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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kurt Tucholskys unbekannte Verlobte

»Er wird bald hei­ra­ten«, schrieb Franz Kaf­ka am 30. Novem­ber 1911 in sein Tage­buch. »Er«, das war der damals 21-jäh­ri­ge Kurt Tuchol­sky, den Kaf­ka in Prag durch Ver­mitt­lung eines gemein­sa­men Bekann­ten ken­nen­ge­lernt hat­te. »Ein ganz ein­heit­li­cher Mensch«, schwärm­te Kaf­ka, doch dass das auf Tuchol­skys Bezie­hung zu Frau­en nicht zutraf, ahn­te er wohl nicht. Wann genau Tuchol­sky sich mit sei­ner Jugend­lie­be Kit­ty Frank­fur­ther ver­lob­te, wel­che Wor­te er dabei wähl­te, kann nicht mehr rekon­stru­iert werden.

Im April 1911 hat­te Tuchol­sky sei­ne Kar­rie­re mit einem ersten ver­öf­fent­lich­ten Arti­kel (»Kunst und Zen­sur«) im SPD-Par­tei­or­gan Vor­wärts ein­ge­läu­tet, außer­dem soll­te er noch im sel­ben Jahr sei­ne erste eige­ne Woh­nung bezie­hen. Er hat­te sich wei­test­ge­hend von sei­ner Fami­lie abge­na­belt, aber nicht voll­stän­dig gelöst. Gern beschrieb er sie in sei­nen sati­ri­schen Tex­ten als eine Art lau­ern­de Kra­ke im Hin­ter­grund, der man nicht aus dem Weg gehen konn­te. Mit der Medi­zin­stu­den­tin Else Weil ver­brach­te er in die­sem Jahr im August einen Urlaub in Rheins­berg und ver­ar­bei­te­te die wohl glück­li­che Zeit schließ­lich lite­ra­risch in sei­ner Novel­le »Rheins­berg: Ein Bil­der­buch für Ver­lieb­te« über das unkon­ven­tio­nel­le Paar Wolf­gang und Clai­re. Clai­re Pim­busch, das war »C. P.«, der Tuchol­sky das Buch wid­me­te, gemeint war damit Else Weil. Aber da gab es noch eine ande­re Wid­mung: »K. F.«, die rät­sel­haf­te »Kit­ty Frank­fur­ther«, die dem jun­gen Mann zu dem Zeit­punkt auch wich­tig gewe­sen sein muss. Der Erste Welt­krieg been­de­te das sowie­so tem­po­rä­re Zusam­men­sein von Tuchol­sky und Frank­fur­ther. 1917 kam es dann zu Tuchol­skys schick­sal­haf­ter Begeg­nung mit Mary Gerold in Kur­land, die nach Else Weil sei­ne zwei­te Ehe­frau wer­den soll­te, zu die­ser Zeit war er immer noch mit Kit­ty Frank­fur­ther ver­lobt, löste die Ver­lo­bung dann aber ein Jahr später.

Bis heu­te war so gut wie nichts über die myste­riö­se Ver­lob­te bekannt. Erwähnt wur­de sie stets in den ein­schlä­gi­gen Tuchol­sky-Bio­gra­phien, aber auch immer mit dem Zusatz, dass man ihre wah­re Iden­ti­tät nicht ken­ne und man so gut wie nichts über sie wis­se. Der Tuchol­sky-Bio­graph Micha­el Hepp gab 1993 den ent­schei­den­den Hin­weis: »Da ihr Vater starb, als sie noch nicht ein Jahr alt war, bekam sie den Namen ihres Stief­va­ters Frank­fur­ther.« Er zitier­te dabei aus einem Brief Kit­ty Frank­fur­thers vom 5. Okto­ber 1961 an die Schrift­stel­le­rin Eli­sa­beth Casto­nier, der im Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chiv Mar­bach auf­be­wahrt wird. Kit­ty, die zu die­ser Zeit zur Erho­lung in Bath weil­te, bat dar­in um Dis­kre­ti­on, so dass Hepp den Namen ver­schwieg, denn unter­schrie­ben hat­te sie mit »Kit­ty Lief­mann«. Nach mei­ner Aus­wer­tung der Ber­li­ner Stan­des­amts­re­gi­ster im Inter­net­por­tal www.ancestry.de stand dann fest: Der Stief­va­ter von Kit­ty Lief­mann war der jüdi­sche Kauf­mann Adolph Frank­fur­ther aus der Kur­für­sten­stra­ße 124, der am 4. Janu­ar 1894 in Char­lot­ten­burg die Wit­we Agnes Sofie Lief­mann gebo­re­ne Hor­s­chitz gehei­ra­tet hat­te. Das Auf­ge­bot hat­te das Braut­paar in Ham­burg bestellt, bekannt­ge­ge­ben wur­de es im Öffent­li­chen Anzei­ger des Amts­blatts der Frei­en und Han­se­stadt Ham­burg. Kit­tys Mut­ter stamm­te aus einer wohl­ha­ben­den jüdi­schen Kauf­manns­fa­mi­lie. Der Vater der Braut war einer der weni­gen Juden in Deutsch­land, die einen Adels­ti­tel tru­gen. Dabei han­del­te es sich um ein ita­lie­ni­sches Baro­nat, wobei Hor­s­chitz aus unbe­kann­ten Grün­den in Ita­li­en auf Wider­stand gegen sei­ne Erhe­bung in den Adels­stand gesto­ßen war. Erhal­ten hat­te er den Titel des Barons dann 1875 doch, vor allem auf­grund einer groß­zü­gi­gen Spen­de für ein zu errich­ten­des Hos­pi­tal für Augen­lei­den­de in Florenz.

Kit­ty Frank­fur­ther war somit durch ihren fami­liä­ren Hin­ter­grund das, was man damals im All­ge­mei­nen als »eine gute Par­tie« bezeich­ne­te, und auch Tuchol­skys anson­sten eher kri­ti­sche Mut­ter wird die Ver­lob­te ihres Soh­nes wohl­wol­lend durch ihre Loi­g­net­te betrach­tet haben. Der ursprüng­lich aus Kas­sel stam­men­de Groß­kauf­mann Baron Sal­ly (eigent­lich: Salo­mon) von Hor­s­chitz besaß unter ande­rem ein gro­ßes Salz­la­ger in Ham­burg und hin­ter­ließ in der Stadt bemer­kens­wer­te Spu­ren. Der Har­ve­ste­hu­der Weg ist bekannt dafür, dass dort die schön­sten Vil­len der Stadt ste­hen. Zwei davon, die vom Archi­tek­ten Albert Rosen­gar­ten zwi­schen 1870 und 1872 erbau­te Vil­la Hor­s­chitz mit der Haus­num­mer 8 und das eben­so feu­da­le Gebäu­de mit der Num­mer 7 b, wur­den für Kit­tys Groß­va­ter gebaut, der am 18. März 1883 in Ham­burg verstarb.

Am 9. Janu­ar 1890 hat­te Kurt Tuchol­sky in Ber­lin das Licht der Welt erblickt, acht Tage zuvor wur­de (Erna Mar­got) Katha­ri­na Lief­mann in Ham­burg gebo­ren, die spä­ter den Kose­na­men Kit­ty bekam. Kit­ty war erst zwei Jah­re alt, als ihr leib­li­cher Vater, der Kauf­mann Rudolf Lief­mann, am 7. Dezem­ber 1892 in Ham­burg-Rother­baum starb und sei­ne Wit­we mit ihr und ihrer sechs Jah­re älte­ren Schwe­ster Maria Eli­sa­beth, genannt Lil­ly, zurück­blieb. Nach der erneu­ten Hei­rat ihrer Mut­ter leb­te die Fami­lie in Ber­lin. 1911 starb Adolph Frank­fur­ther, und im sel­ben Jahr muss dann schließ­lich die Ver­lo­bung zwi­schen Kit­ty und Tuchol­sky erfolgt sein.

Nach der »Ent­lo­bung« im Jahr 1918 ver­schwand Kit­ty end­gül­tig aus dem Leben Tuchol­skys, blieb aber in der­sel­ben Wohn­ge­gend ansäs­sig. Gehei­ra­tet hat sie tat­säch­lich nie, man weiß nicht, wel­che see­li­sche Wun­de ihr die lang­jäh­ri­ge amou­rö­se Epi­so­de mit Tuchol­sky zuge­fügt hat­te. 1938 hieß sie im Ber­li­ner Adress­buch schließ­lich auch offi­zi­ell »Kit­ty«, als Kit­ty Lief­mann wohn­te sie in der Trau­ten­au­stra­ße 11 und ver­dien­te sich ihren Lebens­un­ter­halt mit »kunst­ge­werb­li­cher Stricke­rei«. Aber war sie noch die­sel­be Kit­ty, die mit Tuchol­sky ver­lobt gewe­sen war? Wie hat­ten die­se nicht gera­de kur­zen sechs Jah­re die jun­ge Frau geprägt, in die Tuchol­sky ein­mal ver­liebt gewe­sen war? Kit­tys Schwe­ster Lil­ly hat­te ihre erste Ver­lo­bung mit Mar­c­zell Láss­ló 1904 bereits nach weni­gen Mona­ten auf­ge­löst. Noch nicht ein­mal ein Jahr spä­ter hei­ra­te­te sie den Ber­li­ner Kauf­mann Paul Hei­ne­mann. Das Ehe­paar Hei­ne­mann emi­grier­te recht­zei­tig nach Eng­land. Für Kit­ty, die in Ber­lin geblie­ben war, wur­de die Lage nach 1933 zuneh­mend lebens­ge­fähr­lich, doch zusam­men mit ihrer Mut­ter, gelang ihr 1937 noch die Flucht nach Lon­don. Fami­liä­re und geschäft­li­che Ver­bin­dun­gen vor Ort – die Hor­s­chitz hat­ten dort im 19. Jahr­hun­dert die Fir­ma Hor­s­chitz & Co. gegrün­det – wer­den den kom­plet­ten Wech­sel des Lebens­um­felds erleich­tert haben. 1943 starb Kit­tys Mut­ter in Epsom in der Nähe von Lon­don. Lan­ge Jah­re wohn­te Kit­ty im noblen Lon­do­ner Stadt­teil Ken­sing­ton, da hat­te sie die Brie­fe, die Kurt Tuchol­sky ihr wäh­rend ihrer Ver­lo­bungs­zeit schrieb, schon längst ver­nich­tet, und glaub­te bis zum Schluss, damit auch im Sin­ne von Tuchol­sky gehan­delt zu haben. Mit ihrem frü­he­ren Leben schien sie abge­schlos­sen zu haben, sie, die sowie­so nicht gern im Ram­pen­licht stand, und auch Deutsch­land hat sie nie wie­der gese­hen, das hat­te sie mit Tuchol­sky gemein­sam. Ihren Alters­wohn­sitz such­te sich die ver­mö­gen­de Frau, die seit dem 4. Mai 1948 bri­ti­sche Staats­bür­ge­rin war, im hohen Alter im land­schaft­lich schö­nen Surrey aus. Cla­re Park in der Nähe von Farn­ham, ein opu­len­tes Her­ren­haus in rie­si­ger Park­land­schaft, das noch heu­te als Senio­ren­re­si­denz dient, war bis zum 3. Juni 1980 Kit­tys letz­te Adres­se in Eng­land. Dort erin­nern sich noch heu­te zwei Mit­ar­bei­te­rin­nen an die Frau, die ein­mal sechs lan­ge und unge­wis­se Jah­re Kurt Tuchol­skys Ver­lob­te war. Letz­te­rer hat sie ver­mut­lich schnell vergessen.

Bet­ti­na Mül­ler schreibt Arti­kel und Auf­sät­ze unter ande­rem für die taz, das Blätt­chen und das neue deutsch­land. Ihre Arbeits­schwer­punk­te sind Kul­tur und Lite­ra­tur der Wei­ma­rer Repu­blik, Kri­mi­nal­ge­schich­te sowie Reiseberichte.