war. Letzterer hat sie vermutlich schnell vergessen.
Bettina Müller schreibt Artikel und Aufsätze unter anderem für die taz, das Blättchen und das neue deutschland. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Kriminalgeschichte sowie Reiseberichte.